
Bild: © Gen Atem/Miriam Bossard, courtesy of the artists
Im Diesseits das Jenseitige erfahren
Die Suche nach einer Erfahrung, die in die Nähe des Göttlichen oder zu einer tieferen Wahrheit führt, ist in allen Religionen zu finden. Der Weg führt dabei oft über Rituale, die sich vielfältig zeigen: Nicht nur im Gebet, auch etwa im Tanz, dem Teetrinken oder dem Händewaschen erfahren Menschen Einkehr und Verbundenheit.
Jedes Detail in diesem kleinen Raum ist schlicht und sorgfältig gestaltet: die Wände, der Boden, die wenigen Möbel und Dekorationen – alles zeugt von präziser Handwerkskunst und Ästhetik. Holz und Lehmputz strahlen Wärme und Geborgenheit aus. Durch die milchige Scheibe eines Fensters fällt sanftes Tageslicht auf die Strohmatten, Tatami, am Boden. Auf diese hat sich der Gast gesetzt und wartet. An der Scheibe ist eine Papierrolle mit einer Kalligrafie in japanischer Schrift angebracht. Neben dem Fenster ist ein Baumstamm teilweise in die Wand eingelassen. Daran hängt ein dezentes Blumenarrangement in einem Gefäss. Im Raum ist es still.
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Das Schweizer Kunstduo Gen Atem / Miriam Bossard ist für sein interdisziplinäres Schaffen in den Bereichen Malerei, Kunst im öffentlichen Raum, Performance und Musik bekannt.
Für die interreligiöse Zeitung «zVisite» zum Thema Mystik besprayte das Duo Fotografien, um bestimmte Bildbereiche mit Farbschichten gezielt zu verdecken. So schafft es sowohl
Irritation als auch Raum für Stille, Kontemplation und Deutung. Gen Atem und Miriam Bossard verstehen das Deuten der Werke durch die Betrachtenden als mystischen Vorgang und als Bestandteil ihrer Werke.
Im Chashitsu beginnt bald eine zen-buddhistische Teezeremonie. Der Teeraum befindet sich im Geschäft Länggass-Tee in Bern. Das im alten Japan entwickelte Ritual ist eng mit der Philosophie des Zen-Buddhismus verbunden. Ausgeführt wird es auf Basis der vier Prinzipien Harmonie, Respekt, Reinheit und Gelassenheit und lädt die Teilnehmenden zur inneren Einkehr ein.
Mit der Bambuskelle
Die Teemeisterin Ursula Kohli betritt durch eine Schiebetür den Raum und stellt ein Tablett mit Süssigkeiten ab. Dann kniet sie nieder, verneigt sich und heisst den Gast willkommen. Aus dem Vorraum holt sie nach und nach die Gegenstände, die sie für die Zubereitung des Tees braucht. Sie kniet sich wieder hin, vor einem beheizten Wasserkessel, der in der hinteren rechten Ecke des Raumes platziert ist. Mit einem Seidentuch, das sie jeweils auf eine bestimmte Weise faltet, wischt sie zuerst die Teedose, dann den Teelöffel ab. Mit heissem Wasser aus dem Wasserkessel wärmt sie die Teeschale vor und benetzt darin auch den Teebesen, Chasen, einen kleinen Schwingbesen aus Bambus. Danach öffnet sie die Teedose, entnimmt ihr mit dem Teelöffel das grüne Teepulver, Matcha, und gibt es in die Teeschale. Erneut giesst sie mit einer Bambuskelle heisses Wasser in die Teeschale. Dann schäumt sie den Tee mit dem Chasen auf und übergibt die Teeschale dem Gast, der inzwischen auf ihre Aufforderung hin seinen Gaumen mit einer der Süssigkeiten auf den leicht bitteren Tee vorbereitet hat, zum Trinken.

Alles geschieht bewusst
Die Bewegungen der Teemeisterin folgen einem festgelegten Ablauf. Sie sind bedacht, präzise und verströmen eine wohltuende, tiefgreifende Ruhe. Eine Teemeisterin braucht viele Jahre der Ausbildung und Übung, damit sich die beruhigende Wirkung auf den Gast entfalten kann. «Wenn ich mich ruhig bewege, wird auch der Gast ruhig», sagt Kohli im Gespräch nach der Zeremonie. Der Effekt beruht auch darauf, dass es in der Teezeremonie keinen Zufall gibt, sondern alles bewusst geschieht. Und: «Bei der Teezeremonie passiert etwas zwischen Gastgeber und Gast», sagt Kohli. Indem die Teemeisterin oder der Teemeister etwas für den Gast tue, fühle sich dieser als Mensch, als lebendiges Wesen wahrgenommen. «So kann der Gast die Erfahrung machen, dass es so etwas wie Frieden und Harmonie überhaupt gibt.» Dafür brauche der Gast, anders als bei anderen Formen der Versenkung, im Prinzip keine Übung. Bereits beim ersten Besuch einer Teezeremonie stellt sich das Gefühl der Ruhe beim Gast ein. Erfahrene Gäste erlebten das Ritual aber umso tiefer.
Drehend in Verbindung zu Gott
Vom kleinen Teeraum in Bern in die Citykirche Offener St. Jakob in Zürich, wo ein Derwisch-Drehritual stattfindet. Die Derwische suchen die Verbindung zu Gott im rituellen Tanz. Langsam schreiten die Derwische in den Raum und setzen sich im Kreis auf die Sitzkissen. Es sind Frauen und Männer des Mevlevi-Ordens, der in der mystischen Tradition des Islams steht. Auch gut 30 Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen in den Kirchenbänken.
Das Ritual beginnt mit dem Gottesgedenken, einem Gebet, in dem verschiedene Namen Gottes auf arabisch repetiert werden. Der Vorbeter beginnt, alle stimmen ein und öffnen dabei ihre Hände, einige wiegen sich dazu. Tamburinklänge leiten über zu Gesängen, melodiös und langsam, dann rhythmisch und schnell.

Nun spricht Peter Hüseyin Cunz ein Gebet auf deutsch: «Wir bitten Gott um Licht, vor uns, hinter uns, in uns, Licht in unserem Körper, unseren Sinnen, im Herzen…». Cunz hat im Mevlevi-Orden den Rang eines Scheichs. Er ist der spirituelle Führer der Gemeinschaft, deren Mitglieder sich wöchentlich treffen und ansonsten zuhause, in ihren Alltag integriert, Kontemplation halten und das Drehen üben.
Verneigung vor dem Licht
Jede Bewegung des beginnenden Drehrituals ist langsam und konzentriert. Die Derwische verneigen sich, kreuzen die Arme vor der Brust, beginnen langsam zu drehen. Dann öffnen sie die Arme und drehen sich immer schneller um ihre Achse. Die langen weissen Gewänder schwingen hoch. Der schwarz gekleidete Tanzmeister gibt sorgfältig Zeichen, um das Miteinander zu gewährleisten. Viermal wird das Drehen wiederholt, jedes Mal beginnend mit einer Verneigung in Richtung des Scheichs. «Die Derwische verneigen sich nicht vor mir, sondern vor dem Licht, das vom Osten herkommt. Ich stehe auf einem roten Fell, das auf Mekka, Richtung des aufgehenden Lichts, ausgerichtet ist», erklärt Cunz. Die Musik steigert sich, wird rhythmischer und schneller, dann wieder langsamer. Reine Saitenklänge zeigen an, dass das Ritual dem Ende entgegengeht. Es folgen Gebete, dann schreiten die Derwische langsam hinaus.
Ganz in der Mitte verankert
Das Drehritual wird «Sema» genannt. «Sema bedeutet ‹hören›. Wir lösen uns von der eigenen Existenz, um in unserer Nichtexistenz auf den Geschmack der ewigen Existenz zu kommen», sagt Peter Cunz. Daneben gehörten auch Fastenzeiten, Rückzug in die Einsamkeit und Gebete zu den spirituellen Übungen einer Sufi-Gemeinschaft. Das Drehen um die eigene Achse müsse sorgfältig geübt werden: «Es braucht Monate, bis der Körper mitmacht und es einem nicht mehr schwindlig wird.» Dazu müsse man ganz in seiner Mitte verankert sein. Aus dieser Zentriertheit heraus gestalten die Derwische ihren Alltag im Beruf und mit ihren Familien.
«Puff – und du verschwindest»
Dass mystische Erfahrungen weit in den Alltag hineinwirken, weiss auch Yordan Pashev. Der ehrenamtliche Priester der kleinen bulgarisch-orthodoxen Kirchgemeinde Heiliger Georg in Zürich berichtet von seinen Erfahrungen in der Mönchgemeinschaft am Berg Athos in Griechenland, erzählt von den vierstündigen Liturgien, die um vier Uhr früh beginnen. «Du bist umhüllt von Weihrauch und dieser besonderen Atmosphäre, plötzlich kommt so ein Moment – puff – und du verschwindest. Du siehst nichts mehr und hörst nichts mehr und fühlst dich in einer anderen Welt.»
Diese Erfahrung sei so stark, dass man die Sehnsucht danach nicht mehr verliere, sagt Vater Yordan. Sie hilft ihm auch im Schweizer Alltag, wo er sich den Lebensunterhalt mit Pizza-Austragen verdient: «Regelmässiges Beten, auch ohne diese besonderen Momente, die natürlich nicht immer eintreten, gibt Ruhe und Gelassenheit.» Und in der Seelsorge erfährt er: «Wenn Probleme auftauchen, werden viele Menschen ängstlich und aufgeregt. Menschen, die im Herzensgebet geübt sind, wissen fast körperlich, dass Gott gerade in schwierigen Situationen bei ihnen ist. Sie fühlen sich geliebt und getragen.»
Herzensgebet im Wechselgesang
Das Herzensgebet ist eine Meditationsform, die in der Orthodoxie seit dem frühen Christentum gepflegt wird. Eingebettet in die Liturgie, spielt es auch in der von Vater Yordan betreuten Kirchgemeinde eine tragende Rolle. Einmal im Monat feiern sie in der der Kapelle von Maria Hilf Zürich-Leimbach ihren Gottesdienst. Ein junger Mann stellt eine versilberte Marien-Ikone auf, drei Frauen begrüssen sich in der vordersten Bankreihe. Der Priester kniet im goldenen Gewand am Boden, nimmt Kelch und Kreuz aus einem Koffer und stellt sie auf den Altar. Nach und nach kommen die Gläubigen zu ihrer «Göttlichen Liturgie», während ein älterer Mann bereits das erste Gebet spricht.

Dann beginnt der fast durchgehend gesungene Gottesdienst. Der Bass des Priesters wechselt ab mit den hellen Stimmen der drei jungen Frauen in der vordersten Bank, manchmal antworten alle Anwesenden im mehrstimmigen Wechselgesang. Weihrauchduft erfüllt den Raum. Immer und immer wieder ertönen die Worte «gospodi pomiluj», Herr erbarme dich.
Die Seele ist bei Gott
Diese Formel ist Teil des Herzensgebetes. «Zu den Worten ‹Jesus, Sohn Gottes› tief einatmen, zu ‹erbarme dich meiner› ausatmen. Und das viele Male wiederholen», erklärt Vater Yordan nach dem Gottesdienst, «so wird das Herzensgebet ein Teil deines Wesens. Man kann beim Einatmen die Arme erheben und beim Ausatmen niederknien und die Stirne auf den Boden legen. Oder beim Wandern zum Rhythmus der Schritte beten, oder in der Stille vor einer Ikone oder Kerze. Du konzentrierst dich auf diesen einen Punkt, und manchmal kommt es vor, dass du wie durch diesen Punkt hindurchgehst und auf die andere Seite kommst.» In diesem Moment sei die Seele bei Gott.
Die Seele zu Gott führen: Das ist die Essenz der mystischen Übungen und Rituale in allen Religionen. So auch in der jüdischen Kabbala. Manche ihrer Rituale haben sich im Lauf der Zeit jedoch verselbstständigt und werden im breiten Judentum heute teils als religiöse, teils auch als säkulare Alltagshandlungen vollzogen.
Bereit für den Tag
Wenn Yona-Dvir Shalem morgens aufsteht, hält er als erstes seine Hände kurz unter den Wasserstrahl im Badezimmer. Er ist Jude und aufgewachsen in der orthodoxen jüdischen Welt in Jerusalem und Zürich. Dann spricht er ein hebräisches Segensgebet: «Gelobt seist Du, Herr, unser Gott, König des Universums, der uns geheiligt hat mit Deinen Geboten und uns das Waschen der Hände befohlen hat.» Erst dann trocknet er seine Hände ab. Jetzt ist er bereit für den Tag.
Shalem arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der jüdischen Hochschule Heidelberg. Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit hat er sich mit der jüdischen Geheimlehre Kabbala befasst, die er bereits aus dem direkten Kontakt zu kabbalistischen Rabbinern auf privater Ebene kannte. «Die Kabbala gilt als das ‹Geheimnis der Tora›», sagt Shalem. Demgemäss hat die Tora, die heilige jüdische Schrift, weitere Bedeutungsebenen, die sich durch das Studium der kabbalistischen Schriften und Lehren erschliessen lassen. Wer sie kennt und versteht, kann so immer näher zu Gott vordringen und das Göttliche in der Welt erkennen. Die Kabbala ist also die jüdische Form der Mystik, wobei im Judentum dieser Begriff nicht verwendet werde, da er zu stark christlich konnotiert sei, wie Shalem sagt.
Kabbala prägte viele Rituale
«Die Kabbala gilt als gefährlich», sagt Shalem. Denn von ihrer Kenntnis könne man verrückt werden, so der traditionelle Glaube. Ursprünglich durften nur ausgewählte Personen – verheiratete Väter über 40 Jahren, sie galten als gefestigt, was es unwahrscheinlicher machen sollte, dass sie den Verstand verlieren – von der Kabbala erfahren. In bestimmten Kreisen gilt dies bis heute, doch über die Jahrhunderte sickerten die kabbalistischen Lehren auch ins allgemeine Judentum ein und prägten viele heute gängige jüdische Rituale, wie auch das morgendliche Händewaschen, auf hebräisch «Netilat Jadajim».
Laut Shalem ist es in allen jüdischen Strömungen verbreitet – auch bei säkularen Juden. Dabei gibt es verschiedene Formen des Ablaufs. Dafür benutzt wird ein spezielles Gefäss mit zwei Henkeln, die Natla. Shalem selber pflegt nur noch eine rudimentäre Form ohne das Gefäss.
Unterschiedliche Verbreitung
Das Ritual nimmt Vorstellungen zur geheimnisvollen Welt des Schlafs auf, die in der Tora angedeutet werden. «Die kabbalistischen Texte führen aus, dass die Seele im Schlaf zu den Toten in die Unterwelt abtaucht», sagt Shalem. Im Judentum gelten die Toten als im religiösen Sinn das «Unreinste» überhaupt, gefolgt vom Kontakt zu Toten. In dieser unreinen Sphäre bestehe gemäss der kabbalistischen Lehre höchste Gefahr, im Schlaf auch weitere Sünden zu begehen. Von all dem müsse man sich nach dem Aufwachen reinwaschen.

«Besonders das europäische Judentum distanziert sich von der Kabbala, das es sie als heidnisch ansieht», sagt Shalem. Er selber stammt ursprünglich aus Tunesien, wo diese mystische Lehre im jüdischen Alltag auch heute noch präsent ist. Jüdische Menschen ohne Bezug zur Kabbala begründen die Notwendigkeit für das rituelle Händewaschen hygienisch: Wer weiss, was die eigenen Hände im Schlaf alles berührt haben.
Täglicher Handschlag mit Gott
Für Yona-Dvir Shalem ist das morgendliche Händewaschen ein unverzichtbares, geradezu dringendes Bedürfnis. «Mache ich es nicht, verfolgt es mich. Ich bekomme Angst.» Er habe dann das Gefühl, unreine Hände zu haben und nichts mehr berühren zu dürfen, da es sonst verschmutzt werde.
Shalem ist das Ritual aber auch wichtig als sein «persönlicher täglicher Handschlag mit Gott», wie er es ausdrückt. «Ich glaube, dass Gott mich beschützt, wenn ich es durchführe.» Unbewusst verbinde es ihn zudem mit der gesamten jüdischen Gemeinschaft. «So sind wir eine Gruppe in Kontakt mit Gott.»
Eine Gemeinschaft in Kontakt mit Gott – das ist auch die in der Kapelle Maria Hilf versammelte bulgarisch-orthodoxe Gemeinde, die hier Gottesdienst feiert. Nun kommen alle Kinder zum Altar. Mit einer Kerze, einem Kreuz, die Erwachsenen mit Kelch und Brot in der Hand, beteiligen sie sich am «Grossen Einzug», einer Prozession rund um den kleinen Kirchenraum, zur Gabenbereitung vor dem Höhepunkt der Liturgie, der Wandlung. Noch lange nach dem Gottesdienst klingt das mehrstimmige «Gospodi pomiluj» nach, im Rhythmus des Atmens. Ganz im Geist des Herzensgebets, wie es von Vater Yordan als Tür zur Gotteserfahrung beschrieben wird.

Dieser Text und dieses Video sind eine Produktion der interreligiösen Zeitung «zVisite». zVisite ist eine Kooperation von reformiert., die evangelisch-reformierte Zeitung, Forum, Magazin der katholischen Kirche im Kanton Zürich, tachles, das jüdische Wochenmagazin, Lichtblick, Pfarrblatt Nordwestschweiz, Christkatholisch, Zeitschrift der Christkatholischen Kirche, Kirchenbote, evangelisch-reformierte Zeitung BS, BL, SO, SH und Zentralschweiz und dem katholischen Pfarrblatt Bern.