Vergeben, aber nicht vergessen
Daniel Pittet hat seinem Vergewaltiger verziehen und hilft heute Missbrauchsbetroffenen
Vor einem Jahr, im September 2023, wurde die Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz veröffentlicht. Daniel Pittet erzählt im Interview, wie ihm Vergebung gelungen ist, wie sie aus seiner Sicht bei der Heilung helfen kann und ob es auch andere Wege gibt.
Was hat Sie befähigt, dem Mann, der Sie jahrelang vergewaltigt hat, zu vergeben?
Daniel Pittet: Ich war noch sehr jung, zehn Jahre alt, als ich mich entschlossen habe, zu vergeben. Als Pater Joel Allaz mich zum ersten Mal vergewaltigte, war ich komplett verloren, ich sagte mir, mein Leben wäre vorbei. 1970 predigte er an Mariä Himmelfahrt, es war eine wirklich schöne Predigt. Ich war Messdiener in dieser Messe, und er vergewaltigte mich anschliessend. An diesem Tag habe ich entschieden, dass es in ihm zwei Persönlichkeiten geben müsse, auf der einen Seite den guten Priester und auf der anderen den perversen Pädophilen. Ich habe ihm an diesem Tag vergeben und gleichzeitig die Heilige Jungfrau Maria gebeten, mich aus dieser Situation zu retten. Die Vergebung bedeutete aber nicht, dass es danach einfach war! Der Weg, den ich anschliessend gegangen bin, war sehr schwer.
Der Gedanke, dass Vergebung ein Umgang mit dem Geschehenen sein kann, kam Ihnen also schon sehr früh.
Ja. Wer vergibt, der befreit sich selbst. Vergeben heisst aber nicht vergessen. Vergessen werden wir, die wir vergewaltigt wurden, niemals. Aber durch die Vergebung habe ich es nicht mehr bei mir behalten. Denn wenn ich es bei mir behalten hätte, dann hätte ich mich umgebracht. Ich habe zwei Mal versucht, mir das Leben zu nehmen. Aber ich bin mir sicher, dass ich nicht mehr leben würde, wenn ich es nicht geschafft hätte, so früh zu vergeben. Dadurch hatte der Vergewaltiger, der Manipulator – denn das sind diese Menschen – keinen Einfluss mehr auf mich. Nach 50 Jahren bin ich in die Kommunität gegangen, um ihn zu treffen. Es lebten 17 Brüder dort, ich wusste nicht, welcher von ihnen Joel Allaz war. Er kam dann auf mich zu, ich hätte ihn nicht mehr erkannt. Man konnte ihm ansehen, dass er Angst hatte, weil er wusste, dass ich kommen würde. Aber das Ausserordentliche war: Ich merkte, dass er keinen Einfluss mehr auf mich hatte.
Sind Sie diesen Prozess allein durchgangen, oder hatten Sie Unterstützung?
Ich hatte das Glück, wertvolle Menschen zu treffen, die mich begleitet haben. Insgesamt war ich sieben Jahre lang in der Abtei Einsiedeln, davon drei als Mönch. Ich kannte damals alle 150 Mönche und auch oftmals ihre Familien. Obwohl sie nicht wussten, dass ich vergewaltigt worden war, haben sie mich damals gerettet. Sie alle haben mich immer bestmöglich unterstützt, beispielweise bei meinen schulischen Problemen. Ich war Legastheniker. Erst 2014 wurde festgestellt, dass ich hochbegabt bin, aber die Mönche haben damals schon bemerkt, dass ich besondere Fähigkeiten habe. Trotz allem hatte ich aber psychische Probleme und Angstzustände und merkte, dass ich dort nicht komplett abschliessen konnte, und so bin ich nach Fribourg zurückgekehrt.
Welche Hoffnungen haben Sie mit der Vergebung verknüpft?
Es war nicht so, dass ich vergeben habe und danach ging es mir gut. Überhaupt nicht! Aber ich hatte begriffen, dass die Vergebung ein sehr starkes Instrument im Umgang mit dem Erlebten ist. Nelson Mandela sagte einmal: «Vergebung befreit die Seele, sie nimmt die Furcht, deshalb ist sie eine derart mächtige Waffe.» Diejenigen, die vergeben, befreien sich von ihrem Vergewaltiger, von ihrem Manipulator. Sie sagen ihm: «Behalte deine Scheisse bei dir.» Nach der Vergebung kann die vergewaltigte Person weitergehen im Prozess, eine Therapie anfangen und das Thema einfacher ansprechen. Das ist nicht allen möglich, und es ist immer sehr schwer. Aber ich habe es als eine Chance erkannt, später gesunde Beziehungen zu führen, heiraten zu können. Es ist jedoch wichtig, nach der Vergebung eine Therapie zu machen. Das ist meiner Meinung nach absolut notwendig. Man kommt sonst nicht aus seiner Verzweiflung heraus. Menschen, die vergewaltigt wurden, denken, dass sie nichts wert sind, und durch die Therapie lernen sie, sich wieder um sich selbst zu kümmern.
Muss der Täter im Prozess der Vergebung anwesend sein?
Ob der Täter die Vergebung annimmt oder sich überhaupt dafür interessiert, spielt keine Rolle. Die Menschen erbitten diese Vergebung für sich selbst, um sich zu befreien. Entscheidend ist, dass das Leid vom Umfeld, von der Gesellschaft und auch von einem kirchlichen Gericht anerkannt wird. Das ist wichtig für die Psyche derer, die vergewaltigt wurden, und ihnen geht es danach meistens besser. Viele Fälle des Missbrauchs in der katholischen Kirche sind juristisch verjährt, die Täter können also nicht mehr belangt werden. Trotzdem ist die Anerkennung der Tat durch ein Gericht wichtig. Selbst wenn der Täter nicht erscheint. Und selbst wenn: Dann kommt er, sagt «Ja, es stimmt, ich habe diese Person vergewaltigt, es tut mir leid» und geht danach nach Hause, so wie er gekommen ist. Er war da und wurde als Vergewaltiger angeprangert. Punkt. Das zeigt, dass es beim Prozess des Vergebens und beim Prozess der Anerkennung um die vergewaltigte Person und nicht den Vergewaltiger geht.
Wenn der Täter Teil des Prozesses ist, was kann das in ihm auslösen?
Es hilft ihm, auszusprechen, was er getan hat, sich entschuldigen zu können und selbst eine Therapie machen zu können. Wenn die Täter und Täterinnen nicht darüber sprechen, dann wird der Teufelskreis weiter fortgeführt. Sie können nun sagen: «Ich bin pädophil, ich habe Probleme und ich lasse mich behandeln.» Mein Ziel ist es, in nächster Zeit eine Kampagne zu starten, die sich an Täter und Täterinnen richtet. Es gab immer Pädophile und es wird immer Pädophile geben. Schweizweit möchte ich in Bussen des ÖV Werbung mit Hinweisen zur Prävention machen.
Die Vergebung ist bei Ihnen sehr zentral als Teil des Heilungsprozesses. Verstehen Sie Menschen, die nicht vergeben können? Wie können diese Menschen heilen?
Ja, ich verstehe sie absolut! Sehr wichtig ist auch für sie, dass das Leid, dass ihnen angetan wurde, anerkannt wird. Und dafür müssen die Menschen darüber sprechen. Ich habe durch den Kontakt mit vielen Tausenden Betroffenen festgestellt, dass sonst oft folgendes geschieht: Entweder werden sie selbst zu Tätern und Täterinnen, oder sie werden aktiv wegschauen, wenn ein Missbrauch geschieht. Und das ist dramatisch. Gerade in Familien – denn in ihnen finden 80 Prozent aller Missbräuche statt – muss es möglich sein, dass man zusammenkommt und die Taten anerkennt. Also für Menschen, die nicht vergeben können, aber auch für die, die es können, ist es extrem wichtig, darüber zu sprechen, was ihnen angetan wurde. Sie sollten es einer oder einem engen Vertrauten erzählen. Ich habe es meiner Frau erzählt, und das hat mich gerettet. Sich jemandem anzuvertrauen, kann Menschen retten! Es ist absolut notwendig darüber zu sprechen, um wieder leben zu können, um besser leben zu können. Die Therapie als nächster Schritt ist selbstverständlich ebenfalls wichtig.
Wieso haben Sie der Institution «katholische Kirche» nicht den Rücken gekehrt, sondern sogar als Diakon noch eine Rolle darin übernommen?
Ich wurde im Glauben erzogen. Als meine Grossmutter 1971 starb, hat sie auf dem Sterbebett zu mir gesagt: «Ich hoffe, dass du den Glauben, den ich dir vermittelt habe, behalten wirst.» und ich habe Ja gesagt. Dann bin ich nach Einsiedeln gegangen und habe dort wirklich tolle Menschen kennen gelernt.
Man könnte auch den Glauben an Jesus beibehalten und trotzdem nichts mehr mit der Institution Kirche zu tun haben wollen.
Ja, könnte man. Die meisten Menschen, die im Umfeld der Kirche vergewaltigt wurden, sind nicht mehr gläubig. Ich bin eine Ausnahme, ich sehe es als grosses Glück an. Ich habe einfach eine «Missionierungsseele», ich habe mich schon immer um Menschen am Rand der Gesellschaft gekümmert, und da wir selbst sehr arm waren, habe ich auch schon früh erfahren, welch grosse Hilfsarbeit die Kirche in diesem Bereich leistet. Es gibt eine Menge wunderbarer Menschen in der Kirche. Ausserdem ist es so: In der Kirche gibt es Priester mit einer Freundin, es gibt Homosexuelle – die übrigens nicht pädophil sind, das hat nichts miteinander zu tun! – und es gibt Pädophile. Letztere müssen aus der Kirche raus. Insgesamt leben aber nur 10 Prozent der Priester glücklich unter kanonischem Recht. Die Kirche hat ein Problem: Sie predigt etwas so Hohes, das die meisten Priester nicht erreichen können. Die Berufung ist etwas Schwieriges. Der Mensch ist ein schwaches Wesen, und diese Schwachheit muss anerkannt werden! Derjenige, der dazu steht, ist ehrlich und rechtschaffen. Die Kirche und vor allem die Kommunitäten lügen an diesem Punkt enorm. Mein Buch ist 2017 erschienen, und Joel Allaz war bis dahin von der Kirche nicht befragt worden. Es ist wie in einer Familie. Wenn einer etwas Schlechtes tut, versucht man, sich damit zu arrangieren, man sagt sich: «Ach, der ist doch eigentlich nett, ein guter Typ. Ja, manchmal hat er Probleme, aber das ist nicht so schlimm.» Man beschützt sich gegenseitig, weil man zusammen lebt und sich mag. Das grösste Problem ist das Vertuschen und Verstecken.
Daniel Pittet
Daniel Pittet aus Fribourg, Jahrgang 1959, wurde als Kind jahrelang von einem Kapuzinerpriester missbraucht. 2017 erschien sein erstes Buch «Pater, ich vergebe euch!». Pittet erhielt unzählige Reaktionen, unter anderem 20 000 Zuschriften von Betroffenen aus aller Welt. In seinem neuesten Buch «Unerträgliche Geheimnisse» rückt er den sexuellen Missbrauch in Familien in den Mittelpunkt. Darin kommen Betroffene zu Wort, und es finden sich Anregungen für Betroffene und ihr Umfeld für den Umgang mit dem Erlebten.
Weitere Informationen zu Daniel Pittet und seiner Arbeit finden Sie hier.
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