«Wir werden es anders machen.»

«Wir werden es anders machen.»

Die The­men sind untrennbar miteinan­der ver­back­en wie die Stränge eines But­ter­zopfs. Nur die Luft­blasen in der Zopf­scheibe weisen auf die ursprünglich zwei Teigrollen hin. Der Zopf gehört zum Son­ntag, die Flüchtlings- und Sozial­hil­fethe­matik im Moment ein­mal mehr zum Aar­gau. Der Umgang mit ihr unter­schei­det sich – je nach Amt und Auf­trag.Fünf und sieben Jahre, solange übernehmen Kan­ton und Bund bei pos­i­tivem Asyl-Entscheid und je nach Sta­tus die Finanzierung von Asyl­be­wer­bern ab Ein­reise in die Schweiz. «Man geht davon aus, dass die anerkan­nten (B‑Bewilligung)  oder vor­läu­fig aufgenomme­nen (F‑Bewilligung) Flüchtlinge innert dieser Fris­ten soweit in die Gesellschaft inte­gri­ert sind, dass sie wirtschaftlich auf eige­nen Füssen ste­hen kön­nen», sagt Mar­ti­na Bircher, SVP Gemein­derätin und Sozialvorste­herin der Gemeinde Aar­burg.

Finanzrisiko bei den Gemeinden

Was in der The­o­rie geplant wurde, geht in der Prax­is oft nicht auf. Inte­gra­tion, auch in den Arbeits­markt, gelingt nicht zwin­gend inner­halb bes­timmter Fris­ten. Sie hängt von zu vie­len Fak­toren ab. Anerkan­nte und vor­läu­fig aufgenommene Flüchtlinge rutschen deshalb im Ver­hält­nis öfter in die Sozial­hil­fe als andere Ein­wohn­er. Endet die Finanzierung durch Bund und Kan­ton, müssen im Aar­gau die Gemein­den zahlen. «2001 hat der Kan­ton Aar­gau die Zuständigkeit der Flüchtlings­be­treu­ung an die Gemein­den gegeben», sagt Anouk Zum­stein, Bere­ich­slei­t­erin Flüchtlings­ber­atung Car­i­tas Aar­gau.Gemein­den mit gün­stigem Wohn­raum ziehen ver­mehrt finanzschwächere Men­schen an. Egal, ob Flüchtlinge oder Ein­heimis­che. Für die Gemein­den ein Finanzrisiko. Leben bere­its Flüchtlinge ein­er bes­timmten Nation am Ort, lassen sich oft weit­ere Men­schen gle­ich­er Nation­al­ität dort nieder. «Das ist men­schlich nachvol­lziehbar. Doch in Aar­burg kom­men wir an die Gren­zen. Die Steuere­in­nah­men gehen grössten­teils für die Soziale Wohlfahrt weg, selb­st mit Finan­zaus­gle­ich und Son­derzahlung erwirtschaften wir immer noch ein Defiz­it», sagt Mar­ti­na Bircher.Auch andere Gemein­den haben Angst vor finanzieller Mehrbe­las­tung durch anerkan­nte Flüchtlinge. Der Gemein­der­at von Rekin­gen rief in seinem Pub­lika­tion­sor­gan «Strich­punkt» (5/2016) dazu auf, «kün­ftig von Mietverträ­gen mit Asy­lanten Sta­tus B abzuse­hen.» Und in einem Nach­satz, der fast unterge­ht: «Dieselbe Prob­lematik beste­ht lei­der bei sämtlichen Empfängern von materieller Hil­fe.»

Integration, weil die Menschen bleiben

«Was Rekin­gen jet­zt erlebt, hat in Aar­burg bere­its 2008 ange­fan­gen», sagt Mar­ti­na Bircher. Mit ihrem Amt­santritt 2014 machte sie die Zahlen für Aar­burg trans­par­ent: Die Gemeinde hat mit 5,9 Prozent die höch­ste Quote bei Sozial­hil­feempfängern im Kan­ton. Der Aus­län­der­an­teil in der Gemeinde liegt bei 43 Prozent; Flüchtlinge sind über­durch­schnit­tlich oft in der Sozial­hil­fe, sie machen 45% aller Sozial­hil­feempfänger aus.Mar­ti­na Bircher lässt keinen Zweifel daran, was sie als ihre Auf­gabe ver­ste­ht: «Ich will die Zahlen runter bekom­men. Mir ist let­ztlich egal, ob die Sozial­hil­feempfänger anerkan­nte Flüchtlinge, Aus­län­der mit C‑Bewilligung oder Schweiz­er sind». Da argu­men­tiert sie auch gegen die SVP-Mut­ter­partei: «Es ist falsch, zu sagen, die müssen alle wieder gehen. Diese Men­schen haben eine B‑, teils eine C‑Bewilligung. Damit haben sie die rechtliche Legit­i­ma­tion, ihr Leben in der Schweiz zu ver­brin­gen und müssen deshalb inte­gri­ert wer­den».Die Mass­nah­men sind zahlre­ich: Deutschkurse, Weit­er­bil­dungs- und Schu­lungsange­bote, Unter­stützung bei Ämtergän­gen. Die Kul­tur des unbekan­nten Lan­des Schweiz soll erlernt und ver­standen wer­den. Viel hängt davon ab, ob Flüchtlinge in ihrem Heimat­land schon zur Schule gegan­gen sind, ob sie bere­its eine Aus­bil­dung haben, ob sie vom Land oder aus ein­er Stadt kom­men, oder wie motiviert sie sind. Und auch, ob sie auf­grund von Krieg und Flucht trau­ma­tisiert sind.In den 213 Aar­gauer Gemein­den wird die Begleitung der Flüchtlinge durch Sozial­dien­ste, pri­vate Anbi­eter oder in Zusam­me­nar­beit mit Car­i­tas Aar­gau geleis­tet. Anouk Zum­stein erläutert: «Die Car­i­tas Aar­gau ist ab Zuzug in eine Ver­trags­ge­meinde für die anerkan­nten oder vor­läu­fig aufgenomme­nen Flüchtlinge zuständig. Manch­mal dauert das Asylver­fahren und die Woh­nungssuche allerd­ings so lange, dass wir die betr­e­f­fende Per­son nur kurz begleit­en kön­nen». Kurt Brand, Co-Geschäfts­führer Car­i­tas Aar­gau, schreibt: «Car­i­tas hat das Man­dat für die Flüchtlings­be­treu­ung von rund 25 Gemein­den, zahlen­mäs­sig sind es rund 600 Per­so­n­en». Die Zusam­me­nar­beit sei meis­ten gut bis sehr gut.

Um welche Interessen geht es?

In Aar­burg war man unzufrieden und hat die Leis­tungsvere­in­barung per Ende Jahr gekündigt. Auf der Juni-Gemein­de­v­er­samm­lung wurde dieser Entscheid bekan­nt­geben, gelangte dann in die Presse. «Die Car­i­tas hat für mein Ver­ständ­nis ihre Arbeit nicht gemacht. Und ich habe Mühe damit, wenn sie als Auf­trag­nehmerin ein­er­seits die Inter­essen der Gemeinde vertreten soll, gle­ichzeig aber als Anwalt der Flüchtlinge auftritt», sagt Mar­ti­na Bircher.Auf diese Aus­sage ange­sprochen, schreibt Kurt Brand: «Man kann von einem dreifachen Man­dat sprechen. Es geht beim Auf­trag darum, die Inter­essen der Gemeinde als Auf­tragge­berin, die Inter­essen der Flüchtlinge und das Leit­bild der Car­i­tas unter einen Hut zu brin­gen. Bei der gegen­wär­ti­gen sozialpoli­tis­chen Lage ist dies manch­mal eine Her­aus­forderung.» Zur Zusam­me­nar­beit mit der Gemeinde Aar­burg wolle er weit­er nichts sagen, der Auf­trag sei aus Sicht der Car­i­tas aber erfüllt wor­den. Was andere Gemein­den ange­he, so gebe es eine «nor­male Fluk­tu­a­tion» bei den Aufträ­gen.Am Beispiel Aar­burg wer­den die unter­schiedlichen Ansätze im Umgang mit der The­matik deut­lich. Gemein­deräte wollen die finanzielle Belas­tung so ger­ing wie möglich hal­ten. Die Car­i­tas ste­ht in ein­er human­itäre Tra­di­tion. Sie möchte keine Lösun­gen auf Kosten der schwäch­sten Mit­glieder der Gesellschaft.

Vielleicht sind ungewohnte Wege nötig

Der ein­gangs erwäh­nte Zopf verdeut­licht: Aus zwei The­men ist eine dichte Ein­heit gewor­den. Patrizia Bertschi vom Netwerk Asyl Aar­gau sagt denn auch: «Ich denke, bei dem kom­plex­en The­ma sollte man das eine tun und das andere nicht lassen. Eine Schwierigkeit bei der Arbeit der Car­i­tas ist die örtliche Dis­tanz zu den Klien­ten. Sie ist nicht über­all vor Ort in den Gemein­den. Der Vorteil von Inte­gra­tion durch die Gemein­den ist: Die Mitar­beit­er sind nah an den Men­schen. Dazu ist allerd­ings gut geschultes Per­son­al nötig. Der Vorteil der Car­i­tas Aar­gau ist, sie hat ein unglaublich gutes Net­zw­erk. Davon kön­nen Gemein­den prof­i­tieren.»Ziel der Inte­gra­tion von Flüchtlin­gen ist ide­al­er­weise deren finanzielle Selb­st­ständigkeit. Das ist Kon­sens. Die über­mäs­sige Belas­tung einzel­ner Gemein­den wird eben­falls von allen kri­tisch betra­chtet. Car­i­tas Aar­gau betont mit Blick auf Rekin­gen, dass «bis zum Jahre 2001 der Kan­ton die Sozial­hil­fe für Aus­län­der und Flüchtlinge vol­lum­fänglich trug – ger­ade um struk­turschwache Gemein­den nicht über­mäs­sig zu belas­ten».Lösun­gen müssen her. Ideen gibt es viele (siehe Links unten). «In der Wirtschaft wer­den immer wieder Pro­jek­t­phasen lanciert, um zu schauen, was funk­tion­iert und was nicht», sagt Mar­ti­na Bircher. Sie gibt unumwun­den zu, dass «wir keine Gewis­sheit haben, ob wir es mit unseren Kräften vor Ort bess­er machen. Doch wir wer­den es anders machen, die Car­i­tas hat ja die Mess­lat­te nicht hoch gelegt».Aus­pro­bieren. Im Bild des But­ter­zopfs geht es nun um den Belag. Ein Blick in die Con­fis­erie-Branche zeigt: Oft schmeck­en ger­ade über­raschende Kom­bi­na­tio­nen. Zum Beispiel Schoko­lade mit Salz. 

Hier finden Sie einige Links zum Thema

Frei­willige helfen bei der Inte­gra­tion — Region­al Aar­gau, 21. Juni 2016Neues Sozial­hil­fe-Sys­tem für Flüchtlinge — az, 23. Juli 2016Men­sche­nun­würdi­ge Polemik — Medi­en­mit­teilung Car­i­tas Aar­gau zu Rekin­gen, 19 Juli 2016Ober­ste Aar­gauerin Gemein­de­v­ertreterin will Sozial­hil­fe für Flüchtlinge hal­bieren — az, 14. Juli 2016
Anne Burgmer
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