Vom positiven Hören

Vom positiven Hören

Geht es ums Glock­en­geläut, erschallt subito die Pro- und Con­tra-Diskus­sion. Gerne wer­den dabei die Lösungsmöglichkeit­en über­hört, welche sowohl den Glock­en­fre­un­den als auch den Glock­enkri­tik­ern eine dur­chaus friedliche Nach­barschaft erlauben wür­den. «Um die Kirchen­glock­en ‚pos­i­tiv’ hören zu kön­nen, muss man um ihre Bedeu­tung wis­sen», find­et Andres Lien­hard, Pfar­reiseel­sorg­er in Dietwil und Co-Leit­er des Dekanats Freiamt. Entsprechend griff am ver­gan­genen Woch­enende im Rah­men der ersten Aar­gauer «Lan­gen Nacht der Kirchen» die Pfar­rei St. Bar­bara Dietwil diesen Ansatz auf und bot Führun­gen hin­auf in den Kirch­turm an.«Das Läuten der Glock­en verbindet Him­mel und Erde, die Gedanken gehen weit – in die Ver­gan­gen­heit, zu Men­schen auf anderen Kon­ti­nen­ten, zu Gott, zu unseren Ver­stor­be­nen, in unsere eigene Mitte», so Andres Lien­hard, «und die Kirchen­glock­en verkün­den, dass nicht wir Men­schen die Mach­er der Zeit sind, so sehr wir alles organ­isieren – die Zeit ist ein Geschenk.»

Reaktionen auf die Läutordnung

Die Kirchen­glock­en in Dietwil läuten über den Stun­den­schlag hin­aus bere­its um 6 Uhr mor­gens, um 12 und 18 Uhr als soge­nan­ntes Bet­zeitläuten. Sie läuten eine halbe Stunde vor den Gottes­di­en­sten und ein paar Minuten davor als Ein­ladung zum gemein­samen Feiern. Sie läuten nach Ein­gang ein­er Todesmeldung am fol­gen­den Tag um 8 Uhr, bei Taufen und beim Gang aufs Grab, am Fre­itag um 15 Uhr als Erin­nerung an die Todesstunde von Jesus, am Sam­stag um 14 Uhr, um den Son­ntag einzuläuten.In der südlich­sten Gemeinde im Aar­gau ste­ht die Kirche sprich­wörtlich mit­ten im Dorf. Dieses weist zwar nach wie vor ländlichen Charak­ter auf, kon­nte in den let­zten Jahren aber einen beachtlichen Anteil an Neuzuge­zo­ge­nen verze­ich­nen. Ange­sprochen auf Reak­tio­nen aus dieser Bevölkerungs­gruppe sagt Andres Lien­hard: «Mir wur­den bish­er keine Fra­gen zum Kirchen­geläut gestellt.»

2500 digitalisierte Glockengeläute

Wie Dietwil, set­zt auch die SRF-Sendung «Glock­en der Heimat» auf die Ver­mit­tlung von Wis­sen. Etwa unter B wie Brem­garten, Stadtkirche St. Niko­laus: Im Turm hängt nach dem Kirchen­band seit 1987 das bis heute grösste Gesamt­geläut der Schweiz jün­geren Datums und ist dem heili­gen Niko­laus, Maria Mag­dale­na, Angelus, Syne­sius, Bischof Oscar Romero und Mut­ter Tere­sa gewid­met. Diese Infor­ma­tio­nen samt Klang­probe find­en sich auf der Web­site von Radio SRF unter dem Stich­wort «Glock­en der Heimat»Glock­en­geläute haben eine lange Tra­di­tion bei Schweiz­er Radio und Fernse­hen. Bere­its 1925 läuteten Glock­en am Schweiz­er Radio den Son­ntag ein. Im Online-Lexikon find­et sich eine Auswahl der knapp 2500 dig­i­tal­isierten Glock­en­geläute mit zusät­zlichen Infor­ma­tio­nen zu Glock­en und Kirchen.

Erfolgsgeschichte «Glocken der Heimat»

Seit 14 Jahren betreut Hans-Beat Flück­iger die Glock­en-Rubrik. Sie wird sam­stagabends zunächst auf der Musik­welle und anschliessend an das «Echo der Zeit» als let­zter Teil des «Zwis­chen­halts» auf Radio SRF 1 aus­ges­trahlt und verze­ich­net Ein­schaltquoten von rund 250 000 Hörerin­nen und Hör­er pro Woch­enende. Hans-Beat Flück­iger: «In der Ver­gan­gen­heit hat man mehrmals Pro­gram­män­derun­gen vorgenom­men, was aber bei einem Grossteil unser­er treuen Glock­en-Hörerin­nen und ‑Hör­er auf Unver­ständ­nis und Ablehnung stiess.»Auf die Frage nach dem Erfol­gsrezept der Glock­en-Sendung meint der 58-Jährige: «Wie wir aus Rück­mel­dun­gen aus der Hör­erschaft wis­sen, gehört das Geläut am Radio fest zum sam­stäglichen Feier­abend-Rit­u­al.» Laut Ansicht des «Glock­en-Redak­tors» sind die Ursachen dafür unter­schiedlich. «Für die meis­ten ste­ht auch im frühen 21. Jahrhun­dert fra­g­los der Begriff ‚Heimat’ im Vorder­grund.» Deshalb erscheint den Radiomach­ern die Rubrik-Beze­ich­nung «Glock­en der Heimat», die erst­mals 1939 Auf­nahme ins Radio­pro­gramm gefun­den hat, unverän­dert aktuell.

Pragmatische Lösungen sind gefragt

Für SRF gibt es aber noch einen weit­eren wesentlichen Grund, um diese langjährige Tra­di­tion beizube­hal­ten. Hans-Beat Flück­iger: «Die Glock­en-Rubrik bietet die willkommene Möglichkeit, auch kleinere Gemein­den oder in weit­en Teilen unseres Lan­des wenig bekan­nte Kirchdör­fer vorzustellen, die auf unserem Sender son­st kaum erwäh­nt wür­den oder wenn, dann häu­fig erst in Verbindung mit Neg­a­tivschlagzeilen.»Der Radiomann beschreibt sich pri­vat als Lieb­haber von klas­sis­ch­er Musik und Glock­en­klän­gen: «Kirchen­geläut bedeutet für mich Heimat, christlich­es Abend­land, viele pos­i­tive Erleb­nisse und Ein­drücke seit früher Kind­heit. Einen All­t­ag ohne Kirchen­glock­en ist für mich schlicht unvorstell­bar. Aber: Ich habe auch Ver­ständ­nis für Men­schen, die Schlaf­prob­leme haben und sich durch den nächtlichen Glock­en­schlag in ihrer unverzicht­baren Erhol­ungs- und Ruhep­hase beein­trächtigt fühlen. Da sind prag­ma­tis­che Lösun­gen gefragt.»

Es werde stiller

Der Forderung nach ein­vernehm­lichen Lösun­gen nur beipflicht­en kann René Spiel­mann. Er leit­et seit 15 Jahren die H. Rüetschi AG in Aarau. Ein Unternehmen, das sich auf Glock­en­guss, Kirch­turmtech­nik, Kun­st- und Design­guss spezial­isiert hat. René Spiel­mann wün­scht sich in erster Lin­ie Debat­ten, die «lösung­sori­en­tiert, präzis und nicht mil­i­tant» geführt wer­den. Mit dem Wort «mil­i­tant» zielt er etwa auf die «IG Stiller» welche sich ins­beson­dere für die Nachtruhe stark macht.

Kunstprojekte helfen

Auf deren Web­site www.nachtruhe.info find­en sich ver­schiedene Nachricht­en, welche den Lärm von Kirchen­glock­en anprangern. Generell lehnt die Inter­es­sen­ge­mein­schaft jedoch den Glock­en­klang nicht ab, wie eine Mit­teilung von Ende August 2016 zu einem Glock­enkonz­ert in St. Gallen beweist: «Die IG Stiller begrüsst dieses Musikpro­jekt, weil es sich fun­da­men­tal von der Monot­o­nie unseres tra­di­tionellen Glock­enge­brauchs abhebt und somit Men­schen auf eine Art und Weise aufrüt­telt, wie es Läuten und Zeitschlag nicht mehr ver­mö­gen. Kun­st­pro­jek­te rund um Kirchtürme und Kirchen­glock­en kön­nen uns zudem helfen, unseren Umgang mit Glock­en zu über­denken.»In die gle­iche Lärmkat­e­gorie wie regelmäs­sig läu­tende Kirchen­glock­en rei­ht die «IG Stiller» Kuh­glock­en, Rasen­mäher oder nächtliche Verkehrsrowdys ein. «Strassen­lärm ist das grösste Lärm­prob­lem der Schweiz», schreiben die IG Stiller-Aktivis­ten auf ihrer Web­site.

Parallelen zum Verkehrslärm

Zum Verkehrslärm zieht auch René Spiel­mann Par­al­le­len: «Wieso muss ich das Glock­en-Prob­lem lösen, wenn die Geset­ze so schlecht sind?», fragt der Unternehmer. «Auf­grund der Vielfalt an Geset­zen gel­ten mit­tler­weile für Geräuscharten ver­schiedene Lärm­pegel.» Er bringt zwei Beispiele: «Wenn sie an verkehrsre­ich­er Lage ein Haus bauen, wird eine lär­mdäm­mende Fas­sade von Geset­zes wegen ver­langt. Wenn jedoch Architek­ten rund um eine Kirche herum ein neues Quarti­er pla­nen, sind Lärm­schutz­mass­nah­men in Bezug auf das Geläut kaum ein The­ma. In Aarau schal­tete die Kirche den Stun­den­schlag aus, dafür wurde die Barszene aktiv, wodurch jew­eils von Don­ner­stag- bis Sam­stagabend von 22 bis 1 Uhr in den Strassen Lärmw­erte um die 90 Dez­i­bel zu messen sind.»

Ästhetik des Glockenklangs

René Spiel­mann kommt in Fahrt: «Ja, das The­ma Klang treibt mich um.» Darum beschäftigt er heute eine Hand voll Mechanik‑, Maschi­nen- und Elek­tro-Inge­nieure, denen die Ästhetik des Glock­en­klang eben­falls zen­trales Anliegen ist. «Ein guter Klang spart let­ztlich sog­ar Geld», sagt Elek­tro-Inge­nieur Spiel­mann, «weil er eine Glocke weniger abnutzt.»

Glocken-Labor

Die Aarauer Glock­en­fach­leute ver­har­ren also nicht ein­fach in ihrer – näch­stes Jahr immer­hin schon 650 Jahre lan­gen – Tra­di­tion, son­dern set­zen auf Inno­va­tion. In Zusam­me­nar­beit mit dem europäis­chen Kom­pe­tenzzen­trum für Glock­en «Pro­Bell®», das seit zehn Jahren an der Hochschule Kempten ein­gerichtet ist, lassen sie fundierte wis­senschaftliche Erken­nt­nisse in ihr Handw­erk ein­fliessen.René Spiel­mann ist begeis­tert: «Gin­gen wir früher exper­i­mentell auf Lösungssuche, ver­fü­gen wir dank der Forschung über ziel­gerichtete Meth­o­d­en mit wis­senschaftliche belegten Dat­en die in die Her­stel­lung der Glock­en oder der Klöp­pel ein­fliessen.» Beispiel ein­er auf diesem Weg angepack­ten Kirchen­glock­en-Sanierung ist die Thomaskirche im Bern­er Liebe­feld, von der in der News-Sendung von Tele­Bärn vom Feb­ru­ar 2015 unter dem Titel «Leis­er die Glock­en nie klin­gen» berichtet wird.

Läuten, nicht scherbeln

«Grund­sät­zlich sollen Kirchen­glock­en läuten nicht scher­beln. Auf der anderen Seite muss der Lärm erträglich sein», fasst Experte Spiel­mann zusam­men. Das heisst sein­er Ansicht nach auch, dass sich Architek­tin­nen und Architek­ten weg­be­we­gen müssen vom rein for­malen Anspruch an einen Glock­en­turm­bau, hin zum umfassenden Ver­ständ­nis für das Instru­ment Glock­en und dessen Behausung. Dieses Anliegen wurde durch die Architek­turen­twick­lung vom His­toris­mus über die Bauhauszeit hin zur Mod­erne in den Hin­ter­grund gedrängt.

Kirchenpflegen sensibilisieren

Hinge­gen friedlich funk­tion­iert seit let­ztem Jahr die Koex­is­tenz von Wohn­häusern und Kirch­turm im Bon­stet­ter Mau­ri­tius­park. Dafür braucht es Kirchenpfle­gen, die nicht ein­fach fun­da­men­tal fürs Läuten sind, son­dern sich berat­en lassen, welche tech­nis­chen Lösun­gen es heute zur Klanggestal­tung gibt. René Spiel­mann, langjähriger Präsi­dent der Kreiskirchge­meinde Aarau: «Ich finde, dass auch die Lan­deskirchen den Kirchenpfle­gen ein­heitliche Han­dre­ichun­gen zum Kirchen­glock­en-The­ma zur Ver­fü­gung stellen soll­ten mit Infor­ma­tio­nen zur Physik, Begrif­f­en und Mess­meth­o­d­en.»Eine der Fol­gen der aus­bleiben­den Infor­ma­tion durch die Lan­deskirchen ist nach Mei­n­ung von René Spiel­mann beispiel­sweise, dass die Kirchenpfle­gen bei Kla­gen im Allein­gang die Läutedauer zurück­stellen oder das Geläut sog­ar abgeschal­ten. «Es wäre zudem zu empfehlen, in heiklen Gemein­den die Läu­tord­nung zusam­men mit der poli­tis­chen Gemeinde zu kor­re­lieren und durch den Gemein­der­at abzuseg­nen. Dies würde bei Prob­le­men eine wesentlich solid­ere Basis der Ein­heitlichkeit geben.» Ein volk­stüm­lich­es Schlich­tungsin­stru­ment wäre eine Umfrage, wie sie jüngst in der Nid­wald­ner Kirchge­meinde Ennet­moos durchge­führt wurde. «Es geht also schlicht nicht um eine ein­heitliche Regelung, son­dern um einen Rat­ge­ber», so René Spiel­mann.

Keine einheitlichen Regeln im Aargau

Luc Hum­bel, Kirchen­rat­spräsi­dent der Römisch-Katholis­chen Kirche im Aar­gau: «Ich bin der Überzeu­gung, dass die richtige Lösung vor Ort gefun­den wer­den muss. Es gibt keine Notwendigkeit und keine Gründe, eine Regel für alle Kirchen­glock­en im Aar­gau oder sog­ar in der Schweiz aufzustellen. Wenn das weltliche Geläut in der Nacht von ein­er Vielzahl von Nach­barn als störend emp­fun­den würde, dann macht es kaum Sinn, daran festzuhal­ten. Die meis­ten Ein­wohn­er empfind­en die Glock­en­schläge aber als bere­ich­ernd und nicht als störend.»Mar­cel Not­ter, Gen­er­alsekretär der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche im Aar­gau, ergänzt: «Eine Verord­nung oder Weisung existiert bei uns nicht, aber es hat Hin­weise zur Läu­tord­nung im Kirchenpflege­hand­buch

Politische und Kirch-Gemeinde

«Ich per­sön­lich bin für den Erhalt des Kirchen­geläuts», so Mar­cel Not­ter. «Der Stun­den­schlag gibt eine Ori­en­tierung, in jedem Dorf, in jed­er Stadt und zu jed­er Zeit. Ob es die Vier­tel­stun­den­schläge durch die Nacht braucht, lasse ich offen. Mich stört das nicht.» Mar­cel Not­ter fügt, nochmals aus beru­flich­er Optik, an: «Grund­sät­zlich zuständig für das litur­gis­che Läuten ist die Pfar­reileitung, für den Stun­den­schlag die Kirchenpflege.» Kirch­turmtech­nik-Spezial­ist Spiel­mann präzisiert: «Vielerorts gehören die Uhren in den Kirchtür­men den poli­tis­chen Gemein­den. Somit ist in diesen Gemein­den der Stun­den­schlag keine kirch­liche Sache.»

Glocken drücken Emotionen aus

Es herrscht also nach wie vor bunte Mei­n­ungsvielfalt auf dem Glock­en-Lösungsweg. Darob zu resig­nieren, ist nicht René Spiel­manns Ding. «Wir soll­ten auch der jun­gen Gen­er­a­tion den Umgang mit dieser Tra­di­tion lehren. Denn ger­ade wenn es ans emo­tionale Lim­it geht, helfen uns die Kirchen­glock­en, diese Gefüh­le auszu­drück­en.» Er erin­nert nicht etwa ans Kriegsende, son­dern an soziale Man­i­fes­ta­tio­nen in jün­ger­er Zeit, wie den Swis­sair-Absturz über Hal­i­fax oder das Atten­tat im Zuger Par­la­ment, welche mit nationalem Glock­en­geläut unter­malt wur­den.

Friedvolle Botschafter

«Wegen der tiefen, reichen Botschaft der Glock­en – ich meine, nicht nur für Chris­ten – haben die Glock­en für mich eine grosse Bedeu­tung. Wenn man um diese weiss, ist es ein­fach­er, sie pos­i­tiv zu hören», sagt Seel­sorg­er Andres Lien­hard aber­mals. «Und wenn ich ver­gle­iche, was son­st alles in unseren Dör­fern und Städten zu hören ist, ger­ade auch in der Nacht, sind die Glock­en für mich sehr fried­volle Botschafter.»Beispiel ein­er Klangsanierung samt Ein­hausung der Glock­en
Redaktion Lichtblick
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