
«Mystik lässt sich schwer in Worte fassen»
Spirituelle Erleuchtungsmomente sind ein heilsames Gegengewicht zur medial überfluteten Welt. Doch rein selbstbezogen dürfe Mystik niemals sein, mahnt der Philosoph Luca Di Blasi.
Ist es eine mystische Erfahrung, wenn ich auf einem Waldspaziergang oder einem Berggipfel plötzlich vom tiefen Bewusstsein ergriffen werde, Teil von etwas Grösserem zu sein?
Luca Di Blasi: Solche intensiven Naturgefühle sind für sich genommen noch keine Mystik. Zwar ist die Einheitserfahrung ein relevanter Teil mystischen Erlebens. Aber gerade naturmystische Empfindungen haben auch etwas Zweideutiges. Sie können als Ausdruck der Ehrfurcht vor der Schöpfung und des Schöpfers gedeutet werden – aber auch als romantische Schwärmerei im Schoss einer vom Menschen mitgestalteten, gezähmten und befriedeten Natur. Einer Natur also, die gar nicht mehr in ihrer ganzen Tiefe erlebbar ist, mitsamt ihren unheimlichen und bedrohlichen Seiten.
Was ist dann also Mystik?
Etwas, das sich per se schlecht definieren lässt. Der evangelische Theologe und Mystikkenner Volker Leppin nennt einige Merkmale der Mystik. Vier davon scheinen mir besonders wichtig. Erstens: die Einheitserfahrung, also Momente der tiefen Verbundenheit des Ich mit dem Göttlichen. Zweitens: Mystische Erfahrungen sind kaum zu beschreiben, denn sie gehen über das Denken hinaus. Mystisches Reden geschieht daher oft in Negativa: sagen, was Gott nicht ist – statt zu definieren, was er ist.
Also ähnlich wie Buddha, der das buddhistische «Paradies», das Nirvana, in negativen Kategorien zu umreissen versuchte? Hier gebe es nicht Raum, nicht Zeit; keine Differenzierungen, keine nennbaren Eigenschaften.
Ja, genau. Das sind Versuche, das Unbegreifliche in Begreifbares zu übersetzen. Ein drittes Merkmal der Mystik ist, dass Transzendenzerfahrungen nicht willentlich «herstellbar» sind. Man kann ihnen mit spirituellen Übungen nur die Tür öffnen. Und wenn sie sich einstellen, haben sie eine verändernde Wirkung.
Und viertens?
Mystische Momente sind zeitlich begrenzt und lassen sich nicht festhalten.
So ergeht es auch Goethes Faust, wenn er am Ende des Dramas einen geradezu mystischen Schlüsselmoment anfleht: «Verweile doch, du bist so schön!»
Bei diesem Ausspruch muss man bedenken, in welchem Kontext er steht. Gemäss einer Abmachung verfällt Faust dem Teufel, sobald es diesem gelingt, dem unablässig Suchenden und Getriebenen einen Moment tiefster Befriedigung zu verschaffen. Am Ende des Dramas kommt es zu einem solchen Moment. Aber eigentlich macht ihn Faust zunichte, denn: Sobald wir uns wünschen, dass ein Augenblick verweilt, kommt der Wille ins Spiel, und dieser verscheucht etwas von der kostbaren Ruhe des Moments. Es ist wie mit dem Handy: Den wahren Reiz unserer schönen Augenblicke können wir mit dem willentlichen Akt des Knipsens niemals festhalten.
Stichwort Handy: Gerade in unserer medial überfluteten Zeit sehnen sich viele Menschen nach mehr Ruhe und Innerlichkeit. Eine Antwort könnte Mystik sein. Sind entsprechende Angebote wie Exerzitien, Meditation oder Kontemplation vermehrt gefragt?
Ich habe durchaus den Eindruck, dass das Interesse erwacht, grade auch bei den Reformierten, die der Mystik ja lange distanziert gegenüberstanden. Die heutige Zeit erzeugt eine Zersplitterung der Aufmerksamkeit, wir haben per Mausklick raschen Zugang zu allem. Das lenkt ab, überfordert, führt uns weg von unseren eigenen Gedanken. Dabei erwacht der Wunsch nach einem Gegengewicht, nach mehr Ruhe und Innerlichkeit. Geistige Übungen bieten sich an, aber auch Schweigen, Fasten und geistiges Fasten, also temporäre Medienabstinenz. Das schafft Raum für eine neue Aufmerksamkeit, auch für Gebet und Religion – und damit für Mystik.
Können Sie von eigenen mystischen Erfahrungen berichten?
Ich habe spirituelle Erfahrungen gemacht, würde sie aber nicht als mystisch bezeichnen. Und selbst wenn: Darüber würde ich nicht sprechen. Es besteht dabei auch immer ein bisschen die Gefahr der Selbstüberhebung.
Es heisst, dass sich mystische Erleuchtungsmomente in allen Religionen so sehr ähneln, dass sie das ideale Bindeglied zwischen den Religionen sind. Stimmt das?
Mystische Traditionen spüren zueinander eine grosse Nähe. Aber wir können uns den Erfahrungen aus den verschiedenen Religionen und Kulturen nur beschreibend und vergleichend nähern, exakte Aussagen lassen sich nicht machen. Erstens, weil es, wie bereits dargelegt, schwierig ist, mystisches Erleben in Worte zu fassen. Und dort, wo es geschieht, stehen wir vor der Aufgabe, das Gesagte aus der Originalsprache richtig zu übersetzen. Im Übrigen gibt es zwischen der Mystik der abrahamitischen und jener der fernöstlichen Religionen auch Unterschiede.
Welche?
Es geht um die Einheitserfahrung. Im Judentum, Christentum und dem Islam verschwindet das menschliche Selbst nicht einfach in Gott, denn Gott steht grundsätzlich immer ausserhalb seines Geschöpfs. Die fernöstlichen Traditionen hingegen tendieren eher dazu, die Einheit von Individuum und dem Göttlichen zu betonen.
Laut dem Tiefenpsychologen C.G. Jung ist Religion nicht ein Lehrgebäude, sondern das Erschauern vor dem göttlichen Geheimnis. Dann wäre Mystik also gewissermassen der Kern des Religiösen?
Das religiöse Erschauern und Fasziniertsein, das Jung meint, ist nicht gleichzusetzen mit Mystik. In der monotheistischen Tradition antwortet Mystik auf einen Bruch, auf die Trennung von Gott und Welt, von Transzendenz und Immanenz. Dargestellt am Beispiel des Christentums bedeutet dies: Gott ist in der Gestalt von Jesus Christus zu uns gekommen. Und mit der Himmelfahrt hat er die Welt wieder verlassen. Zurück bleibt die Sehnsucht, aber auch die Möglichkeit, mit ihm in Verbindung zu treten. Das kann mit Ritualen und Sakramenten geschehen, etwa mit dem Abendmahl. Ein anderer Weg, Gott zu suchen, ist die Mystik; dieser Weg führt über spirituelle Übungen wie Meditation, Kontemplation, Gebet und andere.
Steht das Denken der mystischen Erleuchtung im Weg?
Zwar lassen sich mystische Erfahrungen in ihrem Wesen nicht mit dem Denken erfassen. Aber es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass beides nicht zusammenpasst. Im Gegenteil: Die Wahrheiten, die in mystischem Erleben aufscheinen, sollen bewahrt werden, und hierzu ist das Denken sehr wichtig. Eindrücklich zeigt dies zum Beispiel der neuplatonische Philosoph Plotin im 3. nachchristlichen Jahrhundert. Eigene spirituelle Erfahrungen reflektierte er philosophisch. Sein mystisches Gebäude ist eine Verbindung aus Erfahrung und Denken. Daraus folgt: Mystik und Theologie schliessen sich nicht aus, sie befruchten sich gegenseitig. Durch die Mystik kommt das kreative Denken an die chaotischen Urgründe des Schöpferischen heran.
Mystikerinnen und Mystiker sind bei den Institutionen, welche die offizielle Lehre der jeweiligen Religion hüteten, oft unter Ketzereiverdacht geraten. Warum?
Die Vorstellung, dass der Mensch ein Gegenüber von Gott ist und sich nicht vollständig mit ihm verbinden kann, ist in den drei abrahamitischen Religionen theologisch zentral. Entsprechend fürchteten deren Autoritäten beziehungsweise Institutionen, dass mystische Praktiken, die ja gerade das Einssein mit dem Göttlichen anstreben, eine Aufweichung dieses trennenden Prinzips bewirken könnten. Und: Weil Mystik grenzüberschreitend ist, werden auch Hierarchien oder Geschlechterrollen in Frage gestellt. Das birgt gesellschafts- und kirchenpolitischen Zündstoff.
Dann also weg mit den Institutionen, die zwischen dem Menschen und seiner Gotteserfahrung stehen. Oder nicht?
Die heutige Institutionskritik, die Vorstellung vom schönen, freien Leben ausserhalb der Institutionen, mutet bisweilen etwas naiv an. Für die Freiheit braucht es beides: die Institution und den Raum ausserhalb. Wichtig ist, dass die Institutionen nicht erstarren, sonst wird es in der Tat schwierig. Mystik erinnert die Institutionen daran, wozu sie da sind: Nicht zur Selbsterhaltung! Bleiben die Institutionen offen für den Menschen und seine Bedürfnisse, bleiben sie lebendig.
Aber hat Mystik überhaupt eine mitmenschliche Dimension? Ist ihr Ziel nicht vorab die persönliche Gotteserkenntnis?
Tatsächlich besteht die Gefahr, dass eine entkoppelte Mystik das mitmenschliche und karitative Element aus den Augen verliert. Richtig eingebettet öffnet sie aber das Ego zum Gegenüber und führt zu diakonischer Praxis. Es braucht beides, einerseits das Herz und andererseits das Bekennen beziehungsweise das, was an Taten folgt. Davon spricht Paulus im zehnten Kapitel des Römerbriefs: «Denn wer mit dem Herzen glaubt, wird gerecht; und wer mit dem Munde bekennt, wird selig.» Ohne diese Dimension geht es nicht. Für die Wahrheit will öffentlich eingestanden sein.
Gerade esoterische Gruppierungen betonen aber, dass jeder für sich selbst nach Erleuchtung und damit Erlösung streben soll.
So wird es zuweilen propagiert, aber das sind Fehlentwicklungen. Das ist nicht die Art von Mystik, die in der grossen Tradition der Religionen steht.
Politische und weltanschauliche Debatten führen heute zunehmend zu einer Polarisierung. Kann mystische Praxis helfen, einen anderen, gelasseneren Blick zu finden?
Spirituelle Übungen können sicher helfen, zu mehr Gelassenheit zu finden. In Gleichgültigkeit darf es aber nicht münden. Mystik ist die Suche nach Gott und zugleich ein Sich-Leermachen, um aufmerksam zu werden für andere.
Luca Daniele Di Blasi (58) kam in Luzern zur Welt, wo er zum Teil auch aufgewachsen ist. In Wien studierte er Germanistik und Philosophie, dabei erwachte auch sein Interesse an Mystik und Gnosis. 2003–2006 wirkte er als Post-Doktorand am Projekt «Mystik und Moderne» an der Universität Siegen mit. Luca Di Blasi lehrt als assoziierter Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Bern Philosophie. Soeben ist seine umfangreiche Monographie «Die Politik der Schuld» bei Matthes & Seitz erschienen.



