Der letzte besinnliche Ort

Der letzte besinnliche Ort

  • Musik und Lit­er­atur statt Bibel und Gebete: Hor­i­zonte zeigt, wie die Kan­ton­ss­chulen im Aar­gau Wei­h­nacht­en feiern.
  • Die von der Lan­deskirche angestell­ten Reli­gions­beauf­tragten organ­isieren Advents-Ange­bote, die offiziellen Wei­h­nachts­feiern wer­den jedoch mehrheitlich durch die Fach­schaft Musik gestal­tet.
  • Obwohl sich zeigt, dass Reli­gion an der Schule auch an Wei­h­nacht­en einen schw­eren Stand hat, ist doch für etliche Schüler und Lehrer die Schul­wei­h­nachts­feier ein­er der let­zten besinnlichen Anlässe.
 Sieben Uhr mor­gens an der Kan­ton­ss­chule Wet­tin­gen. Die Schü­lerin­nen und Schüler des Schw­er­punk­t­fachs Latein sitzen heute nicht wie son­st ver­schlafen auf ihren Stühlen. Sie ste­hen bei Kerzen­schein in der Cafe­te­ria und sin­gen sich ein. «Rorate coeli desu­per, et nubes plu­ant ius­tum», tönt es mehrstim­mig. Die Latein- und Ital­ienis­chschüler gestal­ten an diesem Mor­gen die «Atem­pause im Advent» an der Kan­ti Wet­tin­gen mit. Dreimal im Advent organ­isiert die Reli­gions­beauf­tragte Chris­tine Stu­ber zusam­men mit Fach­lehrern und Schülern die mor­gendliche Feier. Über 30 Per­so­n­en begin­nen den Tag mit dem besinnlichen Zusam­men­sein bei Kerzen­licht, Gesang und Gedicht­en.

«Altes Gefäss» Rorate

Im Jahr 2008 hat­te Chris­tine Stu­ber in einem Brief an die Schulleitung geschrieben, sie wolle «das alte Gefäss ‚Rorate’ neu füllen». Die Reli­gions­beauf­tragte for­mulierte bewusst offen: «Wir haben uns vorgenom­men, fremd­sprachige lit­er­arische Texte zur Gel­tung zu brin­gen, die vorge­le­sen und mit Bildern aus der Kun­st ergänzt wer­den, die zum Nach­denken anre­gen.» So ent­stand das Pro­jekt «Atem­pause im Advent». Es find­et dieses Jahr zum elften Mal statt.

Eher im Advent aktiv

Die grosse Wei­h­nachts­feier der Kan­ton­ss­chule Wet­tin­gen find­et vor den Ferien in der Klosterkirche statt und wird von der Fach­schaft Musik vor­bere­it­et. Chris­tine Stu­ber ist daran nicht beteiligt. Genau wie die anderen Reli­gions­beauf­tragte an den Aar­gauer Kan­ton­ss­chulen: sie organ­isieren zwar Ange­bote in der Adventszeit, haben jedoch mit der offiziellen Wei­h­nachts­feier wenig zu tun. Diese ist meist Sache der Fach­schaft Musik. Bär­bel Hess Boden­müller, Reli­gions­beauf­tragte an der Alten Kan­ti Aarau, gestal­tet jeden Advent eine Ver­anstal­tung ausser­halb des Unter­richts. Etwa ein Klassen­z­im­mer als «Wartez­im­mer» mit adventlichen Pro­gramm­punk­ten oder eine Ausstel­lung – wie dieses Jahr zum The­ma Engel. Die Schul-Wei­h­nachts­feier find­et ohne ihre direk­te Mitar­beit statt, in Form eines Apéros am let­zten Schul­t­ag. Die Kan­ton­ss­chule Wohlen organ­isiert unter Mitwirkung des Reli­gions­beauf­tragten Peter Lötsch­er einen Apéro, danach gibt es Wei­h­nachtsmusik in der Aula. An der Kan­ton­ss­chule Zofin­gen find­et am let­zten Schul­t­ag der für die Schüler oblig­a­torische Wei­h­nacht­snach­mit­tag statt, ohne Mitwirkung des Fachs Reli­gion.

Fallstricke und Reklamationen

Auch Mar­tin Zürcher, kan­tonaler Beauf­tragter an der Neuen Kan­ti Aarau, ist neu nicht mehr mitver­ant­wortlich für die Wei­h­nachts­feier an sein­er Schule. «Die Fach­schaft Musik organ­isiert die Feier dieses Jahr selb­ständig», sagt der reformierte The­ologe. «Meine Ver­ant­wor­tung hat in den let­zten Jahren kon­tinuier­lich abgenom­men. Nun bin ich ein­fach als Teil­nehmer dabei.» Die Wei­h­nachts­feier der Neuen Kan­ti Aarau find­et am let­zten Schul­t­ag um 16 Uhr in der Stadtkirche Aarau statt mit viel Musik und offen­em Sin­gen. Mar­tin Zürcher weiss aus Erfahrung, dass die Gestal­tung ein­er Schul-Wei­h­nachts­feier voller Fall­stricke sein kann: «Ein­mal hielt ich eine Rede von der Kanzel und sagte sin­ngemäss, nur der Mes­sias könne Frieden brin­gen. Darauf reklamierten einige Lehrerkol­le­gen und Eltern bei mir, meine Rede hätte zu sehr den Anschein ein­er Predigt gehabt.» Aus dieser Erfahrung ziehe er es sei­ther vor, zum Reden im Pub­likum zu ste­hen. Doch es gäbe auch das andere Extrem, berichtet der ehe­ma­lige Pfar­rer: «All­ge­mein stelle ich zwei Fron­ten fest: Jene, die expliz­it christlich-religiöse Inhalte wollen. Und jene, denen die kle­in­ste Andeu­tung schon zu viel des Religiösen ist.»

Ein delikates Thema

In diesem Span­nungs­feld ziehe die Schule die Wei­h­nachts­feier eher als kul­turellen Anlass auf, sagt Mar­tin Zürcher. Also Musik und Lit­er­atur statt Gebete und bib­lis­che Texte – nach diesem Rezept funk­tion­iert auch Chris­tine Stu­bers «Atem­pause». Denn auch die reformierte The­olo­gin hat die Erfahrung gemacht, dass Reli­gion an der Schule ein delikates The­ma ist. «Ich stelle fest, dass ein gross­er Teil des Lehrerkol­legiums Religiösem eher kri­tisch gegenüber­ste­ht.» Um Anlässe mit religiösem Inhalt an der Schule durchzuführen, brauche es den Rück­halt im Kol­legium und das Wohlwollen der Schulleitung. Sie hat es sich erar­beit­et: «Dadurch, dass ich schon seit 14 Jahren in Wet­tin­gen wirke, hat die Reserviertheit gegenüber mir und meinen Ange­boten abgenom­men.»

Gespür für den Kontext Schule

Das sieht auch ihr Kol­lege an der Kan­ton­ss­chule Baden so. Ben­jamin Ruch ist seit 2011 Reli­gions­beauf­tragter und find­et: «Ob es Abwehrreflexe gegen das Religiöse gibt, hängt ein­er­seits von den Struk­turen ab, von der Schulleitung, von der Geschichte der Schule. Aber auch ich als Per­son bin entschei­dend.» Er sel­ber strahle seines Eracht­ens nichts Mis­sion­ar­isches aus und ver­suche eine Sprache zu find­en, die man in einem säku­laren Kon­text auch ver­ste­hen könne.Die Wei­h­nachts­feier sei ein gutes Beispiel: «Wenn man die Feier als kul­turellen denn als religiösen Anlass gestal­tet, lassen sich die Inhalte von Advent und Wei­h­nacht eher ver­mit­teln». Als einziger Reli­gions­beauf­tragter ist er an sein­er Schule für die offizielle Wei­h­nachts­feier ver­ant­wortlich. «Ich habe auch schon die Wei­h­nachts­geschichte gele­sen und ab und zu einen etwas expliziteren the­ol­o­gis­chen Text ‚hineingeschmuggelt’», sagt Ben­jamin Ruch. Aber auch er ist sich bewusst: «Eine Schul-Wei­h­nachts­feier find­et in einem span­nungsvollen Feld von Tra­di­tion, Chris­ten­tum, säku­lar­er Schule, religiös­er Neu­tral­ität und religiösem Plu­ral­is­mus statt. Das braucht’s ‚es guets Gsch­püri’.»

Zur Besinnung kommen

Die Wei­h­nachts­feier an der Kan­ti Baden find­et am let­zten Fre­ita­gnach­mit­tag vor den Ferien in der Aula statt. Dieses Jahr mit Klavier und Liedern aus aller Welt, vor­ge­tra­gen vom Gesangsensem­ble. Ben­jamin Ruch ist für die Texte zuständig. Dieses Jahr trägt eine Frau, die aus dem syrischen Alep­po geflüchtet ist, zusam­men mit ein­er Schü­lerin eigene Gedichte aufAra­bisch und Deutsch vor. Natür­lich gehe es um Krieg und Flucht, mit einem möglichst zuver­sichtlichen Schluss, doch ohne falsche Vertrös­tung, erläutert der katholis­che The­ologe. Er erzählt, dass er ab und zu von Lehrerkol­le­gen die Rück­mel­dung bekomme, die Feier an der Schule sei der let­zte Ort, wo sie noch besinnlich Wei­h­nacht­en feiern wür­den. «Sie schätzen, dass es diesen Platz gibt und wün­schen sich oft auch die tra­di­tionellen Wei­h­nacht­slieder.»

Besser gesungen

Dazu passt, dass die Wet­tinger Latein-Schüler das alte Rorate-Lied mit dem Text aus dem Buch Jesa­ja 45,8 sin­gen und danach den Rorate-Brauch erläutern. Mar­tin Zürcher hat an der Neuen Kan­ti Aarau beobachtet: «Wenn ein Schüler etwas Frommes vorträgt, wird das bess­er akzep­tiert, als wenn ich das tue. Auch gesun­gen verträgt es explizitere religiöse Inhalte als gesprochen.»

Fragen anregen

Reli­gion hat also einen schw­eren Stand an den Schulen, sog­ar an Wei­h­nacht­en. Doch die Reli­gions­beauf­tragten sind überzeugt von ihrem Auf­trag und schaf­fen es mit guten Ideen und Feinge­fühl, spir­ituelle Fra­gen an die Schüler zu brin­gen. Ben­jamin Ruch sagt: «Ich bin nicht als Glaubensver­mit­tler im engeren Sinn tätig. Aber in meinem Ver­ständ­nis von The­olo­gie ist es eben­so meine Auf­gabe, Fra­gen und The­men aufzu­greifen, die son­st kaum Beach­tun­gen find­en.» So hat er im Novem­ber zusam­men mit ein­er Kol­le­gin eine Afghanistan-Woche organ­isiert, die bei Schülern und Lehrern auf gross­es Inter­esse stiess. Damit regt er Fra­gen an: «Was heisst ‚gutes Leben’ oder ‚gutes Zusam­men­leben’?».

Jemand, der da ist

Auch Chris­tine Stu­ber ist überzeugt, dass Reli­gion an die Kan­ton­ss­chulen gehört. «Man würde so viel mehr ver­ste­hen von den Kon­flik­ten und Entschei­dun­gen auf der Welt, wüsste man mehr über die Reli­gion», erk­lärt sie. Und eben­so wichtig sei ihre seel­sorg­er­liche Auf­gabe an der Schule. Chris­tine Stu­ber ken­nt den Schul­be­trieb und kann Schüler-Sor­gen nachvol­lziehen. Sie geht auf die jun­gen Erwach­se­nen zu, vor oder nach dem Unter­richt. Oder eben bei Kafi und Gipfe­li nach der «Atem­pause im Advent».
Marie-Christine Andres Schürch
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