«Das Altwerden fühlt sich anders an, wenn man selber drin ist»
Die SuizidÂhilÂfeÂorÂganÂiÂsaÂtion Exit hat Ende Mai entschÂieden, sich verÂstärkt für den Alterssuizid einzusetÂzen. Was hat der Entscheid bei Ihnen ausÂgelöst?
Ich war entsetÂzt. Weil schon MulÂtiÂmorÂbidÂität (gleÂichzeitÂiges BesteÂhen mehrerer KrankheitÂen bei einÂer einzelÂnen PerÂson, Anm. d. Red.) ausÂreÂicht und weil nicht gesagt wird, ab wann das Alter anfängt, wo man einen Alterssuizid nachvolÂlziehbar findÂet. MulÂtiÂmorÂbid ist im Alter jedÂer. Wenn Sie es nicht sind, sind Sie nicht anständig diagÂnosÂtiziert. Die Botschaft von Exit ist doch: Wenn einÂer alt ist, kann man es verÂsteÂhen, dass er nicht mehr leben will. Hat er dann noch mehrere ErkrankunÂgen, kann man es erst recht verÂsteÂhen. Dieses SigÂnal ist schon unglaublich.
Warum?
Man weiss genau, dass die subÂjekÂtive GesundÂheit alter MenÂschen über 65 grössÂer ist als diejenige von 40-JähriÂgen zum Beispiel. Sie fühlen sich gesünÂder, obwohl sie objekÂtiv mehr ErkrankunÂgen haben. Warum? Weil sie mit EinÂschränkunÂgen leben gelÂernt haben. Diese beeinÂträchtiÂgen nicht unbeÂdÂingt ihre LebenÂsqualÂität. Man nenÂnt dies das sogeÂnanÂnte ZufriedenÂheitsparaÂdox des Alters: Alte MenÂschen sind zufriedenÂer als JünÂgere, obschon es ihnen von den objekÂtivÂen GegebenÂheitÂen her eigentlich schlechter gehen müsste. Da ist dann immer das grosse Staunen der junÂgen GeronÂtoloÂgen: Woher kommt das? Aber wenn man um dieses ZufriedenÂheitsparaÂdox weiss, dann muss man doch nicht anfanÂgen, alten MenÂschen einzureÂden, dass es eigentlich ein WunÂder ist, dass sie zufrieden sind. Der Exit-Entscheid geht aber genau in die RichÂtung, finde ich.
Müssen sich alte MenÂschen, die trotz BeschwÂerÂden gerne leben, heutzuÂtage rechtÂferÂtiÂgen?
Ich habe oft erlebt, wie man auf SchwÂerÂstkranke zugeÂht. Da sagt etwa ein Mann zu seinÂer kranken Frau: «Also, dass du noch Freude am Leben hast, das kann ich wirkÂlich nicht verÂsteÂhen.» SchwÂerÂstkranke in HosÂpizen bekomÂmen immer wieder zu hören: «Mich wunÂdert, dass du mit diesen EinÂschränkunÂgen noch LebensÂmut hast.» Was macht der BetrÂeÂfÂfende mit so einÂer Botschaft? Da kommt man in einen RechtÂferÂtiÂgungszwang. Ich wünÂsche mir, dass das Alter posÂiÂtivÂer geseÂhen wird. Wir sollÂten alte MenÂschen fraÂgen, wie es ihnen gelingt, 80 oder 90 Jahre alt zu werÂden und dem Leben noch immer etwas abzugewinÂnen. Und hinÂhören. Das AltwerÂden fühlt sich anders an, wenn man selÂber drin ist. Ich kann das von mir selÂber sagen. KürÂzlich hatÂte ich eine StimmÂbanÂdentzünÂdung und konÂnte zwei Wochen lang nicht mehr sprechen. IrgendÂwie dachte ich: «Au, wie ist das jetÂzt, wenn du auf einÂmal nicht mehr reden könÂntest? Wer bist du dann noch für die anderen?» Das war eine ganz intenÂsive Erfahrung.
In der Schweiz gehören rund 72.000 MenÂschen dem VereÂin Exit an. TenÂdenz steigend. Grund ist offenÂbar oft Angst vor einÂer künÂftiÂgen Abhängigkeit im Alter. Woher kommt diese Angst?
Die MediÂen schreiben immer wieder über besÂtimmte AspekÂte des Alters, die Angst erzeuÂgen: Etwa die zunehmende HochalÂtrigkeit, gepaart mit der Zunahme des Prozentsatzes der MenÂschen, die dement sind, körÂperÂlich gebrechÂlich und pflegebedürftig. Die WahrscheinÂlichkeit, dass heute jemand ein hohes Alter erreÂicht, ist recht gross. Das muss man als RealÂität einÂfach sehen. Dabei geht jedoch unter, dass über die Hälfte der über 85-JähriÂgen nicht dement und pflegebedürftig sein wird. Hinzu komÂmen gewisse RahÂmenbeÂdinÂgunÂgen: So sinkt etwa der Anteil der potenÂtiellen FamÂiÂlienpflegekräfte, also Kinder und GeschwisÂter. Diese wohnen zudem weit verÂstreut. Dann gibt es DiskusÂsioÂnen über Renten, leere Kassen, steigende Preise der BetreuÂung von PflegebedürftiÂgen. So entsteÂht ein Szenario, das Angst macht.
Aber spielt da nicht auch das gesellschaftliche IdeÂal, ein MenÂsch habe immer autonom zu sein, eine Rolle?
BesÂtimmt haben in unserÂer heutiÂgen Gesellschaft FreiÂheit und UnabÂhängigkeit einen grösseren Wert als früher. Dafür steÂhen etwa die hohe ScheiÂdungsrate, das Phänomen der LebensÂabÂschnittspartÂner. Das bedeutet, dass die MenÂschen FreiÂheit hochschätzen. AnderÂerÂseits gibt es auch eine Art UnabÂhängigkeitÂsilÂluÂsion.
Das heisst?
Wenn ich mir jünÂgere MenÂschen angucke, die das Gefühl haben, sie seien völÂlig frei, frage ich mich immer: Wovon sind sie frei? VielleÂicht sind sie in gewissÂer Weise frei von VerpflichÂtunÂgen, weil sie keinen fesÂten PartÂner haben, aber sie sind nicht befreÂit von anderÂweitÂigem Beziehungsstress. Auch sind sie nicht frei von BedürfnisÂsen, die durch WerÂbung geweckt werÂden. Sie werÂden manipÂuliert. Das ist eine interÂesÂsante EntwickÂlung, dass wir diese Art von Abhängigkeit gar nicht so sehen. Wir sehen nur forÂmale AbhängigkeitÂen: Ich habe jemanÂdem ein EhevÂerÂsprechen gegeben, ich bin in einÂer fesÂten AnstelÂlung. Für mich ist das Alter ein ZusÂtand, in dem man auch weniger von seinen BedürfnisÂsen getrieben ist. Wer im Alter genügsam ist und nicht mehr jedem ModÂeÂtrend hinÂterÂher renÂnen muss, hat ein Stück späte FreiÂheit gewonÂnen. Diese Art von FreiÂheit wird meist nicht geseÂhen.
VielleÂicht befürchtÂen manche MenÂschen auch, im Alters- oder PflegeÂheim schlecht betreut zu werÂden. Wie sieht es da aus?
In den letÂzten 30 Jahren hat sich die RealÂität in den AlterÂsheimen sehr verbessert. Zuvor gab es zum Beispiel keine BetreuÂungÂsproÂgramme für MenÂschen mit Demenz. SterÂbeÂbeÂgleitung, palÂliaÂtive VerÂsorgung, geriÂatrische DiagÂnosÂtik, GeronÂtopsyÂchiÂaÂtrie – alle diese BereÂichen waren lange nicht so gut entwickÂelt wie heute. Aber ich habe gemerkt, dass die meisÂten MenÂschen vor lauter NachÂdenken darüber, was man alles tun kann, um fit zu bleiben, vergessen, dass – egal wie fit sie sind – die letÂzte LebenÂsaufÂgabe darin besteÂht, sich mit der eigeÂnen Endlichkeit zu konÂfronÂtieren. Für mich ist die grösste LeisÂtung des Alters: Im Angesicht des Todes nicht wahnsinÂnig zu werÂden oder sich das Leben zu nehmen, sonÂdern dem entÂgeÂgen zu sehen und zu sagen, diese AufÂgabe wird auf mich zukomÂmen und ich werde sie irgendÂwie bewältiÂgen.
Exit ermöglicht alten MenÂschen, dies zu überÂsprinÂgen, und beruft sich dabei auf ein SelbÂstÂbesÂtimÂmungsrecht am Lebensende.
Die OrganÂiÂsaÂtion schafft damit ein AltersÂbild, das auch das Alter und das SterÂben zu einem Teil des Lebens macht, für den ich mich entscheiÂden muss. Ich bin eine relÂaÂtiv überzeugte Christin. Für mich gilt deshalb: Ich habe über den Anfang meines Lebens nicht besÂtimmt und möchte auch nicht über dessen Ende besÂtimÂmen. Meine Zeit steÂht in Gottes HänÂden. Es beruhigt mich, dass ich nicht darüber entscheiÂden muss. Ich habe viele MenÂschen im SterÂben begleitÂet und so unterÂschiedliche SzenarÂien des SterÂbens erlebt, dass ich einÂfach denke: Man betrügt MenÂschen darum, wenn man solche EntwickÂlunÂgen abkürzt.
OffenÂbar haben aber immer mehr MenÂschen Angst vor dem natürÂlichen Tod, wollen das schnell über die Bühne brinÂgen. Warum?
WilkenÂing: Es gibt wenig posÂiÂtive Berichte übers SterÂben. Da wir immer selÂtener dabei sind, wisÂsen wir immer weniger, was da alles geschehen kann. Die MenÂschen müssten sich auf das DabeiÂsein einÂlassen. In der HosÂpizbeÂweÂgung haben wir immer verÂsucht, die Angst davor abzubauen. Ich selÂber bin froh, dass ich den AugenÂblick des bewussten SterÂbens meinÂer MutÂter miterÂlebt habe. Das gab mir das Gefühl: Auch bei mir könÂnte es so sein. AllerdÂings möchte ich das SterÂben nicht schönreÂden. SterÂben ist nicht einÂfach, und es geht heutzuÂtage vielleÂicht ohne körÂperÂliche Schmerzen, aber nie ohne seelÂisÂches Leid. SterÂben bedeutet AbschiedÂnehmen von ganz vielem. Aber bei allen MenÂschen, deren SterÂben ich miterÂlebt habe, war auch deutÂlich: Es kommt etwas anderes. Man sieht den MenÂschen an, dass sie wo anders hingeÂhen und dass dieses HinübergeÂhen für sie eine ganz grosse AufÂgabe ist. JedÂer sollte da die Zeit haben, seinen eigeÂnen Weg findÂen zu könÂnen. kipa
Karin WilkenÂing
Karin WilkenÂing ist GastÂforscherin am ZenÂtrum für GeronÂtoloÂgie der UniÂverÂsität Zürich und lebt in EinÂsiedeln SZ. Von 1998 bis 2012 war die aus DeutschÂland stamÂmende Forscherin LehrbeaufÂtragte am PsyÂcholÂoÂgisÂchen InstiÂtut der UniÂverÂsität Zürich für «GeronÂtopsyÂcholoÂgie» und von 1994 bis 2012 ProÂfesÂsorin an der OstÂfalia-Hochschule BraunÂschweig-WolfenÂbütÂtel. In DeutschÂland engagierte sich WilkenÂing ehreÂnamtlich beim AufÂbau der HosÂpizarbeit. 2004 wurde die PalÂliaÂtive-Care-PioÂnierin mit dem VerÂdiÂenÂstkreuz der BunÂdesreÂpubÂlik DeutschÂland für ihren EinÂsatz für DemenÂzkranke und im BereÂich der HosÂpizarbeit ausÂgezeÂichÂnet.


