«Das Altwerden fühlt sich anders an, wenn man selber drin ist»

Die 66-jährige Karin Wilken­ing gilt als Pio­nierin der deutschen Hos­pizbe­we­gung. Über den jüng­sten Entscheid der Schweiz­er Ster­be­hil­fe­or­gan­i­sa­tion Exit, sich ver­stärkt für den Alterssuizid einzuset­zen, ist die in Ein­siedeln lebende Psy­cholo­gin «entset­zt». Im Inter­view mit der Presseagen­tur Kipa sagt die ehe­ma­lige Pro­fes­sorin der Ost­falia-Hochschule Braun­schweig-Wolfen­büt­tel, warum sie dies für ein «unglaublich­es Sig­nal» hält. Statt alten Men­schen die Lebens­freude auszure­den, sollte man sie vielmehr fra­gen, wie sie es schaf­fen, auch mit 80 oder 90 dem Leben etwas abzugewin­nen, find­et die Trägerin des deutschen Bun­desver­di­en­stkreuzes.

Die Suizid­hil­fe­or­gan­i­sa­tion Exit hat Ende Mai entsch­ieden, sich ver­stärkt für den Alterssuizid einzuset­zen. Was hat der Entscheid bei Ihnen aus­gelöst?

Ich war entset­zt. Weil schon Mul­ti­mor­bid­ität (gle­ichzeit­iges Beste­hen mehrerer Krankheit­en bei ein­er einzel­nen Per­son, Anm. d. Red.) aus­re­icht und weil nicht gesagt wird, ab wann das Alter anfängt, wo man einen Alterssuizid nachvol­lziehbar find­et. Mul­ti­mor­bid ist im Alter jed­er. Wenn Sie es nicht sind, sind Sie nicht anständig diag­nos­tiziert. Die Botschaft von Exit ist doch: Wenn ein­er alt ist, kann man es ver­ste­hen, dass er nicht mehr leben will. Hat er dann noch mehrere Erkrankun­gen, kann man es erst recht ver­ste­hen. Dieses Sig­nal ist schon unglaublich.

Warum?
Man weiss genau, dass die sub­jek­tive Gesund­heit alter Men­schen über 65 gröss­er ist als diejenige von 40-Jähri­gen zum Beispiel. Sie fühlen sich gesün­der, obwohl sie objek­tiv mehr Erkrankun­gen haben. Warum? Weil sie mit Ein­schränkun­gen leben gel­ernt haben. Diese beein­trächti­gen nicht unbe­d­ingt ihre Leben­squal­ität. Man nen­nt dies das soge­nan­nte Zufrieden­heitspara­dox des Alters: Alte Men­schen sind zufrieden­er als Jün­gere, obschon es ihnen von den objek­tiv­en Gegeben­heit­en her eigentlich schlechter gehen müsste. Da ist dann immer das grosse Staunen der jun­gen Geron­tolo­gen: Woher kommt das? Aber wenn man um dieses Zufrieden­heitspara­dox weiss, dann muss man doch nicht anfan­gen, alten Men­schen einzure­den, dass es eigentlich ein Wun­der ist, dass sie zufrieden sind. Der Exit-Entscheid geht aber genau in die Rich­tung, finde ich.

Müssen sich alte Men­schen, die trotz Beschw­er­den gerne leben, heutzu­tage recht­fer­ti­gen?
Ich habe oft erlebt, wie man auf Schw­er­stkranke zuge­ht. Da sagt etwa ein Mann zu sein­er kranken Frau: «Also, dass du noch Freude am Leben hast, das kann ich wirk­lich nicht ver­ste­hen.» Schw­er­stkranke in Hos­pizen bekom­men immer wieder zu hören: «Mich wun­dert, dass du mit diesen Ein­schränkun­gen noch Lebens­mut hast.» Was macht der Betr­e­f­fende mit so ein­er Botschaft? Da kommt man in einen Recht­fer­ti­gungszwang. Ich wün­sche mir, dass das Alter pos­i­tiv­er gese­hen wird. Wir soll­ten alte Men­schen fra­gen, wie es ihnen gelingt, 80 oder 90 Jahre alt zu wer­den und dem Leben noch immer etwas abzugewin­nen. Und hin­hören. Das Altwer­den fühlt sich anders an, wenn man sel­ber drin ist. Ich kann das von mir sel­ber sagen. Kür­zlich hat­te ich eine Stimm­ban­dentzün­dung und kon­nte zwei Wochen lang nicht mehr sprechen. Irgend­wie dachte ich: «Au, wie ist das jet­zt, wenn du auf ein­mal nicht mehr reden kön­ntest? Wer bist du dann noch für die anderen?» Das war eine ganz inten­sive Erfahrung.

In der Schweiz gehören rund 72.000 Men­schen dem Vere­in Exit an. Ten­denz steigend. Grund ist offen­bar oft Angst vor ein­er kün­fti­gen Abhängigkeit im Alter. Woher kommt diese Angst?
Die Medi­en schreiben immer wieder über bes­timmte Aspek­te des Alters, die Angst erzeu­gen: Etwa die zunehmende Hochal­trigkeit, gepaart mit der Zunahme des Prozentsatzes der Men­schen, die dement sind, kör­per­lich gebrech­lich und pflegebedürftig. Die Wahrschein­lichkeit, dass heute jemand ein hohes Alter erre­icht, ist recht gross. Das muss man als Real­ität ein­fach sehen. Dabei geht jedoch unter, dass über die Hälfte der über 85-Jähri­gen nicht dement und pflegebedürftig sein wird. Hinzu kom­men gewisse Rah­menbe­din­gun­gen: So sinkt etwa der Anteil der poten­tiellen Fam­i­lienpflegekräfte, also Kinder und Geschwis­ter. Diese wohnen zudem weit ver­streut. Dann gibt es Diskus­sio­nen über Renten, leere Kassen, steigende Preise der Betreu­ung von Pflegebedürfti­gen. So entste­ht ein Szenario, das Angst macht. 

Aber spielt da nicht auch das gesellschaftliche Ide­al, ein Men­sch habe immer autonom zu sein, eine Rolle?
Bes­timmt haben in unser­er heuti­gen Gesellschaft Frei­heit und Unab­hängigkeit einen grösseren Wert als früher. Dafür ste­hen etwa die hohe Schei­dungsrate, das Phänomen der Lebens­ab­schnittspart­ner. Das bedeutet, dass die Men­schen Frei­heit hochschätzen. Ander­er­seits gibt es auch eine Art Unab­hängigkeit­sil­lu­sion.

Das heisst? 
Wenn ich mir jün­gere Men­schen angucke, die das Gefühl haben, sie seien völ­lig frei, frage ich mich immer: Wovon sind sie frei? Vielle­icht sind sie in gewiss­er Weise frei von Verpflich­tun­gen, weil sie keinen fes­ten Part­ner haben, aber sie sind nicht befre­it von ander­weit­igem Beziehungsstress. Auch sind sie nicht frei von Bedürfnis­sen, die durch Wer­bung geweckt wer­den. Sie wer­den manip­uliert. Das ist eine inter­es­sante Entwick­lung, dass wir diese Art von Abhängigkeit gar nicht so sehen. Wir sehen nur for­male Abhängigkeit­en: Ich habe jeman­dem ein Ehev­er­sprechen gegeben, ich bin in ein­er fes­ten Anstel­lung. Für mich ist das Alter ein Zus­tand, in dem man auch weniger von seinen Bedürfnis­sen getrieben ist. Wer im Alter genügsam ist und nicht mehr jedem Mod­e­trend hin­ter­her ren­nen muss, hat ein Stück späte Frei­heit gewon­nen. Diese Art von Frei­heit wird meist nicht gese­hen.

Vielle­icht befürcht­en manche Men­schen auch, im Alters- oder Pflege­heim schlecht betreut zu wer­den. Wie sieht es da aus?
In den let­zten 30 Jahren hat sich die Real­ität in den Alter­sheimen sehr verbessert. Zuvor gab es zum Beispiel keine Betreu­ung­spro­gramme für Men­schen mit Demenz. Ster­be­be­gleitung, pal­lia­tive Ver­sorgung, geri­atrische Diag­nos­tik, Geron­topsy­chi­a­trie – alle diese Bere­ichen waren lange nicht so gut entwick­elt wie heute. Aber ich habe gemerkt, dass die meis­ten Men­schen vor lauter Nach­denken darüber, was man alles tun kann, um fit zu bleiben, vergessen, dass – egal wie fit sie sind – die let­zte Leben­sauf­gabe darin beste­ht, sich mit der eige­nen Endlichkeit zu kon­fron­tieren. Für mich ist die grösste Leis­tung des Alters: Im Angesicht des Todes nicht wahnsin­nig zu wer­den oder sich das Leben zu nehmen, son­dern dem ent­ge­gen zu sehen und zu sagen, diese Auf­gabe wird auf mich zukom­men und ich werde sie irgend­wie bewälti­gen. 

Exit ermöglicht alten Men­schen, dies zu über­sprin­gen, und beruft sich dabei auf ein Selb­st­bes­tim­mungsrecht am Lebensende.
Die Organ­i­sa­tion schafft damit ein Alters­bild, das auch das Alter und das Ster­ben zu einem Teil des Lebens macht, für den ich mich entschei­den muss. Ich bin eine rel­a­tiv überzeugte Christin. Für mich gilt deshalb: Ich habe über den Anfang meines Lebens nicht bes­timmt und möchte auch nicht über dessen Ende bes­tim­men. Meine Zeit ste­ht in Gottes Hän­den. Es beruhigt mich, dass ich nicht darüber entschei­den muss. Ich habe viele Men­schen im Ster­ben begleit­et und so unter­schiedliche Szenar­ien des Ster­bens erlebt, dass ich ein­fach denke: Man betrügt Men­schen darum, wenn man solche Entwick­lun­gen abkürzt. 

Offen­bar haben aber immer mehr Men­schen Angst vor dem natür­lichen Tod, wollen das schnell über die Bühne brin­gen. Warum?
Wilken­ing: Es gibt wenig pos­i­tive Berichte übers Ster­ben. Da wir immer sel­tener dabei sind, wis­sen wir immer weniger, was da alles geschehen kann. Die Men­schen müssten sich auf das Dabei­sein ein­lassen. In der Hos­pizbe­we­gung haben wir immer ver­sucht, die Angst davor abzubauen. Ich sel­ber bin froh, dass ich den Augen­blick des bewussten Ster­bens mein­er Mut­ter miter­lebt habe. Das gab mir das Gefühl: Auch bei mir kön­nte es so sein. Allerd­ings möchte ich das Ster­ben nicht schönre­den. Ster­ben ist nicht ein­fach, und es geht heutzu­tage vielle­icht ohne kör­per­liche Schmerzen, aber nie ohne seel­is­ches Leid. Ster­ben bedeutet Abschied­nehmen von ganz vielem. Aber bei allen Men­schen, deren Ster­ben ich miter­lebt habe, war auch deut­lich: Es kommt etwas anderes. Man sieht den Men­schen an, dass sie wo anders hinge­hen und dass dieses Hinüberge­hen für sie eine ganz grosse Auf­gabe ist. Jed­er sollte da die Zeit haben, seinen eige­nen Weg find­en zu kön­nen.   kipa

 

 

Karin Wilken­ing
Karin Wilken­ing ist Gast­forscherin am Zen­trum für Geron­tolo­gie der Uni­ver­sität Zürich und lebt in Ein­siedeln SZ. Von 1998 bis 2012 war die aus Deutsch­land stam­mende Forscherin Lehrbeauf­tragte am Psy­chol­o­gis­chen Insti­tut der Uni­ver­sität Zürich für «Geron­topsy­cholo­gie» und von 1994 bis 2012 Pro­fes­sorin an der Ost­falia-Hochschule Braun­schweig-Wolfen­büt­tel. In Deutsch­land engagierte sich Wilken­ing ehre­namtlich beim Auf­bau der Hos­pizarbeit. 2004 wurde die Pal­lia­tive-Care-Pio­nierin mit dem Ver­di­en­stkreuz der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land für ihren Ein­satz für Demen­zkranke und im Bere­ich der Hos­pizarbeit aus­geze­ich­net. 

Redaktion Lichtblick
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