«Alle Menschen sind frei …»

«Alle Menschen sind frei …»

  • Der Geburt­stag der Erk­lärung der Men­schen­rechte lädt ein, mehr über diese Samm­lung von Grun­drecht­en, ihre Entwick­lung und Bedeu­tung zu erfahren.
  • Detlef Kiss­ner von forumKirche hat dazu Mar­i­anne Aeber­hard, Geschäft­slei­t­erin des Vere­ins humanrights.ch befragt, der sich für die Ein­hal­tung der Men­schen­rechte in der Schweiz und von der Schweiz aus ein­set­zt.

Was motivierte die UNO dazu, 1948 eine inter­na­tionale Men­schen­recht­serk­lärung zu ver­ab­schieden?
Der zweite Weltkrieg mit seinen Gräueltat­en war Antrieb dafür, dass die UNO die All­ge­meine Erk­lärung der Men­schen­rechte (AEMR) instal­lierte und im Völker­bund dafür sor­gen wollte, dass die Men­schen­rechte zukün­ftig einge­hal­ten wer­den. 

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Wie hat sich die Bedeu­tung der AEMR im Laufe ihrer Exis­tenz entwick­elt?
Das Zus­tande­brin­gen ein­er solchen Erk­lärung war ein gewaltiger Akt. Es waren viele Län­der beteiligt und man musste sich trotz enormer kul­tureller Unter­schiede auf Basics eini­gen. Was ist über­haupt ein Men­schen­recht? Was soll gel­ten? Was heisst Uni­ver­sal­ität? Die Erk­lärung bekam dadurch eine hohe sym­bol­is­che Wirkung und war mit ein­er hohen moralis­chen Verpflich­tung ver­bun­den.

Heute wird die AEMR immer mehr infrage gestellt, auch von europäis­chen Län­dern. Man nimmt die UNO als lästige Kon­trol­linstanz wahr und möchte gewisse Abkom­men aufkündi­gen. 
Zudem ist die UNO zu einem admin­is­tra­tiv­en Unge­heuer angewach­sen, das sehr träge gewor­den ist. Wenn man eine Klage ein­re­icht, geht es Jahre, bis das Ergeb­nis kommt. Die Ver­wal­tung ist nicht mehr so effek­tiv, wie man dies geplant hat­te. Reformbe­stre­bun­gen sind schwierig. Den­noch haben die Men­schen­rechte eine grosse Bedeu­tung. Auch die Rolle der UN-Son­der­berichter­stat­ter darf nicht unter­schätzt wer­den.

Welche Bedeu­tung haben die UNO und ihre Men­schen­recht­sauss­chüsse für die Schweiz?
Die Schweiz hat kein Ver­fas­sungs­gericht, das die eigene Geset­zge­bung über­prüfen kön­nte. Von daher sind die Gremien der UNO und des Europarates wichtige Instru­mente, die eine Aussen­sicht ermöglichen. Dies wurde vom Schweiz­er Volk 2018 durch die Ablehnung der Selb­st­bes­tim­mungsini­tia­tive im Grund­satz gestützt. Auch wenn die Entschei­de dieser UN-Gremien rechtlich nicht bindend sind, hält sich die Schweiz in der Regel daran – ger­ade im Asyl­bere­ich. 

Wie ver­sucht die UNO, die Ein­hal­tung von Men­schen­recht­en zu verbessern?
Die UNO hat zwei Über­prü­fungss­chienen, die poli­tis­che und die fach­liche. Im ersten Fall geht es um die ganze Band­bre­ite an Men­schen­recht­s­the­men. Jedes Mit­glied der UNO wird alle vier Jahre im soge­nan­nten Staaten­berichtsver­fahren von den anderen Mit­glied­staat­en über­prüft. Es muss in einem Bericht Rechen­schaft darüber able­gen, wie es die Empfehlun­gen der let­zten Über­prü­fung umge­set­zt hat. 

Und was bein­hal­tet die fach­liche Über­prü­fung?
Die fach­liche Über­prü­fung hat die einzel­nen Abkom­men (Behin­derten­rechtsabkom­men, Kinder­rechtsabkom­men etc.) im Blick. Sie wird von Auss­chüssen durchge­führt, die mit Expert*innen beset­zt sind. Diese Auss­chüsse über­prüfen regelmäs­sig die Län­der, die die entsprechende Kon­ven­tion rat­i­fiziert haben. Der geprüfte Staat muss dazu einen Bericht vor­legen. Zivilge­sellschaftliche Organ­i­sa­tio­nen kön­nen par­al­lel einen alter­na­tiv­en Bericht mit eige­nen The­men ein­re­ichen. Nach ein­er Anhörung in Genf spricht der Auss­chuss eine nicht geringe Zahl an Empfehlun­gen aus, die der Staat dann umset­zen kann oder nicht. Im näch­sten Zyk­lus wird das wieder über­prüft. 

Menschenrechte

Am 10. Dezem­ber 1948 wurde die All­ge­meine Erk­lärung der Men­schen­rechte (AEMR) mit 48 Ja-Stim­men und 8 Enthal­tun­gen ver­ab­schiedet. Die 1946 gegrün­dete UN-Men­schen­recht­skom­mis­sion hat­te das Doku­ment, das auf beste­hen­den Erk­lärun­gen und Grun­drecht­skat­a­lo­gen west­lich­er Staat­en basiert, unter der Leitung von Eleanor Roo­sevelt erar­beit­et. Es begin­nt mit dem Satz: «Alle Men­schen sind frei und gle­ich an Würde und Recht­en geboren.» In 30 Artikeln wer­den bürg­er­liche, poli­tis­che und soziale Rechte aufgezählt, die ein Leben in Würde garantieren. Dazu zählen der Schutz der Per­son (wie z. B. Ver­bot von Sklaverei, Folter und willkür­lich­er Fes­t­nahme), Ver­fahren­srechte, klas­sis­che Frei­heit­srechte sowie soziale und kul­turelle Rechte. 

Die AEMR hat zwar keinen juris­tisch verbindlichen Sta­tus, doch kommt ihr heute ein gewohn­heit­srechtlich­er Charak­ter zu. Völk­er­rechtlich verbindlich sind hinge­gen die bei­den Men­schen­rechtsabkom­men über wirtschaftliche, soziale und kul­turelle Rechte (WSK) bzw. über bürg­er­liche und poli­tis­che Rechte (BP), die die UNO-Gen­er­alver­samm­lung 1966 ver­ab­schiedete. Es fol­gten weit­ere Abkom­men wie die Kinder­recht­skon­ven­tion oder die Antifolterkon­ven­tion.

Die Schweiz hat die meis­ten Abkom­men zwar rat­i­fiziert, aber im Ver­gle­ich zu anderen Län­dern extrem spät – die Behin­derten­recht­skon­ven­tion (BRK) erst 2014. Zudem hat sie in mehreren Abkom­men – WSK, BP und BRK — die Zusatzpro­tokolle nicht unterze­ich­net. Damit kön­nen diese Rechte nicht bei der UNO eingeklagt wer­den. Tragisch ist dies vor allem bei den WSK-Recht­en, weil diese nicht über andere Abkom­men oder Geset­ze eingeklagt wer­den kön­nen.

Wann kön­nen Men­schen­rechte in legit­imer Weise eingeschränkt wer­den?
Die einzel­nen Men­schen­rechte lassen sich nicht klar voneinan­der abgren­zen. Sie über­schnei­den sich, zum Teil wider­sprechen sie sich auch. Die Klärung ist dann immer eine Frage der Güter­ab­wä­gung. Grund­sät­zlich muss dabei das Prinzip der Ver­hält­nis­mäs­sigkeit ange­wandt wer­den. Ausser­dem lassen sich manche strit­ti­gen Fra­gen nicht generell lösen, son­dern müssen von Fall zu Fall betra­chtet wer­den. Es gibt auch Kon­flik­te, die sich schw­er auflösen lassen wie z. B. bei der Knabenbeschnei­dung, wo Reli­gions­frei­heit und elter­lich­es Erziehungsrecht mit Kinder­recht­en kol­li­dieren.

Men­schen­rechte einzuhal­ten, ist eine dauer­hafte Her­aus­forderung – auch für demokratis­che Staat­en. In welchen gesellschaftlichen Bere­ichen beste­ht die Gefahr, dass auch in der Schweiz Men­schen­rechte mis­sachtet wer­den?
Diese Gefahr beste­ht im Bere­ich des Frei­heit­sentzuges – im Gefäng­nis und der Psy­chi­a­trie – und wenn es um vul­ner­a­ble Grup­pen geht wie bei der Unter­bringung von Kindern, von Men­schen mit Behin­derun­gen, von älteren Men­schen und Asyl­suchen­den.

Welche Men­schen­rechte sind im Umgang mit geflüchteten Per­so­n­en in Gefahr?
Im Asyl­bere­ich sind Kinder­rechte betrof­fen, die leicht vergessen gehen. Kinder, deren Asy­lantrag abgewiesen wurde oder die den Sta­tus F – vor­läu­fig aufgenom­men – erhal­ten, sind in Bun­de­sa­sylzen­tren oder anderen Unterkün­ften unterge­bracht, wo sie oft nicht unter kindgerecht­en Bedin­gun­gen leben. Sie leben zusam­mengepfer­cht mit Erwach­se­nen, die zum Teil trau­ma­tisiert sind, sind Gewalt aus­ge­set­zt, haben keinen Ort zum Spie­len oder müssen uner­wartet den Aufen­thalt­sort wech­seln, was auch den Schulbe­such erschw­ert. Man hört auch von man­gel­haften hygien­is­chen Bedin­gun­gen (Bettwanzen) und Prob­le­men bei der Gesund­heitsver­sorgung. 

Das Recht auf Fam­i­lie wird in der Schweiz durch eine restrik­tive Prax­is beim Fam­i­li­en­nachzug eingeschränkt. Auch im Asylver­fahren gibt es Män­gel. Für die Abklärung, ob jemand Opfer von Folter wurde, müsste laut Abkom­men ein Pro­tokoll angewen­det wer­den, das nach einem gewis­sen Schema diesen Sachver­halt prüft. Dies ist in der Schweiz nicht der Fall. Es gibt mehrere Entschei­de des Auss­chuss­es gegen Folter, in denen die Schweiz verurteilt wird, dass sie ungenü­gend abgek­lärt hat, in welchem Zus­tand man eine Per­son auss­chafft oder ob sie erneut Folter aus­ge­set­zt ist. 

Welche Span­nun­gen ergeben sich im Fall von für­sorg­erischen Unter­bringun­gen?
Dieser Bere­ich ist eine Black­box. Da redet man sehr wenig darüber und da ist vieles im Argen. Für­sorg­erische Unter­bringun­gen (FU) kom­men vor allem bei Men­schen mit psy­chis­chen Belas­tun­gen zur Anwen­dung. Der Zus­tand, in dem sich die Men­schen bei der Ein­weisung befind­en, muss oft als Behin­derung eingestuft wer­den. Men­schen mit Behin­derun­gen gemein­schaftlich in Insti­tu­tio­nen einzuweisen und bei ihnen Zwangs­mass­nah­men wie Zwangsmedika­tion, Isolierung und Fix­ierung anzuwen­den, ver­stösst aber gegen die Behin­derten­recht­skon­ven­tion. Das ist hierzu­lande aber üblich. Die Schweiz hat europaweit eine der höch­sten Rat­en von Ein­weisun­gen in die FU. Das schliesst nicht aus, dass es manch­mal nötig ist. Aber es geht um das Prinzip der Ver­hält­nis­mäs­sigkeit. Was ist wirk­lich nötig in dieser Sit­u­a­tion? Wo ver­stösst es gegen die Rechte dieser Per­son?

Ein ähn­lich­es Prob­lem ergibt sich in Gefäng­nis­sen. Auch dort gibt es viele Men­schen mit psy­chis­chen Erkrankun­gen, die im falschen Set­ting Zwangs­mass­nah­men aus­ge­set­zt sind. 

Welche Alter­na­tiv­en gäbe es denn?
Die UNO regt an, eine psy­chi­a­trische Ver­sorgung zu dezen­tral­isieren und z. B. auf Gemein­deebene zu ver­legen – eher in Form ein­er Kris­en­in­ter­ven­tion. Dadurch wür­den die Betrof­fe­nen nicht aus ihrem Umfeld geris­sen. Eine weit­ere Empfehlung des UN-Behin­derten­recht­sauss­chuss­es ist die Anwen­dung von Alter­na­tiv­en zu Zwangs­mass­nah­men, näm­lich die Eins-zu-eins-Begleitung und Räume, in denen die Betrof­fe­nen sich beruhi­gen kön­nen. In der Schweiz gibt es Insti­tu­tio­nen, die solche Alter­na­tiv­en ein­set­zen.

Was kann helfen, dass die Men­schen­rechte in der Schweiz mehr beachtet wer­den?
Das braucht ver­schiedene Ansatzpunk­te. Mehr darüber zu reden und die Gesellschaft dafür zu sen­si­bil­isieren, ist ein­er davon. Es herrscht der Ein­druck, dass es in der Schweiz keine Prob­leme mit den Men­schrecht­en gibt. Dem ist nicht so. Es braucht den Prozess, die Prob­leme im eige­nen Land wahrzunehmen und dazu zu ste­hen. 

Im Mai dieses Jahres wurde endlich die Schweiz­erische Men­schen­rechtsin­sti­tu­tion (SMRI) gegrün­det. Dieser Schritt hat fast 25 Jahre gedauert. Die SMRI kann koor­dinierende Funk­tio­nen zwis­chen den einzel­nen Akteuren übernehmen. Zudem wäre es wün­schenswert, dass sie über das, was auf kom­mu­naler und kan­tonaler Ebene umge­set­zt wird, informiert. Eben­so kön­nte die SMRI Best Prac­tices erar­beit­en. 

Es wäre wichtig, dass es in der Schweiz beim Bund eine klare Zuständigkeit für Men­schen­rechte gibt in einem Departe­ment, das auch für die Umset­zung in der Schweiz zuständig ist. Aktuell ist es das EDA, mit klar­er Pri­or­ität im Aus­land.

Wie erleben Sie die Hal­tung der katholis­chen Kirche zu den Men­schen­recht­en?
Es gibt ein The­ma, das derzeit dominiert: der Miss­brauch in der katholis­chen Kirche. Und das beschäftigt uns natür­lich. Anson­sten beurteilen wir keine Insti­tu­tion nach ihren Grund­hal­tun­gen. Wir haben aber das Dossier «Reli­gion­srecht und religiös­es Recht» her­aus­gegeben. Dort behan­deln wir The­men, die zu Men­schen­recht­sprob­lematiken in den unter­schiedlichen Reli­gion­s­ge­mein­schaften führen kön­nen.

Wie müsste man angesichts gesellschaftlich­er Entwick­lun­gen die AEMR heute fortschreiben?
Men­schen­rechte sind nicht sta­tisch. Sie wer­den weit­er­en­twick­elt, z. B. im Blick auf den Kli­mawan­del oder den Daten­schutz. Es gibt schon eine Res­o­lu­tion für ein Recht auf eine saubere Umwelt. Dieses Recht muss aber noch ver­schriftlicht wer­den. Ich kann mir gut vorstellen, dass ein­mal neue Artikel in die AEMR aufgenom­men wer­den. 

Sehen Sie weit­ere Entwick­lun­gen?
Sehr wichtig ist, dass sich die Recht­sprechung weit­er­en­twick­elt hat. Bei den UN-Auss­chüssen kann man Indi­vid­u­alk­la­gen gegen einen Staat ein­re­ichen. Dies ist allerd­ings nur möglich, wenn dieser Staat ein Zusatzpro­tokoll rat­i­fiziert hat, das diese Möglichkeit zulässt. Die Schweiz hat dies nur bei eini­gen Auss­chüssen getan. Beim Auss­chuss für Rechte für Men­schen mit Behin­derun­gen, für poli­tis­che oder soziale Rechte kann man keine Klage gegen die Schweiz ein­re­ichen.

Die Abkom­men zu Men­schen­recht­en sind wichtig, doch noch wichtiger ist die Recht­sprechung. Man muss bei den Kla­gen, die man bei den Auss­chüssen ein­re­icht, darauf acht­en, dass sie sich auf die konkret vere­in­barten Rechte beziehen. Der Europäis­che Gericht­shof für Men­schen­rechte (EGMR) hat auch grosse Bedeu­tung erlangt. Er hat auch Ein­fluss auf die Recht­sprechung in der Schweiz. Man muss im Einzelfall immer abwä­gen, ob man sich eher an einen UN-Auss­chuss wen­det oder an den EGMR. 

Wir schulen Juristin­nen und Juris­ten, dass sie bere­its in der ersten Instanz auf entsprechende Men­schen­rechte Bezug nehmen. Denn nur so ist es möglich, in einem Ver­fahren auch inter­na­tionalen Instanzen anzu­rufen.

Welche Zukun­ft haben die Men­schen­rechte angesichts der derzeit­i­gen Kriege?
Die Men­schen­rechte sind extrem unter Druck. Wir befürcht­en, dass dies noch zunimmt. Es ist sehr wichtig, dass man sich für sie ein­set­zt.

Eva Meienberg
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