Wenn die Situation zu Hause eskaliert

Wenn die Situation zu Hause eskaliert

  • Das Frauen­haus Aar­gau-Solothurn ist als Kris­en­in­ter­ven­tion­sein­rich­tung an 365 Tagen im Jahr für 24 Stun­den geöffnet.
  • Es bietet Schutz­plätze für zehn Frauen mit und ohne Kinder, die häus­liche Gewalt erleben und eine sichere Unterkun­ft brauchen.
  • Susanne Muth, Fach­stel­len­lei­t­erin Diakonie, ist Vizepräsi­dentin im Stiftungsrat Frauen­haus. Sie hat ein Gespräch mit drei Frauen­haus-Mitar­bei­t­erin­nen geführt.

Sabine H.*, Rita S.* und Corinne L.*, welchen Men­schen begeg­nen Sie im Frauen­haus?
S. H.: Es kom­men Frauen aus unter­schiedlichen Alters­grup­pen, Nation­al­itäten, mit vielfältigem Bil­dung­sh­in­ter­grund und aus allen Klassen der Gesellschaft. Gemein­sam ist den meis­ten eine grosse Dankbarkeit darüber, hier sein zu dür­fen. Die Diver­sität der Per­so­n­en macht die Arbeit sehr span­nend, ist aber auch oft eine Her­aus­forderung. Wenn so unter­schiedliche Frauen auf engem Raum zusam­men­leben, birgt das Kon­flik­t­poten­zial. Frauen und Kinder machen während ihres Aufen­thalts eine Entwick­lung durch: Die Kinder sind in den ersten paar Tagen meis­tens etwas schüchtern, sie kön­nen sich dann aber recht schnell öff­nen. Bei den Frauen dauert das erfahrungs­gemäss länger.[esf_wordpressimage id=44994 width=half float=left][/esf_wordpressimage]

Wie läuft die Auf­nahme ins Frauen­haus ab?
S. H.: Wenn eine betrof­fene Frau anruft, klären wir zunächst die Sit­u­a­tion ab. Sind die Krite­rien für eine Auf­nahme ins Frauen­haus erfüllt und haben wir noch einen freien Platz? Sollte bei­des zutr­e­f­fen, machen wir mit ihr einen Tre­ff­punkt ab, an dem wir sie abholen. Zu ihrer Sicher­heit schal­ten wir die Ortungs­di­en­ste der elek­tro­n­is­chen Geräte aus, wech­seln die SIM-Karten aus, stellen die Handys ab und brin­gen die Frauen dann ins Frauen­haus. Ausser­dem wird anschliessend ein genereller Sicher­heitscheck der Handys durchge­führt.

Wie geht es weit­er, wenn die Frauen in Sicher­heit sind?
C. L.: Frauen und Kinder haben Gewal­ter­fahrun­gen gemacht und sind in ihrer Exis­tenz erschüt­tert. Die erste Phase des Aufen­thalts hat bei den Frauen und Kindern das Ziel, den Betrof­fe­nen Zeit zu geben, sich einzuleben, und ihnen Sicher­heit zu ver­mit­teln. Es ist wichtig, dass die Frauen offen mit uns sprechen, auch dann, wenn es aus irgendwelchen Grün­den wieder zu Kon­takt mit dem ge­walt­ausübenden Part­ner kommt.

Serie Diakonie, Teil 4: Frauenhaus Aargau-Solothurn

Das Frauen­haus Aar­gau-Solothurn wird dieses Jahr 40 Jahre alt und ist aktuell sub­jek­t­fi­nanziert. Das bedeutet, dass der Kan­ton nur diejeni­gen Bet­ten bezahlt, die belegt sind. Für eine Umset­zung der Istan­bul-Kon­ven­tion gegen geschlechtsspez­i­fis­che Gewalt bräuchte es eine Objek­t­fi­nanzierung unab­hängig von der Bele­gung oder einen Sock­el­beitrag.

Die Fach­stelle Diakonie der Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau set­zt sich dafür ein, dass Sol­i­dar­ität in der Kirche gelebt und prak­tiziert wird. Mit ein­er Artikelserie zur Diakonie macht sie das diakonis­che Schaf­fen in der Kirche, in Vere­inen und sozialen Insti­tu­tio­nen sicht­bar. | www.kathaargau.ch/diakonie

R. S.: Die Kinder sind immer von der Gewalt mit betrof­fen, auch wenn die Müt­ter manch­mal denken, sie hät­ten nichts mit­bekom­men. Wir müssen her­ausspüren, wie stark sie betrof­fen sind, um sie dann an entsprechende Stellen weit­erzu­ver­mit­teln und mit den Kindern das Erlebte aufzuar­beit­en.

C. L.: Mit den Frauen muss man klären, wie die aktuelle Sit­u­a­tion ist und was sie eigentlich wollen. Manche wis­sen das schon ganz genau, andere gar nicht. Es braucht viel Aufk­lärungsar­beit auch darüber, welche Kon­se­quenz welche Entschei­dung hat, zum Beispiel, wenn man eine Anzeige erstat­tet oder eben nicht.

R. S.: Kinder in gewalt­be­trof­fe­nen Fam­i­lien müssen im All­t­ag oft Ver­ant­wor­tung übernehmen. Die Müt­ter sind dazu teil­weise nicht mehr in der Lage, wenn die Sit­u­a­tion eskaliert. Wenn die Kinder bei uns sind, müssen sie erst wieder ler­nen, Kind sein zu dür­fen.

R. S.: Die durch­schnit­tliche Aufen­thalts­dauer der Frauen im Frauen­haus lag im ver­gan­genen Jahr zwis­chen 32 und 35 Tagen. Es gibt Kurza­ufen­thal­terin­nen, die nur zwei, drei Nächte bleiben, manche Frauen bleiben vier Monate. Sehr sel­ten bleiben die Frauen länger. Die Kurza­ufen­thal­terin­nen sind etwas sel­tener als die Frauen, die länger bleiben, kom­men aber auch häu­fig vor. Meis­tens find­en sie eine andere Lösung, kom­men etwa bei Ver­wandten oder Fre­un­den unter. Die meis­ten Frauen, die länger im Frauen­haus bleiben, suchen nach ein paar Wochen oder Monat­en eine neue Woh­nung. Es gibt Frauen, die nicht so schnell eine neue Unterkun­ft find­en und eine Zwis­chen­lö­sung find­en müssen. Manch­mal geht eine Frau auch in eine Mut­ter-Kind-Ein­rich­tung oder ein betreutes Wohnen und manche Frauen gehen wieder zu ihrem Part­ner zurück.

Was motiviert Sie für diese anspruchsvolle Arbeit?
R. S.: Die Kinder gehen in dieser Sit­u­a­tion oft vergessen. Ich set­ze mich dafür ein, dass auch sie gese­hen und gehört wer­den. Sie sind immer Teil der The­matik. Wir bieten den Kindern hier einen Ort, an dem sie Sicher­heit und Gebor­gen­heit erleben dür­fen.


SOS-24-Stun­den-Helpline

Sie erleben Gewalt in der Ehe oder Part­ner­schaft? Unter der Num­mer 062 823 86 00 bekom­men Sie rund um die Uhr Hil­fe.

S. H.: Ich unter­stütze Men­schen gerne in ihrer Entwick­lung. Auch wenn die Arbeit oft her­aus­fordernd ist, gibt sie mir Energie. Es ist mir ausser­dem wichtig, dazu beizu­tra­gen, dass Gewalt in der Gesellschaft bess­er wahrgenom­men wird. Es braucht Bewusst­sein­sar­beit und eine Def­i­n­i­tion des Gewaltver­ständ­niss­es.

C. L.: Es muss Frauen­häuser geben und Men­schen, die diese Arbeit machen. Neben der Unter­stützung der Betrof­fe­nen müssen wir auf gesellschaftlich­er Ebene daran arbeit­en, dass Gewalt weniger oder am besten gar nicht mehr passiert. Für mich hat diese Arbeit auch etwas mit einem poli­tis­chen Befreiungskampf zu tun. Wir brauchen Struk­turen, die uns dabei unter­stützen, dass wir sich­er leben kön­nen. Dazu muss die Gesellschaft hin­schauen. Die gesellschaftliche Sit­u­a­tion ist ein Nährbo­den für Gewalt an Frauen. Son­st kön­nte sie nicht in diesem Aus­mass stat­tfind­en.

Welche Erfahrun­gen machen Ihnen zu schaf­fen und wie gehen Sie damit um?
R. S.: Die Schick­sale sind schwierig. Aber man gewöh­nt sich auch daran. Trotz­dem gibt es immer wieder Vor­fälle, die mich stärk­er berühren. Wenn wir Gefährdungsmeldun­gen machen müssen, um die Kinder zu schützen, ist das sehr schw­er. Oder wenn es ein­er Mut­ter so schlecht geht, dass sie in eine psy­chi­a­trische Insti­tu­tion gehen muss. Dann müssen wir die Kinder fremd­platzieren. Wenn ich als einzige Bezugsper­son diese Kinder in einem Kinder­heim zurück­lassen muss oder wenn ein Kind sex­uelle Aus­beu­tung erlebt hat, das sind die schlimm­sten Momente für mich. In der Arbeit hil­ft mir der insti­tu­tion­al­isierte Aus­tausch. Das Team ist wertschätzend und unter­stützend. Pri­vat hil­ft mir vor allem Bewe­gung, um abzuschal­ten.

S. H.: Manche Sit­u­a­tio­nen sind sehr schwierig. Ein­mal ist mir nach meinem Dienst ein Kind nachge­laufen. Es schaute zwis­chen den Stäben des Garten­za­unes durch, als ich ging, und rief mir nach: «Wir sehen uns.» Wie es da so einges­per­rt stand, berührte mich zutief­st. Ich ver­ar­beite vieles durch Lesen und Schreiben. Bewe­gung in der Natur tut mir auch gut. Manch­mal denke ich dann an die Frauen bei uns, die nicht aus dem Haus gehen kön­nen. Es ist so wichtig, dass man draussen unter­wegs sein und sich ablenken kann.

C. L.: Ganz schlimm sind die Sit­u­a­tio­nen, wenn eine Frau sich auf­grund ihres Aufen­thaltssta­tus entschei­det, wieder zum Part­ner zurück­zuge­hen, obwohl sie eigentlich nicht möchte. Wenn die Angst vor der Auss­chaf­fung der Grund dafür ist, sich mas­siv­er, zum Teil lebens­bedrohlich­er Gewalt auszuset­zen, bringt mich das an meine Gren­ze. Das kommt immer wieder vor. Ich gehe regelmäs­sig zur Ther­a­pie und habe ein lebendi­ges Umfeld, das mir zeigt, dass das Leben auch ausser­halb der Arbeit stat­tfind­et. Da bin ich gut aufge­hoben.

* Die Namen der Mitar­bei­t­erin­nen wur­den geän­dert, um die Anonymität des Frauen­haus­es zu schützen.


Weit­ere Beiträge der Serie zur Diakonie

https://www.horizonte-aargau.ch/bei-uns-haben-alle-platz/
https://www.horizonte-aargau.ch/kirche-ist-ueberall/

Marie-Christine Andres Schürch
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