«Die dritte Generation stellt eher Fragen»

«Die dritte Generation stellt eher Fragen»

  • Chris­tiane Faschon ist katholis­che The­olo­gin und war von 2007 bis 2017 Präsi­dentin der Arbeits­ge­mein­schaft Christlich­er Kirchen in der Schweiz (AGCK.CH).
  • Ihre Grossel­tern lit­ten unter der Naziver­fol­gung.​ Sie ken­nt daher die seel­is­chen Nöte der Opfer­nachkom­men aus eigen­er Erfahrung.
  • Im Inter­view betont sie die Wichtigkeit ein­er soli­den Trau­mather­a­pie und prangert die Untätigkeit der Kirche in der Aufar­beitung der Trau­ma­ta an.


Chris­tiane­Faschon, Ihr Vater wurde wegen sein­er jüdis­chen Herkun­ft ver­fol­gt. Haben Sie die Weit­er­gabe von Trau­ma­ta per­sön­lich erlebt?
Chris­tiane Faschon: Ja, ich fühlte mich sehr für das Woh­lerge­hen mein­er Eltern ver­ant­wortlich und habe sie auch deshalb lange gepflegt. Ausser­dem trage ich immer noch Äng­ste mit mir herum und höre bis heute das Gras wach­sen, das heisst, ich bin eher über­vor­sichtig. Ich mache mir schnell Sor­gen um Nah­este­hende.

Wie oder woran wurde Ihnen bewusst, dass Sie, wie andere Opfer­nachkom­men, das Trau­ma ihrer Eltern weit­er­tra­gen?
Während des Studi­ums stiess ich auf die ersten Pub­lika­tio­nen zur TTT-Forschung* aus den USA und Israel. Im Detail habe ich viel aus den Work­shops von Tamach** gel­ernt. Dort traf ich Fach­per­so­n­en und Betrof­fene. Dies auch bei meinen Aufen­thal­ten in Israel.

Sie schreiben: «Die zweite Gen­er­a­tion ver­sucht, die Eltern von den seel­is­chen Schreck­en zu erlösen und fühlt sich oft lebenslang für sie ver­ant­wortlich. Sie spricht nicht über die eige­nen Sor­gen. Viele zweifeln, ob sie glück­lich sein dür­fen, wenn die Eltern lei­den.» Wie äussern sich die Trau­ma­ta in der drit­ten Gen­er­a­tion, den Enke­lin­nen und Enkeln?
Auch TTT-Forsch­er sind über­rascht, wie aus­geprägt die Trau­ma­ta in der drit­ten Gen­er­a­tion sind. Ein Teil der Betrof­fe­nen aber kann über die Fol­gen der Trau­ma­ta sprechen und sich von den Belas­tun­gen abgren­zen. Auch stellen sie ihren Grossel­tern eher Fra­gen, die die Eltern nicht zu stellen wagten oder nicht stell­ten. Etwa die Frage, was genau in der Ver­fol­gungszeit mit ihnen geschah. Manche lei­den aber auch an dif­fusen Belas­tun­gen, deren Ursachen sie nicht ken­nen, beson­ders wenn sie keine oder nur wenige Infor­ma­tio­nen haben, was wirk­lich geschehen ist. Die Phan­tasie kann erschreck­ender sein als die Real­ität. Die lib­eralen jüdis­chen Gemein­den verze­ich­nen übri­gens eine Anzahl von Ein­trit­ten vor diesem Hin­ter­grund und aus dieser Gen­er­a­tion.

Unter­schei­den sich die Trau­ma­ta der Täter­nachkom­men von den­jeni­gen der Opfer­nachkom­men?
Ja, nicht unbe­d­ingt in der Inten­sität, aber in der Qual­ität. Es geht um Scham und Schuldge­füh­le, die über­wälti­gend sein kön­nen oder von manchen auch ver­drängt wer­den. Täter­nachkom­men sind «moralisch auf der falschen Seite», wie ein Sohn mir ein­mal sagte. Das ist eine beson­dere Belas­tung. Der Satz «mein Vater/Grossvater ist ein Massen­mörder» kommt Nachkom­men nicht leicht über die Lip­pen. Enke­lin­nen und Enkel dieser Gruppe äussern sich zunehmend in Fil­men und Pub­lika­tio­nen und arbeit­en die Fam­i­liengeschichte auf.

Der Prozess der Epi­genetik, der für die Weit­er­gabe von Trau­ma­ta über mehrere Gen­er­a­tio­nen ver­ant­wortlich ist, ist um​kehrbar. Was hil­ft, diesen Prozess rück­gängig zu machen?
Solide Trau­mather­a­pi­en helfen. Der Umgang mit Stress wird erle­ichtert und damit die epi­genetis­che Belas­tung. Lei­der man­gelt es ger­ade in der Schweiz an aus­gewiese­nen Fach­leuten sowohl für Täter- als auch Opfer­nachkom­men. Selb­sthil­fe­grup­pen sind eben­falls hil­fre­ich; dort erlebt sich der oder die Einzelne als Teil ein­er Gemein­schaft mit ähn­lichen Prob­le­men. Man muss nicht alles erk­lären, wird ver­standen.

Was hat die Kirche zur Ver­ar­beitung der Trau­ma­ta der zweit­en und drit­ten Gen­er­a­tion beige­tra­gen?
Lei­der so gut wie nichts. Die Gruppe der Men­schen etwa, die als Getaufte unter die Nazi-Ras­sen­ge­set­ze fie­len, ist gross. Sie und ihre Nachkom­men find­en aber bis heute kaum Aufmerk­samkeit, auch nicht in der Seel­sorge. Nicht wenige dieser drit­ten Gen­er­a­tion der Chris­ten jüdis­ch­er Herkun­ft gehen wieder in jüdis­che Gemein­den, was teil­weise ein­er aufwendi­gen Kon­ver­sion bedarf. Diese Gle­ichgültigkeit gilt für die Nachkom­men der Täter, die eben­falls fast alle in der zweit­en Gen­er­a­tion noch kirch­lich sozial­isiert wur­den. Man hielt und hält sich gern ans Prinzip «vergeben und vergessen», das mit der Opfer­the­olo­gie begrün­det wird. Jüdis­che Gemein­den bieten da ein anderes Umfeld.


Wie kön­nte die Kirche zur Ver­ar­beitung beitra­gen und helfen, die Weit­er­gabe von Trau­ma­ta zu unter­brechen?
Das The­ma müsste zuerst ein­mal wahrgenom­men wer­den. Es gehört in die Aus­bil­dung der Seel­sor­gen­den, möglichst zusam­men mit Trau­mafach­per­so­n­en. Es geht ja nicht nur um Shoah­be­trof­fene. Alle Trau­ma­tisierten und von Gewalt Betrof­fe­nen – manche haben ja auch kein Trau­ma davonge­tra­gen – geben ihren Ruck­sack weit­er!

*TTT: Abkürzung für «Trans­gen­er­a­tional Trans­mis­sion of Trau­ma­ta», die Weit­er­gabe von Trau­ma­ta über die Gen­er­a­tio­nen.
**Tamach: Von Psy­chologin­nen 1988 in Zürich gegrün­dete Beratungsstelle für Holo­caustüber­lebende und Ange­hörige.

Marie-Christine Andres Schürch
mehr zum Autor
nach
soben