Reden und Zuhö­ren – Bal­sam für die Seele

  • Jähr­lich zur Woche der Reli­gio­nen (6.–14. Novem­ber) erscheint die inter­re­li­giö­se Zei­tung «zVi­si­te».
  • Die aktu­el­le Aus­ga­be wid­met sich dem The­ma «Das Wort in den Religionen».
  • Wer sei­ne Not in Wor­te fasst, kann Frie­den fin­den, mit sich, mit ande­ren und mit Gott. Ein Inter­view mit der Seel­sor­ge­rin Rita Inder­bit­zin und dem Psy­cho­the­ra­peu­ten Dani­el Hell.

Was macht ein gutes Seelsorge­gespräch aus?
Rita Inder­bit­zin:
Wenn es etwas aus­löst und zum Posi­ti­ven ver­än­dert. Das ist nicht immer sofort sicht­bar. Manch­mal braucht es län­ge­re Pro­zesse, damit Men­schen auf ihrem Weg wei­ter­kom­men.
Dani­el Hell: In der Psy­cho­the­ra­pie ist es nicht anders. Eine gute Sit­zung bringt das Pro­blem zur Spra­che. Wich­tig ist, dass sich Pati­en­ten in ihrer Not und ihren Schwierigkei­ten ver­stan­den füh­len. Ein Wort, das am Men­schen vor­bei­zielt, hat kei­ne Kraft. Die­se ent­fal­tet sich, wenn das Wort die See­le trifft. In der Psy­cho­the­ra­pie geht es nicht wie bei einem Bein­bruch um etwas, das mecha­nisch behan­delt wer­den kann. Viel­mehr muss das inne­re Erle­ben des Men­schen zur Spra­che kom­men. Wenn dies gelingt, kön­nen die Pati­en­ten bes­ser mit sich ins Rei­ne kommen.

Das rich­ti­ge Wort im rich­ti­gen Moment fin­det sich nicht immer.
Dani­el Hell: Ja, so ist das. Wor­te kön­nen auch ver­let­zen oder beschä­men, etwa wenn The­ra­peu­ten in Wun­den wüh­len oder von oben he­rab Rat­schlä­ge ertei­len. Damit das Gespräch stim­mig ist, soll­ten The­rapeutinnen spü­ren, was das Ge­genüber anzu­neh­men bereit ist. Der rich­ti­ge Moment spielt eine Rol­le. Wenn jemand tief gekränkt ist, nützt es nichts, Gesche­he­nes zu rela­ti­vie­ren. Letzt­lich ist das Ziel der The­ra­pie, den Men­schen zu stärken.

[esf_wordpressimage id=34979 width=half float=right][/esf_wordpressimage]Rita Inder­bit­zin: Die­se Ermu­ti­gung geschieht auch in der Seel­sor­ge. Im Gespräch kön­nen die Hilfesuchen­den ihre Gedan­ken neu sor­tie­ren, das Erleb­te und die Emo­tio­nen in Wor­te fas­sen. Sie kön­nen ihren Ge­danken frei­en Lauf las­sen und neue Lösungs­an­sät­ze ent­wickeln. Als rö­­misch-­ka­tho­li­sche Seel­sor­ge­rin ver­suche ich, Wege auf­zu­zei­gen und Hoff­nung zu ver­mit­teln. Oft­mals sagt ein Gegen­über am Schluss: «Dan­ke, dass Sie mir zuge­hört und mich ernst genom­men haben.»

Kann man sagen: Es ist eine Gna­de, wenn ein Gespräch gelingt und die Wor­te ankom­men?
Rita Inder­bit­zin: Ja, manch­mal stau­ne ich, was ein Gespräch auszulö­sen ver­mag.
Dani­el Hell: Als jun­ger Arzt hat­te ich das Gefühl, ich müs­se früh gu­te Rat­schlä­ge ertei­len und Deutun­gen lie­fern. Dabei kommt es zu­allererst auf das Zuhö­ren an. Das heisst: mög­lichst offen und empa­thisch zu sein, um den lei­den­den Mit­men­schen bes­ser zu ver­ste­hen. Das ermög­licht eine geziel­te­re Be­handlung. Wenn nach und nach ein tie­fes Ver­trau­ens­ver­hält­nis ent­steht, das zum Behand­lungs­er­folg bei­trägt, ist das ein Geschenk.

Den Schmerz in Wor­te fas­sen, kann hei­lend wir­ken. Was ist mit Hei­lung gemeint?
Dani­el Hell:
Als Psy­cho­the­ra­peut spre­che ich nicht von reli­gi­ös kon­notierter Hei­lung, son­dern davon, dass es Men­schen woh­ler wird oder es ihnen gesund­heit­lich bes­ser geht. Die­se Ent­wick­lung wird erschwert, wenn jemand mit dem Gesche­he­nen hadert oder über­fordert ist, sein Pro­blem anzuneh­men. Über­win­dung braucht Einge­ständnis. Dazu ist aber oft Zeit und Geduld nötig.

Rita Inder­bit­zin: Im Chri­sten­tum spricht man von Heil und bezeich­net Jesus als Hei­land. So ver­ste­he ich mich als Anwäl­tin der christli­chen Hoff­nung, dass Hei­lung mög­lich ist – wenn nicht jetzt, so doch als mög­li­cher Licht­blick und Fern­ziel. Die Sehn­sucht nach Heil ist oft spür­bar. Das zeigt sich etwa, wenn mich man­che nach dem Gespräch fra­gen, ob wir noch zusam­men be­ten und ob ich ihnen einen Segen auf den Weg mit­ge­ben könne.

Wel­che Rol­le spie­len die Gefüh­le bei Gesprä­chen?
Rita Inder­bit­zin:
Bei uns in der Bahn­hofkirche steht immer eine Schach­tel mit Papier­tüch­lein, die rege ge­braucht wer­den. Trä­nen und Trau­er haben in der Seel­sor­ge ihren Platz und ihre Zeit, genau­so wie Freu­de und Lachen.

[esf_wordpressimage id=34980 width=half float=left][/esf_wordpressimage]Dani­el Hell: Gefüh­le sind sehr wich­tig. Bei Depres­sio­nen etwa kön­nen Men­schen nicht mehr inten­siv füh­len. Es ist nicht die gros­se Traurig­keit, die bela­stet, wie vie­le fälsch­licherweise glau­ben, son­dern der Ver­lust von Gefüh­len. Schwer de­pressive Men­schen kön­nen nicht mehr wei­nen und wären froh, wür­den die Trä­nen wie­der flies­sen. Ge­fühle sind in die­ser depres­si­ven Lee­re wie Inseln. In der The­ra­pie sind die­se Inseln wich­tig. Sie sol­len nicht ver­rin­gert, son­dern akzep­tiert werden.

Der Beicht­stuhl wird immer sel­te­ner besucht. Wie suchen Men­schen heu­te nach Ver­söh­nung mit Gott, mit sich und ande­ren?
Rita Inder­bit­zin:
Das Gebet, die Ver­söhnungsbitte, das Anzün­den einer Ker­ze und das Kreuz­zei­chen sind Ritua­le, die hel­fen und erleich­tern. Aber auch die Beich­te ist nach wie vor gefragt. Ande­re bevor­zu­gen ein Seel­sor­ge­ge­spräch, man­che auch eines von Frau zu Frau.

Dür­fen auch Anders­gläu­bi­ge zur Beich­te kom­men?
Rita Inder­bit­zin:
Die Beich­te ist ein Sakra­ment. Die Abso­lu­ti­on, das Los­spre­chen von Sün­den, ist ans Prie­ster­amt gebun­den. Es kommt vor, dass etwa Refor­mier­te danach fra­gen. Vie­le Prie­ster sind dem ge­genüber offen. Wir haben in der Bahn­hof­kir­che aller­dings kei­ne Prie­ster. Wir bie­ten an, zum Ab­schluss zu beten oder um Versöh­nung zu bitten.

Wel­chen Stel­len­wert hat Verge­bung in der Psy­cho­the­ra­pie?
Dani­el Hell:
Die Ver­ge­bung von Schuld ist ein reli­giö­ses Kon­zept. Die Psy­cho­the­ra­pie ver­sucht, Men­schen, die sich ernied­rigt, gekränkt oder beschämt füh­len, aus ihrer Ver­let­zung, Ver­bit­te­rung und ihren Rache­ge­füh­len her­aus­zu­füh­ren, so dass sie Frie­den mit sich fin­den. Da steht das eige­ne Wohl­be­fin­den im Vordergrund.

Rita Inder­bit­zin: Wenn wir ande­re um Ver­ge­bung bit­ten, geschieht dies im Ver­trau­en, dass Gott da ist, uns ger­ne hat und uns ver­gibt, egal wel­chen Mist wir ange­stellt haben. Er öff­net uns so die Chan­ce, den Weg wei­ter­zu­ge­hen. Am Schluss eines Seel­sor­ge­ge­sprächs ermuti­ge ich die Rat­su­chen­den häu­fig, mit Freu­de ins Leben zu gehen, im Ver­trauen dar­auf, dass sie von Gott an­genommen sind.

Dani­el Hell: Man muss zwi­schen Schuld und Schuld­ge­füh­len unter­scheiden. Bei der Beich­te geht es um Schuld, die man abla­den möch­te, in der Psy­cho­the­ra­pie um Schuld­gefühle, hin­ter denen manch­mal kei­ne Schuld steht. Sig­mund Freud ver­stand Schuld­ge­füh­le weitge­hend als neu­ro­ti­sches Problem.

Wün­schen Sie sich manch­mal, Men­schen von ihrer Schuld losspre­chen zu kön­nen?
Dani­el Hell:
Das steht mir nicht zu. Ich bin weder Prie­ster noch Rich­ter. Aber in einer The­ra­pie wer­den Wege gesucht, Schuld abzutragen.

Mit wem soll man bei Pro­ble­men reden: mit dem Psy­cho­the­ra­peu­ten, der Seel­sor­ge­rin oder mit dem Beicht­va­ter?
Dani­el Hell: Vie­les, das man frü­her im reli­giö­sen Kon­text sah, steht heu­te in einem säku­la­ren Licht. Men­schen suchen heu­te eher eine Psy­cho­the­ra­peu­tin als einen Seel­sorger auf. Die Moder­ne hat aber auch zu einer Ver­schie­bung der Pro­ble­me bei­getra­gen: weg von Schuld, hin zu Krän­kung und seeli­scher Ver­letzt­heit. Sowohl Psy­cho­the­ra­pie als auch Seel­sor­ge haben ihren Wert. Erste­re fokus­siert auf das Gesche­hen zwi­schen den Men­schen, wäh­rend Letz­te­re auch den Bezug zu Gott einschliesst.

Rita Inder­bit­zin: Ich erle­be immer wie­der, dass Men­schen spon­tan in die Bahn­hof­kir­che kom­men, um ih­re Gedan­ken zu ord­nen oder etwas abzu­la­den. Bei uns braucht man sich nicht anzu­mel­den, und man bleibt anonym.

Wel­che Ver­ge­hen und Feh­ler verge­ben Sie per­sön­lich am leich­te­sten?
Dani­el Hell: All­täg­li­che. Igno­ranz, Miss­ach­tung und bös­wil­li­ge Be­merkungen tref­fen mich zwar, aber ich kann sie entschuldigen.

Rita Inder­bit­zin: Bei mir ist es ähn­lich. Wenn mich etwa ein Lastwa­gen haar­scharf über­holt, flu­che ich zunächst, schicke ihm aber nach­her einen Segen hin­ter­her, damit er heil ankommt. In schwie­ri­gen Situa­tio­nen braucht Ver­ge­bung je­doch Zeit, Raum und Offen­heit. Mir sel­ber fällt es leich­ter, zu ver­ge­ben, anstatt schlech­te Gefüh­le herumzutragen.

Marie-Christine Andres Schürch
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