Seelsorge Richtung «hinderzi»

Seelsorge Richtung «hinderzi»

  • Veroni­ka Scoz­zafa­va arbeit­et als Seel­sorg­erin seit knapp einem Jahr im Reuss­park in Nieder­wil AG. 
  • Viele Ihrer Bewohner­In­nen sind krank. Lei­den beispiel­sweise an der unheil­baren Krankheit Demenz. Eine seel­sorg­erische Her­aus­forderung, wenn man jeden Tag wieder bei «Null» begin­nen muss.
  • Zusam­men mit Ihrem reformierten Kol­le­gen betreut Veroni­ka Scoz­zafa­va fast 300 Bewohner­in­nen und Bewohn­er. 


Frau Scoz­zafa­va, Sie sind Seel­sorg­erin im Reuss­park. Kön­nen Sie uns Ihren Arbeit­sall­t­ag beschreiben?
Veroni­ka Scoz­zafa­va:
Span­nend, abwech­slungsre­ich und bere­ich­ernd. Jeden Tag lerne ich etwas Neues über die Bewohner­In­nen, über mich, und Gottes Präsenz in dieser Welt! Doch nun etwas detail­liert­er: Als erstes rufe ich die E‑Mails ab und schaue, ob es beson­dere Anliegen oder Vorkomm­nisse gegeben hat. Dann führt mich mein Weg in unsere wun­der­schöne Klosterkapelle, in der ich bei einem Gebet die Bewohner­in­nen und Bewohn­er und beson­deres auch das Pflegeper­son­al unter Gottes Schutz und Für­sorge stelle. Dann bitte ich den Heili­gen Geist, er möge mich auf meinem Weg durch den Reuss­park begleit­en und mich dor­thin führen, wo ich ger­ade am meis­ten gebraucht werde.

Sie arbeit­en auch mit demen­z­erkrank­ten Men­schen, was zeich­net diese Arbeit aus?
Je nach Fortschritt der Erkrankung sind ver­schiedene Bedürfnisse gefragt. Es gibt Bewohner­In­nen, die kön­nen sich dif­feren­ziert und zusam­men­hän­gend äussern. Bei anderen ist es wichtig, in kurzen und ein­fachen Sätzen zu sprechen. Wieder andere sprechen gar nicht und da sind Mimik, Nähe und Berührung wichtige Ele­mente.
Tra­gend sind Zeit und Geduld. Manch­mal sitze ich ein­fach nur da, halte die Hand und bin ein­fach ganz im Sein mit dem Men­sch, der mir gegenüber ist. Doch so ruhig sich das auch anhören mag, die Präsenz ist hun­dert Prozent. Denn immer kann sich etwas bewe­gen, wer­den Gedanken wach und wollen in Worte gefasst wer­den. Gefüh­le wer­den aus­ge­drückt, vielle­icht mit Weinen, Lachen, Zärtlichkeit, Aggres­sion oder Gesang. Das heisst für mich, stets bere­it zu sein, für das, was sich öffnet auch wenn es nur für eine ganz kurze Zeit ist. Denn in diesem gescheck­ten Zeit­fen­ster kann ich Kon­takt mit der Seele aufnehmen und ein kleines Licht hine­in­stellen.

Viele Gespräche haben die Bewohn­er beim Ihrem näch­sten Besuch wieder vergessen. Eine schwierige Auf­gabe?
Eigentlich finde ich das sehr schön. Denn es zeigt mir, was noch ungelöst, belas­tend und lebendig ist oder was das Herz erfreut. Bei ein­er Demen­z­erkrankung sind die Gedanken oft­mals Rich­tung «hin­derzi». Eine Frau erzählte mir immer wieder von ihrer schw­eren Kind­heit und wie sehr sie unter ihrem Vater gelit­ten hat, an sein­er Strenge und Lieblosigkeit. Sie hat­te jedoch einen guten und für­sor­glichen Mann geheiratet und war glück­lich mit ihm. Das Bild von ihrem Ehe­mann nahm immer mehr Patz ein und irgend­wann erwäh­nte sie ihren Vater nur noch am Rande. 

Men­schen mit ein­er Demen­z­erkrankung sind oft starken Stim­mungss­chwankun­gen aus­ge­set­zt, wie gehen Sie damit um?
Demen­z­erkrank­te Men­schen sind sehr gefühls­be­tont und direkt. Wenn es zu laut ist, oder Unstim­migkeit­en vorherrschen, wenn irgen­det­was sie plagt, sind die Reak­tio­nen unmissver­ständlich. Dann braucht es Geduld und Empathie. Richtet sich Wut und Aggres­sion gegen mich,  muss ich warten. Ich ver­suche nach ein­er hal­ben Stunde nochmals den Kon­takt aufzunehmen. Und wenn das nicht geht, gibt es bes­timmt wieder neue Gele­gen­heit­en! Es muss nichts erzwun­gen wer­den. Es richtet sich ja nicht gegen mich per­sön­lich, son­dern ich bin in diesem Moment ein­fach der «Blitz­ableit­er». Weniger gut sind Trauer und Trä­nen abz­u­fan­gen, weil die Seele bis ins Inner­ste erschüt­tert und ver­let­zt ist. Da find­en sich oft keine Worte, son­dern es gilt mitzu­tra­gen und zu zeigen: Ich bin da und sehe den Schmerz.

Kön­nen Sie uns ein Beispiel dazu nen­nen?
Eine Frau zeigte mir begeis­tert ein Fotoal­bum. Da sind alle Geschwis­ter zu sehen. Sie erzählt voller Freude, wie gut sie es alle zusam­men haben. Sie erzählt von ihrem Eltern­haus und der glück­lichen Kind­heit. Plöt­zlich verfin­stert sich ihr Blick: «Das ist mein Schwa­ger. Ja, er hat ja dieses grosse Fest organ­isiert. Und er hat mir gesagt, meine Eltern sind gestor­ben… Ich habe keine Eltern mehr, sie sind let­zte Woche ver­stor­ben! Ich bin so allein…» und sie begin­nt zu weinen und weiss nicht mehr ein und aus.

Momen­tan beteiligt sich der Reuss­park an der Studie «Musik­spiegel» der Uni­ver­sität Zürich. Wie stark machen Sie bei Ihrer seel­sorg­erischen Arbeit von der Musik Gebrauch?
Musik ist ein wichtiger Teil in mein­er Arbeit. Musik öffnet den Zugang zur Seele. Wort und Ton ergeben viel mehr als ein ganzes. Musik führt uns in eine andere Wirk­lichkeit. Eine Wirk­lichkeit, in der wir leicht, mutig, ver­let­zlich, dankbar, fliessend sein dür­fen, zart und fein. Sie lässt uns träu­men und zugle­ich wach­sein. Musik hil­ft uns, unseren Emo­tio­nen freien Lauf zu geben. Sie reinigt, heilt und stärkt.

Machen Sie spezielle Ange­bote für Men­schen mit ein­er Demen­z­erkrankung? Ger­ade jet­zt während der Coro­n­azeit?
Was ich im Moment anbi­eten kann, sind Gottes­di­en­ste auf den Wohn­grup­pen. Diese per­sön­lichen Feiern lassen Raum für das indi­vidu­elle Geschehen. Ich kann mich ganz auf die Men­schen ein­lassen und auf Äusserun­gen und Gesten unmit­tel­bar einge­hen. Viele haben Beziehun­gen zu bekan­nten Gebeten, wie das «Vater unser» oder das «Gegrüsst seist du Maria». Schutzen­gel­ge­bete oder ein­fache Nacht­ge­bete wer­den oft erkan­nt und mit­ge­betet. Eben­so tra­di­tionelle Kirchen­lieder wie «Gross­er Gott wir loben dich» oder «Maria zu lieben» weck­en Erin­nerun­gen und öff­nen einen Heili­gen Boden. Ich arbeite auch gerne mit ein­fachen Bildern, in denen das Wesentliche auf den ersten Blick erkennbar ist. Mit Far­ben, Düften und Musik lassen sich die Sinne öff­nen und damit auch die Seele.

Cornelia Suter
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