Vom Kirchenprojekt zum ​internationalen Netzwerk
Clara Ofelia Archila, Ladeninhaberin aus Guatemala, startete ihr erstes Geschäft mit einem Kleinstkredit von umgerechnet rund 120 Franken. Mittlerweile betreibt sie drei Läden, in denen sie sogar Mitarbeitende einstellen konnte.
Bild: © Opmeer Reports

Vom Kirchenprojekt zum ​internationalen Netzwerk

«Unser Geld soll Gutes tun und für globale Gerechtigkeit sorgen!», dachten sich junge Mit­glieder der Kirchen vor 50 Jahren.

So kam es zur Gründung von Oikocredit, einer Genossenschaft, die weltweit Menschen mit geringem Einkommen durch Investitionen unterstützt. Wir schauen zurück auf die Entstehung der Idee, auf die Werte, die dahinterstehen, erklären, wie das System funktioniert und nehmen Kritik daran in den Blick. Antworten auf unsere Fragen bekommen wir von Vanessa Morandeira, Mediensprecherin von Oikocredit für die Nordwestschweiz.

Kön­nen Sie uns anhand eines Beispiels erk­lären, wie Oiko­cre­d­it funk­tion­iert?
Vanes­sa Moran­deira: Gehen wir von fol­gen­dem Szenario aus: Ich als Pri­vat­per­son habe 1000 Franken. Statt sie auf ein Sparkon­to zu leg­en, entschei­de ich mich dazu, eine Beteili­gung bei Oiko­cre­d­it zu kaufen. Oiko­cre­d­it ver­wen­det das Geld dann für ein Pro­jekt in einem sein­er Fokus­län­der. Konkret geht das Geld beispiel­sweise an eine Mikro­fi­nanzin­sti­tu­tion in Guatemala, die kleine Kred­ite an einkom­menss­chwache Men­schen vergibt. Das kann eine Frau sein, wie Clara Ofe­lia Archi­la, die ihren eige­nen Laden eröff­nen wollte und dafür eine Anfangsin­vesti­tion von weni­gen Hun­dert Franken gebraucht hat. Über die Jahre hat sich diese Investi­tion ins Land mul­ti­pliziert, weil sie ihr Geschäft ausweit­en und Mitar­bei­t­ende ein­stellen kon­nte.

Oiko­cre­d­itwurde vor 50 Jahren von Kirchen als öku­menis­che Genossen­schaft gegrün­det. Wie ent­stand die Idee, und wieso waren es Kirchen, die das Pro­jekt ini­ti­iert haben?
Kirchen und kirchen­na­he Insti­tu­tio­nen spiel­ten schon immer eine entschei­dende Rolle im Bere­ich der Entwick­lungs­fi­nanzierung. Die Idee ent­stand 1968 im Kon­text der inter­na­tionalen Friedens­be­we­gung. Junge, engagierte Kirchen­mit­glieder waren der Überzeu­gung, dass ein Weg geschaf­fen wer­den muss, um das Ver­mö­gen ihrer Kirchen für Men­schen einzuset­zen und nicht gegen sie. Sie woll­ten ver­hin­dern, dass das Ver­mö­gen ihrer Kirchen Zwecke wie den Viet­namkrieg oder die Apartheit in Südafri­ka finanziert. In diesem Kon­text ent­stand die Idee, Geld an Per­so­n­en oder Organ­i­sa­tio­nen zu vergeben, die anson­sten vom glob­alen Finanzsys­tem aus­geschlossen waren und nur schw­er an Kred­it kamen.

So funk­tion­iert Oikokred­it

Oiko­cre­d­it ist eine Genossen­schaft, die in 33 Län­dern im Glob­alen Süden mit niedrigem oder mit­tlerem Einkom­men tätig ist. Im Fokus ste­hen Pro­jek­te, die das Leben der Men­schen vor Ort verbessern sollen. Oiko­cre­d­it vergibt Kred­ite an Part­neror­gan­i­sa­tio­nen oder beteiligt sich mit Eigenkap­i­tal an Sozialun­ternehmen. Auch insti­tu­tionelle Anlegerin­nen und Anleger engagieren sich – vielfach mit dem Ziel, Kap­i­tal wirkung­sori­en­tiert und trans­par­ent einzuset­zen. Finanziert wer­den diese Vorhaben durch rund 46 000 Anlegerin­nen und Anleger, mehrheitlich aus Europa. Seit 2023 ist der Erwerb von Genossen­schaft­san­teilen auch für Pri­vat­per­so­n­en möglich, etwa in Schweiz­er Franken.

Vanes­sa Moran­deira, Medi­en­sprecherin von Oiko­cre­d­it, im Inter­view über die Wurzeln und die Zukun­ft von Oiko­cre­d­it. © zVg

Kön­nen Sie das Konzept noch etwas ver­tiefen?
Der Grundpfeil­er dieser Ini­tia­tive waren und sind die öku­menis­chen Werte Frieden, Sol­i­dar­ität und Bewahrung der Schöp­fung. Es geht um Gerechtigkeit und darum, dass let­ztlich alle Men­schen ein Leben in Würde führen kön­nen. Dabei spielt der Gedanke der Sol­i­dar­ität eine wichtige Rolle. Wir glauben: Wenn wir die Sit­u­a­tion der ganzen Gemein­schaft verbessern, hat das am Ende auch pos­i­tive Auswirkun­gen für jede und jeden Einzel­nen.

Welche Rolle spie­len die lokalen Part­ner­in­nen und Part­ner in der Weit­er­en­twick­lung der Oiko­cre­d­it-Strate­gie?
Sie sind für uns zen­tral. Deshalb beze­ich­nen wir sie auch als Part­ner und nicht als Kun­den. Es geht um Zusam­me­nar­beit. In der Aus­rich­tung unser­er Arbeit und in der Entwick­lung von Ange­boten sind sie enorm wichtig, weil sie vor Ort sind, die Sit­u­a­tion ken­nen und wis­sen, was die Men­schen brauchen. Wir kön­nten uns nicht vorstellen, unsere Arbeit anders zu machen als über diese Zusam­me­nar­beit mit den Part­neror­gan­i­sa­tio­nen.

Oiko­cre­d­it vergibt nach eige­nen Angaben Kred­ite an «Unternehmen, die wirtschaftlich benachteiligte Men­schen unter­stützen». Wie wird das über­prüft und sichergestellt?
Das entschei­dende Kri­teri­um für die Organ­i­sa­tio­nen, mit denen wir zusam­me­nar­beit­en ist: Sie müssen unsere sozialen Werte teilen. Wir arbeit­en beispiel­weise nicht mit Organ­i­sa­tio­nen zusam­men, die rein gewin­nori­en­tiert sind. Nicht, weil wir das verurteilen, son­dern weil das nicht unser Geschäftsmod­ell ist. Ist diese Hürde genom­men, arbeit­en wir mit soge­nan­nten ESG Score Cards. Sie sind ein In­strument, mit dem Unternehmen anhand dreier Kri­te­rien bew­ertet wer­den: Ökolo­gie, Soziales und Unternehmensführung. Dabei wird geprüft, ob die Organ­i­sa­tion umwelt­fre­undlich wirtschaftet, gute Arbeits­be­din­gun­gen herrschen oder welche Gremien und Entschei­dungs­grup­pen vorhan­den sind. Aus den vergebe­nen Punk­ten ergibt sich ein Score für den jew­eili­gen eventuellen Part­ner.

Kön­nen die Organ­i­sa­tio­nen Defizite in einem Bere­ich durch einen anderen aus­gle­ichen, also beispiel­weise sehr umweltschädlich sein, wenn sie dafür die Mitar­bei­t­en­den gut behan­deln?
Für uns geht es eher darum, in welchem Bere­ich die Organ­i­sa­tio­nen tätig sind, und so leg­en wir mehr Wert auf das eine oder andere. Han­delt es sich um eine Agrarko­op­er­a­tive, dann sind natür­lich ökol­o­gis­che Kri­te­rien matchentschei­dend. Wenn es um eine Organ­i­sa­tion im Bere­ich Mikro­fi­nanz geht, dann sind für uns das Soziale und die Unternehmensführung wichtig. Allerd­ings gibt es Wert­gren­zen eines Grund­stocks, die nicht unter­schrit­ten wer­den dür­fen.

«Sol­i­dar­ität statt Almosen» ist die Über­schrift zur Jubiläum­skom­mu­nika­tion. Kön­nen Sie das nochmals genauer erk­lären?
Das bedeutet: Wir vergeben keine Spenden. Wir möcht­en unsere Part­ner und End­kred­it­nehmerin­nen dazu ermächti­gen, am glob­alen Finanz­markt teilzuhaben. Es gibt berechtigte andere Sit­u­a­tio­nen, wie zum Beispiel Kata­strophenhilfe, in denen Spenden sin­nvoll sind. Wir streben eine nach­haltige Entwick­lung an, die aus ein­er Anfangszün­dung entste­hen kann. Punk­tuelle Spenden lösen unser­er Mei­n­ung nach akute Prob­leme, aber sind keine langfristi­gen Lösun­gen.

Trotz­dem wurde im Jahr 2022 von NGOs Beschw­erde gegen Oiko­cre­d­it ein­gere­icht. Der Vor­wurf: Es wurde weit­er in kam­bod­sch­a­nis­che Mikro­fi­nanzin­sti­tute investiert, obwohl Men­schen­rechts­grup­pen und sog­ar eine von Oiko­cre­d­it selb­st unter­stützte Studie gezeigt haben, dass mehr als 160 000 Men­schen ihr Land ver­loren haben, weil sie es für Kred­ite als Sicher­heit hin­ter­legen mussten, die Schulden aber nicht zurück­zahlen kon­nten. Wie reagiert Oiko­cre­d­it auf diese Kri­tik?
Wir sind seit 2003 in Kam­bod­scha präsent. Eines der grossen Prob­leme im Land ist der über­sät­tigte Mikro­fi­nanz­markt. Anfang der 2000er-Jahre kamen viele Akteure, ger­ade aus dem Bere­ich Entwick­lung­shil­fe, die helfen woll­ten, das Land aufzubauen. Doch bald wurde der Markt von kom­merziellen Anbi­etern als lukra­tives Geschäft ent­deckt. Inzwis­chen sind auch Kred­ithaie über den informellen Sek­tor mit eingestiegen. Seit 2022 sind Mikro­fi­nanzin­sti­tu­tio­nen verpflichtet, Kred­ite unverzüglich an dieses Kred­it­büro zu melden. Da informelle Geld­ver­lei­her allerd­ings nicht in dieses Sys­tem einge­bun­den sind, ist es bis heute fast unmöglich, umfassend abzuk­lären, wer wie viele Kred­ite aufgenom­men hat und ger­ade abbezahlt. Für uns war die Frage, wie wir auf diese verän­derten Mark­tbe­din­gun­gen reagieren soll­ten, schwierig. Ein­er­seits haben wir uns über die Jahre nach und nach zurück­ge­zo­gen. Aktuell arbeit­en wir noch mit fünf Part­nern in Kam­bod­scha zusam­men, mit denen wir laufende Verträge haben. Ander­er­seits kann man den Markt nicht ein­fach den Finanzhaien über­lassen. Man trägt allerd­ings mit sein­er Präsenz auch zur Über­sät­ti­gung des Mark­tes bei. Seit wir in Kam­bod­scha aktiv sind, haben wir sehr strik­te Anforderun­gen und Regle­mente, was die Sorgfalt­spflicht und den Kun­den­schutz bet­rifft, die für alle unsere Part­ner verbindlich sind.

Was die Beschw­er­den bet­rifft, war uns von Anfang an wichtig, den Dia­log ernst zu nehmen. Wir haben den Kon­sul­ta­tion­sprozess, der von der Nationalen Kon­tak­t­stelle (NKS) der OECD ange­boten wurde, begrüsst, sind offen darauf einge­gan­gen und haben uns über län­gere Zeit mit den involvierten NGOs aus­ge­tauscht. Dieser Dia­log ist inzwis­chen abgeschlossen. Die abschliessende Erk­lärung der NKS, in der sie alle Erken­nt­nisse und Ergeb­nisse zusam­men­fasst, ste­ht noch aus.

Wenn Sie heute Men­schen für die Idee der ethis­chen Gel­dan­lage gewin­nen möcht­en – was sagen Sie ihnen, warum es sich lohnt?
Weil Geld immer in irgen­dein­er Form eine Wirkung erzielt. Nichts zu tun bedeutet nicht, dass man damit nichts bewirkt. Geld auf dem Sparkon­to wird von den Banken auch weit­er­ver­liehen. Unter Umstän­den finanziert man damit Waf­fen oder Kinder­ar­beit. Man weiss es nicht. Was ethis­che Gel­dan­la­gen wie Oiko­cre­d­it bieten, ist die Trans­parenz, dass die Anlegerin­nen und Anleger wis­sen, wohin ihr Geld geht. Ich glaube, junge Leute sind heutzu­tage unheim­lich inter­essiert und engagiert. Dass Oiko­cre­d­it ver­mehrt in kli­marel­e­vante Pro­jek­te und Ini­tia­tiv­en investieren möchte, freut mich. Das ist, zurecht, die Sorge unser­er Zeit, und darum sind wir genau­so rel­e­vant wie bei unser­er Grün­dung vor 50 Jahren.

Leonie Wollensack
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