«Eine Herausforderung für die Gesellschaft»

«Eine Herausforderung für die Gesellschaft»

  • Aus­nahme­si­t­u­a­tio­nen wie die Coro­na-Pan­demie zeigen, wo das Schweiz­er Sozial­sys­tem Lück­en aufweist. Das sagt Fabi­enne Not­ter, Geschäft­slei­t­erin der Car­i­tas Aar­gau.
  • Eine der Her­aus­forderun­gen von Coro­na beste­ht darin, dass nun ein ganz neues Seg­ment von Men­schen von Armut betrof­fen ist.
  • Im Inter­view mit Hor­i­zonte erk­lärt Fabi­enne Not­ter, woran man Armut erken­nt und warum der Kampf dage­gen let­ztlich allen zu Gute kommt.

Fabi­enne Not­ter, im Früh­ling erhielt die Car­i­tas einen grossen Betrag aus der Glücks­kette-Samm­lung «Coro­na-Hil­fe Schweiz». Weshalb soll ich der Car­i­tas Aar­gau trotz­dem eine Wei­h­nachtsspende machen?
Fabi­enne Not­ter: Die Glücks­kette-Spenden an die Car­i­tas sind sehr hil­fre­ich. Ich bin froh, wurde die Samm­lung fürs Inland gemacht. Das Geld ver­wen­den wir für Direk­thil­fe im Rah­men unser­er Sozial­ber­atung, die Ver­gabe ist an strenge Aufla­gen gebun­den. So prof­i­tieren nur Leute davon, deren Not­lage in engem Zusam­men­hang mit der Coro­na-Pan­demie ste­ht. Die Beträge sind gedeck­elt, so dass wir max­i­mal 1000 Franken pro Per­son oder 3000 Franken pro Fam­i­lie auszahlen kön­nen. Die Direk­thil­fe ist immer an ein Beratungs­ge­spräch gebun­den. Die Glücks­kette-Gelder wer­den in naher Zukun­ft aufge­braucht sein, die zeit­in­ten­siv­en Beratungs­ge­spräche und die Direk­thil­fe sind jedoch weit­er nötig, der Bedarf dürfte sog­ar noch zunehmen. Die Car­i­tas Aar­gau ist daher froh um jede Spende. 

Verze­ich­net die Car­i­tas Aar­gau eine Zunahme an Men­schen, die Hil­fe suchen?
Ja, ganz klar. Bere­its im Okto­ber 2020 haben wir auf den Kirch­lichen Regionalen Sozial­dien­sten die Gesamtzahl der sub­sidiären Sozial­ber­atun­gen vom let­zten Jahr über­schrit­ten.

Sind laufende Pro­jek­te der Car­i­tas durch Coro­na gefährdet? 
Im Ver­gle­ich zum Lock­down vom Früh­ling ist die Sit­u­a­tion jet­zt ein­fach­er. Wir ver­suchen, die Pro­jek­te anzu­passen, so dass sie weit­er­laufen kön­nen. Nehmen wir als Beispiel die «Femmes-Tis­che», wo Frauen sich aus­tauschen und ver­net­zen. Diese Tre­f­fen find­en jet­zt ver­mehrt dig­i­tal statt. Das Auf­gleisen solch­er Anpas­sun­gen braucht zwar eben­falls wieder Zeit und Geld. Doch es ist wertvoll, dass dieser Anschluss beste­hen bleibt, damit die Frauen nicht isoliert sind, son­dern die schwierige Sit­u­a­tion gemein­sam meis­tern kön­nen.

Mit welchen Prob­le­men kämpfen Men­schen, die eine Sozial­ber­atung auf­suchen?
Prob­leme, die unsere Klien­ten in dieser Krise vor allem beschäfti­gen, sind finanzielle Eng­pässe und die Angst, Sozial­hil­fe beziehen zu müssen. Dazu kommt – bei Men­schen mit Migra­tionsh­in­ter­grund – die Angst, wegen Sozial­hil­febezug in der Aufen­thalts­be­wil­li­gung zurück­gestuft zu wer­den. Momen­tan find­en viele Angestellte aus der Gas­tro- oder Reini­gungs­branche den Weg zu uns. Sie arbeit­en häu­fig in unsicher­er Anstel­lung, im Stun­den­lohn oder auf Abruf. Mit Beginn der Pan­demie fiel ihr Einkom­men zu einem grossen Teil weg.

Ein starkes Zeichen setzen

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Am 12. Dezem­ber 2020 ist es soweit: «Eine Mil­lion Sterne» wer­den wieder für Sol­i­dar­ität mit Armuts­be­trof­fe­nen in der Schweiz leucht­en. Ein starkes Zeichen zu set­zen, war noch nie so wichtig! Mit «Eine Mil­lion Sterne» set­zen wir jedes Jahr ein starkes Sig­nal der Sol­i­dar­ität mit Men­schen, die kaum Geld zum Leben haben. Doch die Coro­na-Krise hat nicht nur Armuts­be­trof­fene hart getrof­fen, son­dern auch solche Men­schen, die stets auf der sicheren Seite waren. Unsere Sol­i­dar­ität ist also gefragter denn je. Gemein­sam set­zen wir mit einem Lichter­meer ein Zeichen gegen Armut in der Schweiz – dig­i­tal oder an den angegebe­nen Orten.

Welche Entwick­lung zeich­net sich für die kom­menden Monate ab?
Men­schen, die vorher schon Mühe hat­ten durchzukom­men, geri­eten wegen Coro­na in akute Not. Doch es zeich­net sich ab, dass wegen der Pan­demie ein neues Seg­ment von Men­schen plöt­zlich von Armut betrof­fen ist. Kun­stschaf­fende zum Beispiel oder Leute aus der Event­branche. Da wird eine grosse Her­aus­forderung auf die Gesellschaft zukom­men. Das einzig Gute daran scheint mir, dass die Hemm­schwelle gesunken ist, Hil­fe anzunehmen.

Wie kann die Gesellschaft diese Her­aus­forderung ange­hen?
Die Schweiz hat ein gut funk­tion­ieren­des Sozial­sys­tem. Aus­nahme­si­t­u­a­tio­nen wie die Coro­na-Pan­demie zeigen aber, wo das Sys­tem Lück­en aufweist. Um diese Lück­en zu schliessen, hoffe ich auch auf Lösun­gen durch Bund und Kan­tone. Denn dass die Grund­ver­sorgung gewährleis­tet ist und die Gesellschaft physisch und psy­chisch gesund bleibt, ist nicht bloss ein soziales Anliegen, son­dern auch ökonomisch sin­nvoll.

Von Armut Betrof­fene zeigen ihre Not gegen Aussen meist nicht. Welche Anze­ichen gibt es? Und wie unter­stützt man Armuts­be­trof­fene im Bekan­ntenkreis am besten? 
Leute in der Schweiz ver­suchen meist, ihr Gesicht zu wahren. Ein Anze­ichen für Armut kann es sein, wenn die Leute nicht mehr am sozialen Leben teil­nehmen. So kann es sein, dass sie eine Ein­ladung nicht annehmen, aus Angst, sich eine Gegenein­ladung nicht leis­ten zu kön­nen. Nimmt man einen solchen Rück­zug wahr, plädiere ich dafür, das Tabuthe­ma vor­sichtig anzus­prechen. Man kann anbi­eten, Zeit miteinan­der zu ver­brin­gen oder mit den Kindern etwas zu unternehmen. Ein­fache, kleine Dinge. Meist ist es sin­nvoller und nach­haltiger, fach­liche und mon­etäre Hil­fe zu ver­mit­teln, statt sel­ber Geld zu geben. Zum Beispiel, indem man Men­schen auf die – oft sehr nieder­schwelli­gen – Ange­bote der Car­i­tas ver­weist.  

Marie-Christine Andres Schürch
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