1’002 Fälle sexuellen Missbrauchs identifiziert

1’002 Fälle sexuellen Missbrauchs identifiziert

  • Nach einem Jahr Forschungsar­beit liegen erste Ergeb­nisse vor.
  • Erstellt haben den Bericht Forschende des His­torischen Insti­tuts der Uni­ver­sität Zürich.
  • Auf­tragge­berin­nen waren die Schweiz­er Bischof­skon­ferenz, die Römisch-Katholis­che Zen­tralkon­ferenz und die Vere­ini­gung der Kon­ferenz der Ordens­ge­mein­schaften.

Für die Zeit seit den 1950 Jahren bis heute kon­nten die Forschen­den eine Zahl an sex­uellen Über­grif­f­en bele­gen, die deut­lich höher ist als bis­lang angenom­men: 1’002 Fälle mit 510 Beschuldigten und 921 Betrof­fe­nen. Die Fälle sind für die ganze Schweiz sowie für den gesamten Zeitraum der Unter­suchung belegt. Dabei sehen es die Forschen­den als «sehr wahrschein­lich, dass sich weit­ere Fälle iden­ti­fizieren lassen, wenn zusät­zliche Quel­lenbestände und Archive berück­sichtigt wer­den».

Spät aber umfassend

Im inter­na­tionalen Ver­gle­ich komme eine der­ar­tige Studie spät, hal­ten die Autorin­nen und der Autor fest, beto­nen aber gle­ichzeit­ig, dass dafür ein «aussergewöhn­lich umfassender Ansatz» ver­fol­gt wor­den sei, da sich die Studie auf alle Schweiz­er Insti­tu­tio­nen der katholis­chen Kirche beziehe.[esf_wordpressimage id=46181 width=half float=left][/esf_wordpressimage]

Die drei Auf­tragge­berin­nen der Studie – die Schweiz­er Bischof­skon­ferenz SBK, die Römisch-katholis­chen Zen­tralkon­ferenz RKZ und die Kon­ferenz der Ordens­ge­mein­schaften KOVOS – hat­te den Forschen­den ver­traglich voll­ständi­ge wis­senschaftliche Unab­hängigkeit, Forschungs- und Lehrfrei­heit zugesichert, zu der auch die freie Ein­sicht in kirch­liche Archive und Geheimarchive gehört. Die Forschen­den bestäti­gen nun im Bericht, dass sie unab­hängig und ohne Bee­in­flus­sung hät­ten arbeit­en kön­nen. Das Erzbis­tum Vaduz, das bis 1997 Teil des Bis­tums Chur war, habe sich an der Forschung nicht beteiligt. Inner­halb der Schweiz­er Lan­des­gren­zen hät­ten die Forschen­den die Zugänge zu den Archiv­en erhal­ten, mit ein­er Aus­nahme: der Nun­tiatur, der diplo­ma­tis­chen Vertre­tung des Pap­stes in der Schweiz. «Auf­grund von Bedenken bezüglich des diplo­ma­tis­chen Schutzes der Nun­tiatur wurde die Anfrage des Forschung­steams neg­a­tiv beant­wortet.» Eine Anfrage für einen Archivzu­gang beim Dikas­teri­um für die Glaubenslehre im Vatikan ste­he noch aus.

Die Pilot­studie in Zahlen

1’002 Fälle wur­den iden­ti­fiziert mit 510 Beschuldigten und 921 Betrof­fe­nen. 149 Beschuldigte kon­nten zwei oder mehr Betrof­fe­nen zuge­ord­net wer­den, bei 361 Beschuldigten ist sex­ueller Miss­brauch an ein­er Per­son nach­weis­bar. 39% der Fälle betr­e­f­fen Frauen, knapp 56% Män­ner, in 5% war das Geschlecht aus den Quellen nicht fest­stell­bar. Die Beschuldigten waren bis auf wenige Aus­nah­men Män­ner. Von den aus­gew­erteten Akten zeugten 74% von Miss­brauch an Min­der­jähri­gen (von Säuglin­gen bis zu jun­gen Erwach­se­nen), 14% betrafen Erwach­sene, in 12% liess sich das Alter nicht ein­deutig fest­stellen. Min­destens jed­er siebte Fall betraf also eine erwach­sene Per­son. Die Forschen­den gehen davon aus, dass die iden­ti­fizierten Fälle nur «die Spitze des Eis­bergs» darstellen.

Betroffene haben eine zentrale Rolle

Die Forschung basiert auf Recherchen in Archiv­en mit ein­er ersten Sich­tung der Doku­mente sowie auf Inter­views mit Betrof­fe­nen. Die bei­den Betrof­fe­nenor­gan­i­sa­tio­nen – IG-MikU in der Deutschschweiz und SAPEC in der franzö­sis­chsprachi­gen Schweiz – hät­ten in der Erforschung eine «zen­trale Rolle» gespielt. Betrof­fene hät­ten teil­weise ihre pri­vat­en Archive geöffnet und damit einen wichti­gen Abgle­ich zu den Quellen in kirch­lichen Archiv­en ermöglicht, so die Forschen­den. Sie beto­nen zudem die Rolle der Betrof­fe­nen, sex­uellen Miss­brauch in der Kirche über­haupt zu the­ma­tisieren: «Sie (die Betrof­fe­nen) waren es, die durch indi­vidu­elle Berichte, Zeug­nisse, Kla­gen oder Mel­dun­gen Ver­ant­wortliche der Kirche zum Han­deln zwan­gen».

«Ignorieren, verschweigen und bagatellisieren»

Anhand von 13 Fall­beispie­len gibt der Bericht konkrete Ein­blicke, wie sex­ueller Miss­brauch in der katholis­chen Kirche möglich wird und wie Ver­ant­wortliche mit Verge­hen und Ver­brechen umge­hen. «Ignori­eren, ver­schweigen und bagatel­lisieren» sei bis in die 2000er Jahre hinein ein Muster kirch­lich­er Ver­ant­wortlich­er um Umgang mit sex­uellem Miss­brauch gewe­sen. Das kön­nen die Forschen­den aus den Akten bele­gen. Ab dem 21. Jahrhun­dert sei der Umgang «kon­se­quenter». Von den 16 Bis­chöfen und Wür­den­trägern, die in diesem Zusam­men­hang mit Namen genan­nt wer­den, sind manche nicht mehr im Amt oder bere­its ver­stor­ben, andere weit­er­hin aktiv. Bei Let­zteren fall­en die Namen Kurt Koch und Markus Büchel auf. Kurt Koch, Kurienkar­di­nal und ehe­ma­liger Bischof von Basel, wer­den Ver­säum­nisse attestiert, in einem konkreten Fall sein­er Meldepflicht bei staatlichen und kirch­lichen Behör­den nicht nachgekom­men zu sein. Markus Büchel, Bischof von St. Gallen, hat­te laut dem Bericht einen Fall von seinem Vorgänger Ivo Für­er über­nom­men. Bei­de, Für­er und Büchel, beschäftigten einen beschuldigten Priester über Jahre in der Seel­sorge und verzögerten eine Behand­lung des Falls – ent­ge­gen den Empfehlun­gen sowohl des Fach­gremi­ums des Bis­tums als auch des Fach­gremi­ums der Bischof­skon­ferenz.

Quellen und Archive

Der Bericht zum Pilot­pro­jekt umfasst 135 Seit­en und wurde zwis­chen Mai 2022 und April 2023 von Forschen­den des His­torischen Insti­tuts der Uni Zürich erstellt. Der Öffentlichkeit präsen­tiert wurde er am 12. Sep­tem­ber 2023. Für die Erar­beitung wur­den 28 Archive kon­sul­tiert: die Archive und Geheimarchive aller sechs Schweiz­er Bistümer, des Fach­gremi­ums der SBK, der neu­tralen Anhörungskom­mis­sion CECAR, die Archive der Ordens­ge­mein­schaften Ein­siedeln, Kapuzin­er, Men­zin­gen und Saint-Mau­rice sowie einige Staat­sarchive. Ausser­dem wur­den fast zwei Dutzend Inter­views mit Betrof­fe­nen geführt.

Dass die demokratis­chen Struk­turen des staatskirchen­rechtlichen Teils der Katholis­chen Kirche in der Schweiz «in gewis­sen Fällen» die Muster von Ver­tuschen, Ver­schweigen und Ver­set­zen unterbinden kon­nten, habe sich «in den Quellen an eini­gen Stellen» gezeigt. Allerd­ings bleibt im Rah­men des Pilot­pro­jek­ts die Frage nach der Rolle der dualen Struk­tur weit­ge­hend offen. Sie zu klären wird als Auf­gabe der weit­eren Forschung benan­nt, ähn­lich wie die Frage nach der Rolle staatlich­er Behör­den.

Empfehlung einer unabhängigen Anlaufstelle

Zukün­ftig erforscht wer­den sollte laut Bericht ausser­dem das Umfeld der Ordens­ge­mein­schaften und Neuer Geistlich­er Gemein­schaften, die katholis­chen Vere­ine und Ver­bände wie Jung­wacht-Blau­r­ing, Min­is­tran­ten­pas­toral oder Katholis­ch­er Frauen­bund, die ander­ssprachi­gen Mis­sio­nen und die Priester­aus­bil­dung. Ange­sprochen wird auch das Feld der «Fidei-Donum»-Priester – Priester, die von Bistümern freigestellt wur­den, um im Aus­land in der Mis­sion tätig zu sein. Zu prüfen sei, inwiefern für diese Auf­gabe beschuldigte oder in der Schweiz gar strafrechtlich verurteilte Priester zur Ver­fü­gung gestellt wur­den, um sie weit­er­hin als Priester ein­set­zen zu kön­nen. In Bezug auf Betrof­fene empfehlen die Forschen­den, die Meth­ode der «Oral His­to­ry» weit­er zu ver­tiefen, bei der die Zeug­nisse und Erfahrun­gen von Opfern doku­men­tiert und in die Forschung ein­be­zo­gen wer­den. Emp­fohlen wird weit­er auch die Errich­tung ein­er unab­hängi­gen Anlauf­stelle für Betrof­fene und damit ver­bun­den ein öffentlich­er Aufruf an Betrof­fene, sich zu melden.

Die Forschung wird auf der Basis dieses Berichts weit­erge­führt. Bere­its im Juni dieses Jahres haben die drei Auf­tragge­berin­nen SBK, RKZ und KOVOS eine Weit­er­führung der Forschung und deren Finanzierung bis 2026 beschlossen. Die Forschen­den des His­torischen Insti­tuts der Uni Zürich haben den Auf­trag angenom­men.

Eva Meienberg
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