Wir beschrei­ten die Fläche

Wir beschrei­ten die Fläche

Es herrsch­te jene Atmo­sphä­re, in der berüh­ren­de Gedich­te ent­ste­hen. Denn der Stein, auf dem Tho­mas Jen­el­ten im Mai 2014 sass, befand sich in der Nähe des Wal­li­ser Dorfs Raron. Jenes Dorf, auf des­sen Berg­fried­hof der Dich­ter Rai­ner Maria Ril­ke seit 90 Jah­ren begra­ben liegt. Zudem ist seit dem Mit­tel­al­ter bekannt, dass es sich auf einem Stein sit­zend beson­ders gut nach­den­ken lässt. Anfang des 13. Jahr­hun­derts ver­fass­te der Min­ne­sän­ger Walt­her von der Vogel­wei­de so sei­ne berühmt gewor­de­nen Ver­se, die begin­nen mit der Zei­le: «Ich saz ûf eime steine…».Tho­mas Jen­el­ten sass also auf einem Stein. Er erin­nert sich, wie er ihn näher betrach­te­te: «Die Ober­flä­che des Steins war vol­ler Kri­stal­la­dern. Da ging mir der Satz auf: ‚wir gehen nicht mehr von a nach b, wir beschrei­ten die Flä­che.’»Ins Offe­ne wagen Der Satz wur­de die Anfangs­zei­le eines Gedichts in Tho­mas Jen­el­tens jüng­stem Gedicht­band «Stil­le Welt», der im ver­gan­ge­nen Jahr erschien. Der 56-jäh­ri­ge Theo­lo­ge, Seel­sor­ger und Lyri­ker ver­sam­melt dar­in Gedich­te, die mit ihrer schlich­ten Schön­heit Herz und Geist tref­fen. «Gedich­te brin­gen Ord­nung in mein Leben», sagt er. Dann erläu­tert er, was hin­ter dem Satz steckt, der ihm auf dem Stein bei Raron zufiel: «Mit zuneh­men­dem Alter kön­nen und müs­sen wir Men­schen nicht mehr vor­ge­ge­be­nen Ter­mi­nen und Pflich­ten nach­kom­men. Wir wagen uns ins Offe­ne, nicht Fest­ge­leg­te hin­aus.»Den Rhyth­mus verlangsamen Der Leit­ge­dan­ke die­ses Gedich­tes – den Schritt ins Offe­ne zu wagen und dabei zu akzep­tie­ren, was war und ist – traf in der Ent­ste­hungs­zeit des Buches auf Tho­mas Jen­el­tens beruf­li­che Situa­ti­on zu. Als die Gedich­te für «Stil­le Welt» ent­stan­den, wech­sel­te der lang­jäh­ri­ge Gemein­de­lei­ter der Pfar­rei Peter und Paul in Aar­au sei­ne Stel­le. «Bei mei­ner Art von Arbeit war das ein star­ker Ein­schnitt», erklärt Tho­mas Jen­el­ten. Vie­le Sit­zun­gen, Ter­mi­ne und Füh­rungs­ar­beit liess er hin­ter sich. Heu­te arbei­tet er als Seel­sor­ger im Regio­na­len Pfle­ge­heim Baden. Der Ent­scheid, zurück in die Seel­sor­ge zu gehen, sei der Ent­scheid gewe­sen, den Rhyth­mus zu ver­lang­sa­men. Nun habe er das Gefühl, er kön­ne auch bei der Arbeit ‚die Flä­che beschrei­ten’: «Ich weiss am Mor­gen meist nicht genau, was mein Arbeits­tag bringt. Und ich habe gemerkt, dass ich die­se Luft brau­che, um zur Ruhe zu kom­men.»Das Kon­fes­sio­nel­le ver­liert sei­ne Bedeutung In sei­ne Tex­te flies­sen die Ein­drücke ein, wel­che die Begeg­nun­gen mit den kran­ken und ster­ben­den Men­schen im Pfle­ge­heim bei ihm hin­ter­las­sen. Ruhe, Zeit und Nähe kann er als Seel­sor­ger sei­nem Gegen­über ent­ge­gen­brin­gen. Den Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­nern sei sei­ne Kon­fes­si­on nicht wich­tig. Die wer­de für die mei­sten mit dem Alter immer weni­ger bedeu­tend. Auch für ihn sei­en die Gra­ben­kämp­fe zwi­schen den Kon­fes­sio­nen immer weni­ger nach­voll­zieh­bar: «Sie schei­nen mir exo­tisch und weit weg von mei­ner Lebens­rea­li­tät.» Tho­mas Jen­el­ten fin­det für sei­ne Arbeit kla­re Wor­te: «Was ich an ein Ster­be­bett brin­gen kann, ist letzt­lich mei­ne Nähe. That’s it. Kei­ne Bibel, nichts. Das Kon­fes­sio­nel­le ver­liert in die­ser Situa­ti­on an Bedeu­tung, es geht ein­zig und allein um das Bedürf­nis nach mensch­li­cher Nähe und dar­um, nicht allein zu sein.»«Wir brau­chen einen Adressaten» Die Vor­stel­lun­gen der Ster­ben­den dar­über, was sie nach dem Tod erwar­tet, sei­en ganz unter­schied­lich. Und wenn vie­le davon über­zeugt sind, nach dem Tod wei­ter­zu­le­ben, ent­sprin­ge die­ser Glau­be nicht der Angst vor dem Ster­ben, ist Tho­mas Jen­el­ten über­zeugt. «Reli­gi­on hat für mich nicht mit Angst, son­dern mit Dank­bar­keit zu tun», sagt er und erklärt: «Wir brau­chen einen Adres­sa­ten für unse­ren Dank. Zum Bei­spiel, wenn wir auf einem Berg ste­hen und über­wäl­tigt sind vom Pan­ora­ma rings­um. Ich spre­che des­halb ger­ne vom ‚geheim­nis­vol­len Gott’, das erscheint mir auch theo­lo­gisch richtig.»
Marie-Christine Andres Schürch
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