Visionen für Kirche – von Frauen gestaltet
In diesem Jahr wurden, wie bereits erstmalig im vergangenen Jahr, zwei Preise verliehen. Neben dem Förderpreis, mit dem Dr. Paulina Hauser (links) ausgezeichnet wurde, verlieh die Jury den Nachwuchspreis an Sarah Ntondele (rechts).
Bild: © Raphaela Graf

Visionen für Kirche – von Frauen gestaltet

Frauen entwerfen neue Perspektiven für Theologie und Kirche. Die Marga Bührig Stiftung würdigte dieses Engagement am 17. Oktober zum 18. Mal mit ihrem Förderpreis. Wir haben mit den beiden Preisträgerinnen über ihre Visionen für Kirche und Gesellschaft gesprochen.

Die Visio­nen von Frauen kön­nen Verän­derun­gen in Kirche und Gesellschaft anstossen. Aus dieser Überzeu­gung her­aus ver­lei­ht die Mar­ga Bührig Stiftung seit 1999 ihren Förder­preis an junge Forscherin­nen und Autorin­nen. Mit dem Preis würdigt die Stiftung Stim­men, die einen neuen, dif­feren­zierten Blick in die kirch­lichen Debat­ten ein­brin­gen. «Die Frauen lassen sich nicht davon abbrin­gen, ihre Visio­nen fundiert zu entwick­eln, und zeigen damit, welche Kraft in fem­i­nis­tis­chem und befreiungs­the­ol­o­gis­chem Denken steckt», betont die Präsi­dentin der Stiftung, Dr. Luzia Sut­ter Rehmann, in ihrer Begrüs­sung zur Preisver­lei­hung.

In diesem Jahr wur­den, wie bere­its erst­ma­lig im ver­gan­genen Jahr, zwei Preise ver­liehen. Neben dem Förder­preis, mit dem Dr. Pauli­na Hauser aus­geze­ich­net wurde, ver­lieh die Jury den Nach­wuch­spreis an Sarah Nton­dele. Dr. Hauser schliesst mit ihrer Arbeit «Men­schen­rechtsver­let­zun­gen an Frauen. Eine sozialethis­che Analyse aus glob­aler Per­spek­tive» eine Lücke in der christlichen Sozialethik, in der das The­ma stark unter­repräsen­tiert ist. «Unter dem Wal­nuss­man­gob­aum. Auf dem Weg zu ein­er inter­sek­tion­al-wom­an­is­tis­chen The­olo­gie im deutschen Kon­text» heisst die Arbeit von Sarah Nton­dele, die den Beitrag Schwarz­er Frauen für The­olo­gie, Kirche und Gesellschaft im deutschsprachi­gen Raum aufzeigt.


© Raphaela Graf

Im Gespräch mit…

Dr. Paulina Hauser

Bitte fassen Sie den Kern Ihrer Arbeit in einer kurzen Formulierung für uns zusammen.

Men­schen­rechtsver­let­zun­gen an Frauen find­en auch heute noch statt. Sie find­en weltweit statt, auch in Europa. Und sie sehen anders aus als Men­schen­rechtsver­let­zun­gen an Män­nern. Deshalb müssen sie auch anders betra­chtet, bear­beit­et und ihnen muss anders vorge­beugt wer­den.

Was hat Ihre Forschung mit dem Alltag der Menschen zu tun?

Wir kom­men aus ein­er Zeit, in der wir dacht­en, dass die Welt immer lib­eraler, immer freier, immer gerechter wird. Wir merken jet­zt aber, dass die Wer­teen­twick­lung ger­ade nicht mehr vor­wärts­gerichtet ist und dass in vie­len Län­dern weltweit die Rechte von Men­schen wieder eingeschränkt wer­den. Auch wir hier nehmen einen Werte-Back­lash (= einen Wert­erückschlag, ein Wieder­aufkom­men kon­ser­v­a­tiv­er Werte, Anm. d. Red.) wahr. Das bet­rifft uns in unserem All­t­ag, wenn beispiel­weise Rol­len­bilder von Frauen retra­di­tion­al­isiert wer­den. Diese Rol­len­bilder sind ein Baustein, der geschlechtsspez­i­fis­che Gewalt und Men­schen­rechtsver­let­zun­gen an Frauen befördern kann. Wir müssen da alle miteinan­der aufmerk­sam sein, dass wir dem nicht nachgeben und weit­er­hin für Gerechtigkeit und Frei­heit stre­it­en.

Welche Vision haben Sie für die Kirche, und welche Veränderung wünschen Sie sich durch Ihre Arbeit für die Kirchen – aber vielleicht auch für die Gesellschaft?

Ich finde es wichtig, dass Papst Leo in seinem neuen Schreiben seinen Vorgänger Franziskus zitiert mit der Aus­sage, dass Frauen weltweit noch immer nicht gle­ich­berechtigt sind. Ich glaube, die Wichtigkeit ist der Kirche bewusst, denn son­st würde der Papst das The­ma nicht in seinem rel­a­tiv kom­pak­ten Schreiben Dilexi te erwäh­nen. Aber das ganze Aus­mass, so scheint es mir, macht sich die Kirche noch immer zu wenig bewusst. Sie muss ihre eigene Rolle reflek­tieren in Zusam­men­hang mit der Frage: Welche Men­schen­bilder, Fam­i­lien­bilder und Frauen­bilder repro­duzieren wir, die am Ende dazu beitra­gen kön­nen – nicht müssen, aber kön­nen –, dass Gewalt an Frauen auch weit­er­hin legit­imiert wird? Die Kirche hat, weil sie glob­al ist, eine echte Chance, Für­sprecherin der Frauen zu sein. In einem Doku­ment der Welt­syn­ode («Mach den Raum deines Zeltes weit» (Jes 54,2) Arbeits­doku­ment für die kon­ti­nen­tale Etappe) haben Frauen diese Bitte an die Kirche auch sehr deut­lich for­muliert. An manchen Orten ist das bere­its so, zum Beispiel in Mada­gaskar. Ich glaube, dass die Kirche als Für­sprecherin für die Frauen Poten­zial hat. Das wäre mein Wun­sch, meine Vision für die Kirche. Eine Kirche, die sich sowohl nach aussen – denn meine Arbeit richtet sich vor allem nach aussen – als auch nach innen für die Würde und das frei­heitliche Leben von Frauen ein­set­zt. Dabei ist eben­so wichtig, dass sie sich mit den Geschlechter- und Fam­i­lien­bildern weit­er auseinan­der­set­zt. Welche Bilder haben wir und entsprechen die dem, was wir an ander­er Stelle nach aussen hin vertreten?

Warum ist es wichtig, sich für Menschenrechte einzusetzen?

Wir müssen dafür ein­ste­hen, dass Men­schen­rechte eine Zukun­ft haben, weil im Moment Men­schen­rechte, nicht nur die von Frauen, son­dern auch Men­schen­rechte im All­ge­meinen, zurückge­drängt wer­den.

Die Men­schen­rechte sind trotz allem mächtig. Wenn wir in Län­der wie Chi­na oder Rus­s­land schauen, sehen wir, dass ver­sucht wird, Menschenrechtsakteur:innen auszulöschen. Das zeigt, dass sie ernst genom­men wer­den. Herrsch­er haben Angst vor Men­schen­recht­en. Der Diskurs über Men­schen­rechte ist ziem­lich kom­plex. Aber die Men­schen­rechte selb­st sind es nicht. Jed­er ver­ste­ht die Men­schen­rechte, und sie geben auch jenen eine Sprache, die nicht die richti­gen Worte dafür haben, das Unrecht, das sie erleben, auszu­drück­en. Die Men­schen­rechte behal­ten ihre Stärke, selb­st wenn sie zurückge­drängt wer­den; denn son­st müssten sie nicht zurückge­drängt wer­den. Die Türkei ist aus der Istan­bulkon­ven­tion aus­ge­treten. Das müsste sie nicht machen, wenn die Istan­bulkon­ven­tion keine Bedeu­tung hätte.

Würden Sie sagen, keine Menschenrechte ohne Frauenrechte?

Ich würde sagen Men­schen­rechte sind immer auch Frauen­rechte und umgekehrt. Ich habe in mein­er gesamten Arbeit, auch wenn es an vie­len Stellen umständlich war, den Begriff Frauen­rechte nicht ver­wen­det, auss­er in ein­er Fuss­note. Mein­er Mei­n­ung nach beste­ht die Gefahr, dass, sobald man von Frauen­recht­en spricht, die Men­schen­rechte wieder zu Män­nerrecht­en wer­den. Wird die Unter­schei­dung aufgemacht, gibt es auch Möglichkeit­en zur Exk­lu­sion oder dazu, bes­timmte Rechte nicht anzuerken­nen. Wir sind immer gefordert, diese uni­ver­salen Men­schen­rechte noch uni­ver­saler zu machen. Das haben die Vere­in­ten Natio­nen in der Ver­gan­gen­heit bere­its mehrmals getan, indem sie die Sit­u­a­tio­nen, die Frauen, behin­derte Men­schen oder Indi­gene beson­ders betr­e­f­fen, mit aufgenom­men haben. Es gibt nicht die exk­lu­siv­en Rechte für eine bes­timmte Gruppe, son­dern sie wer­den aufgenom­men in die uni­ver­salen Men­schen­rechte, und das ist die grosse Stärke.

Wenn wir aber auf die Black-Lives-Matter-Bewegung schauen, gab es auch Stimmen, die das durch «all lives matter» relativieren wollten. Wie können wir sicherstellen, dass besonders unterstützungswürdige Gruppen nicht untergehen?

Wir kön­nen über die Rechte bes­timmter Grup­pen sprechen und müssen deren spez­i­fis­che Sit­u­a­tion benen­nen, um Unrecht sicht­bar zu machen.

Ich glaube, dass man die Beach­tung des Spez­i­fis­chen im All­ge­meinen immer braucht und gle­ichzeit­ig das Spez­i­fis­che durch das All­ge­meine geschützt wird.

Ger­ade die Frauen­rechts­be­we­gung ist eine Bewe­gung, die immer hin und her gepen­delt ist. Also von «wir brauchen die gle­ichen Rechte» zu «unsere spez­i­fis­chen Sit­u­a­tio­nen müssen anerkan­nt wer­den», zur Frage der weltweit­en Rechte von Frauen, durch die sich viele Frauen, ger­ade in den Län­dern des glob­alen Südens, vere­in­nahmt fühlten, was dann wieder zu ein­er Diver­si­fizierung geführt hat. Es gab also immer diese Pen­del­be­we­gung. Es ist mein­er Mei­n­ung nach eine Stärke, immer bei­des im Blick zu haben. Ich muss auch weit­er­hin über Frauen sprechen, auch wenn ich Gen­der (= das soziale Geschlecht, Anm. d. Red.) eigentlich auflösen will, da ich nur so das Unrecht, das Frauen geschieht, ansprechen kann. Es hat also immer etwas Vor­läu­figes und das auszuhal­ten, gehört dazu.


© Raphaela Graf

Im Gespräch mit …

Sarah Ntondele

Bitte fassen Sie den Kern Ihrer Arbeit in einer kurzen Formulierung für uns zusammen.

Die deutschsprachige The­olo­gie tut sich schw­er damit, aus ihrem het­ero­nor­ma­tiv­en Rah­men auszubrechen. Dabei ist die Real­ität in Kirche und gelebter The­olo­gie bere­its von vielfälti­gen Per­spek­tiv­en und Erfahrun­gen durch­zo­gen. Ihnen gilt es zuzuhören und Raum zu geben.

Was hat Ihre Forschung mit dem Alltag der Menschen zu tun?

Wir Men­schen sind auf der Suche nach Wegen, wie wir unser Zusam­men­leben in Kirche und Gesellschaft gestal­ten kön­nen. Dabei gibt es ver­schieden­ste Ansätze. Ich möchte einen neuen Ansatz in die Debat­te ein­brin­gen. Der Kern: Respek­tvolle Beziehun­gen auf Augen­höhe. Ich möchte eine Kirche mit­gestal­ten, in der wir uns gegen­seit­ig zuhören. Ger­ade auch den Men­schen zuhören, die im All­t­ag in Kirche und Gesellschaft spez­i­fis­che Erfahrun­gen machen, wie Schwarze Men­schen und speziell Schwarze Frauen. In diesem Zusam­men­hang müssen wir als Kirche auch dort hin­schauen, wo es unan­genehm ist, wo diese Men­schen schmer­zliche Erfahrun­gen machen. Mit wem Men­schen Empathie empfind­en und mit wem nicht, hat eine lange Geschichte in Europa. Es ist grundle­gend, das anzuge­hen, sodass alle Men­schen ein würde­volles Leben führen kön­nen.

Welche Vision haben Sie für die Kirche und welche Veränderung wünschen Sie sich durch Ihre Arbeit für die Kirchen – aber vielleicht auch für die Gesellschaft?

Am Ende geht es, mein­er Mei­n­ung nach, um Liebe. Ich meine damit eine sol­i­darische, eine poli­tis­che Liebe, die sich neben dem indi­vidu­ellen Ver­hal­ten auch in ein­er all­ge­meinen Hal­tung gegenüber meinen Mit­men­schen, allen nicht-men­schlichen Wesen und der Umwelt zeigt. So entste­ht ein Miteinan­der, in dem ich – ohne Angst, dass mir etwas genom­men wird – von mir selb­st wegschauen kann, hin auf meine Näch­ste.
In mein­er Arbeit analysiere ich Gedichte der Schwarzen deutschen Poet­in May Ayim. Diese Gedichte haben vie­len Schwarzen Men­schen, Schwarzen Frauen und anderen deutschsprachi­gen migrantis­chen Men­schen viel gegeben, weil sie indi­vidu­elle Erfahrun­gen reflek­tieren, die gle­ichzeit­ig aber kollek­tive Erfahrun­gen sind. Ayim schildert, wie es ist, im Miteinan­der auf ein min­der­w­er­tiges Wesen degradiert und objek­tiviert zu wer­den. Sie zeigt, dass keine gelin­gende Iden­tität auf Augen­höhe aus­ge­bildet wer­den kann, wenn mein Gegenüber mich stets zu einem «Es» degradiert. Auch Mar­tin Luther King beschreibt dieses Phänomen und wün­scht sich, dass diese «Ich-Es-Beziehung» zu ein­er «Ich-Du-Beziehung» wird. Diese Art von Beziehung zu erre­ichen ist für mich ein Aspekt dieser Vision ein­er poli­tisch sol­i­darischen Liebe.

Was hat Ihnen den Anstoss gegeben, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?

2020, nach dem gewaltvollen Tod des Schwarzen George Floyd durch weisse Polizis­ten, fan­den weltweit die «Black Lives Matter»-Demonstrationen statt. Der Fach­bere­ich der evan­ge­lis­chen The­olo­gie ist direkt in der Nähe des Ortes, wo in Ham­burg die Demos stattge­fun­den haben. Das war der Anstoss, dass wir im Fach­bere­ich ange­fan­gen haben, uns mit den The­men und Fragestel­lun­gen auseinan­derzuset­zen: Welche Erfahrun­gen machen Schwarze Men­schen, machen Men­schen of Col­or in Deutsch­land? Als eine der weni­gen Per­so­n­en of Col­or im Fach­bere­ich kamen bei mir beson­ders auch die Fra­gen auf: Wie ist das denn, nicht nur in der Gesellschaft, son­dern auch in den Kirchen, in die wir son­ntags gehen? Warum ist das gesellschaftliche Bild, das wir sehen, wenn wir durch die Ham­burg­er Strassen laufen, ein ganz anderes als das, was sich in unseren Gottes­di­en­sten abze­ich­net?
Mit diesen Fra­gen hat es ange­fan­gen. Gemein­sam mit Freund:innen habe ich eine Arbeits­gruppe gegrün­det. Wir haben ange­fan­gen, uns mit glob­alen The­olo­gien auseinan­derzuset­zen. Dabei sind wir unter anderem auf die Wom­an­ist The­ol­o­gy aus den USA gestossen. Und daraus entwick­elte sich die Frage: Wie kön­nen wir die Kirche so gestal­ten, dass sie für alle Men­schen ein sicher­er Ort ist, an dem sie in Gemein­schaft ihren Glauben sich­er leben kön­nen, ohne Angst vor Anfein­dun­gen zu haben? So kam ich auf die Idee, zu über­legen, wie die Wom­an­ist The­ol­o­gy im deutschsprachi­gen Kon­text ausse­hen kön­nte, was hier die Fra­gen und The­men wären und was die Antworten. Denn es gibt natür­lich einen Unter­schied zwis­chen dem Leben und Erleben ein­er Schwarzen Frau in den USA und dem ein­er Schwarzen Frau in Europa. Diese Trans­fer­leis­tung wurde zum The­ma mein­er Abschlus­sar­beit.

Leonie Wollensack
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