Auf­ar­bei­tung der Über­grif­fe ist für Opfer unbefriedigend

Auf­ar­bei­tung der Über­grif­fe ist für Opfer unbefriedigend

  • Die dunk­le Ver­gan­gen­heit des Kin­der­heims St. Bene­dikt Her­met­schwil kam vor zwei Jah­ren ans Licht, als sich ein ehe­ma­li­ges Opfer der für­sor­ge­ri­schen Mass­nah­men zu Beginn der 70er-Jah­re des letz­ten Jahr­hun­derts mit sei­ner Geschich­te an die Öffent­lich­keit wandte.
  • Die heu­ti­ge Lei­tung des «Son­der­schul­heims St. Bene­dikt – ler­nen und leben» setz­te eine exter­ne Unter­su­chungs­kom­mis­si­on ein, um die Gescheh­nis­se in den Jah­ren von 1946 bis 2006 aufzuarbeiten.
  • Nur weni­ge der ehe­ma­li­gen Opfer haben sich auf den Auf­ruf in den loka­len Medi­en gemel­det. Ent­spre­chend dünn ist die Fak­ten­la­ge und ent­spre­chend ent­täuscht sind die Betrof­fe­nen, die sich eine fun­dier­te Auf­ar­bei­tung der Gescheh­nis­se von damals gewünscht hätten.
Andre­as San­to­ni macht aus sei­nem Her­zen kei­ne Mör­der­gru­be mehr. 2011 hat­te er ver­sucht, sich in sei­nem Auto, direkt vor dem Kin­der­heim St. Bene­dikt in Her­met­schwil, in die Luft zu jagen. Die Gas­fla­sche hat­te er schon geöff­net, das Feu­er­zeug in der Hand, als ihn die Poli­zei in letz­ter Sekun­de stopp­te. Was er an die­sem Ort durch­ge­macht hat­te, all die kör­per­li­chen und see­li­schen Schmer­zen, die er da erdul­den muss­te, das war für ihn ein­fach alles zu viel gewor­den. Die Zeit kann nicht alle Wun­den hei­len. Aber die Zeit war 2018 reif, sei­ne Geschich­te zu erzäh­len.

Gros­ses media­les Echo

Dank­bar nah­men die Medi­en Andre­as San­to­nis Geschich­te auf. «Vom Pfar­rer miss­braucht» war eine Schlag­zei­le, die für vie­le Leser, Zuschau­er und Zuhö­rer auf allen Kanä­len sorg­te. Selbst­ver­ständ­lich hat auch Hori­zon­te über die­sen Fall berich­tet. All dies führ­te dazu, dass die heu­ti­ge Lei­tung des Son­der­schul­hei­mes «St. Bene­dikt – ler­nen und leben» eine exter­ne Unter­su­chungs­kom­mis­si­on ein­setz­te, die die Auf­ga­be hat­te, die unrühm­li­che Geschich­te des Kin­der­hei­mes auf­zu­ar­bei­ten. Dazu wur­den wei­te­re Zeit­zeu­gen auf­ge­ru­fen, sich bei der Kom­mis­si­on zu mel­den und ihre je eige­nen Erleb­nis­se zu Pro­to­koll zu geben. Der Auf­ruf in der Lokal­pres­se, der auch vom Radio und dem Regio­nal­sen­der Tele M1 auf­ge­nom­men wur­de, erziel­te aller­dings wenig Echo. Neben Andre­as San­to­ni fan­den sich nur fünf wei­te­re Per­so­nen, die über ihre Erleb­nis­se im Kin­der­heim Her­met­schwil Aus­kunft geben woll­ten.Nur einer von ihnen bekräf­tig­te die Aus­sa­gen von Andre­as San­to­ni, dass der 1992 ver­stor­be­ne Heim­seel­sor­ger und Pfar­rer von Her­met­schwil, Tho­mas Hard­eg­ger, sexu­ell über­grif­fig gewor­den sei. Urs Süss wohn­te von 1981 bis 1983 im Kin­der­heim Her­met­schwil. Die Über­grif­fe von Pfar­rer Hard­eg­ger konn­te er zwar abweh­ren, nicht aber die Ver­ge­wal­ti­gun­gen und Quä­le­rei­en durch älte­re Bur­schen, denen er schutz­los aus­ge­lie­fert war. Er habe der Kom­mis­si­on davon erzählt, aber: «Was mich an der gan­zen Geschich­te beson­ders wütend macht, das ist, dass alles immer nur unter den Tisch gekehrt wird. Ich hat­te damals schon das The­ma Pfar­rer Hard­eg­ger ange­spro­chen, weil er im Reli­gi­ons­un­ter­richt ver­sucht hat­te, mich unsitt­lich zu berüh­ren. Dies wur­de aber von der Heim­lei­tung als <Lüge> oder <falsch auf­ge­fasst> abge­stem­pelt. Genau­so, wie die Schlä­ge oder Beschimp­fun­gen mir gegen­über unter den Tep­pich gekehrt wur­den. Die­se zwei Jah­re, die ich in die­sem Heim ver­brin­gen muss­te, waren für mich die rein­ste Höl­le.»

Nur eine Medienmitteilung

Die ande­ren vier Zeu­gen erzähl­ten nichts von sexu­el­len Über­grif­fen, bestä­tig­ten dafür aber die psy­chi­schen und phy­si­schen Demü­ti­gun­gen, die sie zu ertra­gen hat­ten. «Wir konn­ten aus Grün­den des Per­sön­lich­keits­schut­zes unse­ren Bericht nicht ver­öf­fent­li­chen», sagt Histo­ri­ker Bru­no Mei­er, der zusam­men mit Edith Lüscher, Geschäfts­füh­re­rin des Deutsch­schwei­zer Logo­pä­din­nen- und Logo­pä­den­ver­ban­des, und Rechts­an­walt Hans­pe­ter Thür die Unter­su­chungs­kom­mis­si­on bil­de­te. Doch gera­de die­se Dis­kre­ti­on ist es, die Andre­as San­to­ni und Urs Süss anpran­gern, denn sie wol­len, dass die All­ge­mein­heit weiss, was hin­ter den Mau­ern des Kin­der­heims abge­lau­fen ist.Ihre Geschich­ten zu erzäh­len, hat sie gros­se Über­win­dung geko­stet. Das gilt auch für die Frau, die ihre Erleb­nis­se im Kin­der­heim St. Bene­dikt unter dem Pseud­onym «Rosa» der Aar­gau­er Zei­tung erzählt hat. Die dra­ko­ni­schen Stra­fen, mit denen die Bene­dik­ti­ner-Schwe­stern aus dem Klo­ster Melch­tal ihre weib­li­chen Zög­lin­ge züch­tig­ten, wird sie nie ver­ges­sen kön­nen. Eben­so die sexu­el­len Über­grif­fe durch die Män­ner, wel­che die Schwe­stern nachts in den Mäd­chen­schlaf­saal ein­lies­sen. «Die haben sich dann ein­fach die Mäd­chen aus­ge­sucht, die ihnen gefal­len haben. Aber auch in den Zim­mern der Klo­ster­frau­en gin­gen die ein und aus», berich­te­te «Rosa» auf Nach­fra­ge von Hori­zon­te. Der Unter­su­chungs­kom­mis­si­on habe sie ihre Geschich­te aber nicht erzählt, denn «das ändert ja doch nichts mehr. Ich will das end­lich hin­ter mir las­sen.» So wur­de denn am 12. März die­ses Jah­res von den Ver­ant­wort­li­chen des Kin­der­heims St. Bene­dikt und des Klo­sters Muri-Gries die Medi­en­in­for­ma­ti­on her­aus­ge­ge­ben, wie sie auf der Nach­rich­ten­sei­te von www.horizonte-aargau.ch am sel­ben Tag ver­öf­fent­licht wur­de.

«Man ist die Sache falsch angegangen»

«Was Pia Iff und Regu­la Jäg­gi gemacht haben, ist sehr lobens­wert», sagt Andre­as San­to­ni in Bezug auf die Bemü­hun­gen, wel­che die Lei­te­rin des Kin­der­heims und die Prä­si­den­tin des Trä­ger­ver­eins St. Bene­dikt unter­nom­men haben, um die Ver­gan­gen­heit auf­zu­ar­bei­ten. «Aber man ist die Sache falsch ange­gan­gen. Man hät­te alle Ehe­ma­li­gen anschrei­ben müs­sen und den Auf­ruf nicht nur in den loka­len Medi­en lan­cie­ren dür­fen.» Zu die­sem Vor­wurf sagt Bru­no Mei­er: «Sämt­li­che ehe­ma­li­gen Heim­in­sas­sen aus­fin­dig zu machen war nicht unser Auf­trag, das wäre auch kaum mehr mög­lich, und der Auf­wand wäre rie­sig gewe­sen. Das Kin­der­heim hat den Auf­ruf publi­ziert und alle, die sich gemel­det haben, wur­den zu einem per­sön­li­chen Gespräch ein­ge­la­den. Wir haben die Gesprä­che pro­to­kol­liert und dann ver­sucht, in Gesprä­chen mit noch leben­den Heiman­ge­stell­ten von damals, dem Umfeld des Heims und in den Archi­ven des Kin­der­heims Bestä­ti­gun­gen für die erzähl­ten Vor­fäl­le zu fin­den.»Das Ergeb­nis ihrer Nach­for­schun­gen hat auch die Kom­mis­si­ons­mit­glie­der ent­täuscht. In den Akten des Kin­der­heims ste­he nichts von den erwähn­ten Vor­fäl­len in den Jah­ren von 1946 bis 2006, sagt Bru­no Mei­er. «Dass im Kan­ton Obwal­den 1970 eine Unter­su­chung gegen Tho­mas Hard­eg­ger statt­ge­fun­den hat wegen des Ver­dachts auf pädo­phi­le Hand­lun­gen, das wis­sen wir heu­te. Aber der dama­li­ge Abt des Klo­sters Muri-Gries, Domi­ni­kus Löp­fe, hat sei­ne schüt­zen­de Hand über sei­nen Mit­bru­der gehal­ten. In den Klo­ster­ak­ten ist nichts davon ver­merkt. Man hat die Sache so gere­gelt, wie man es frü­her oft getan hat – und zum Teil bis heu­te noch tut –, man hat ihm zuerst ande­re Auf­ga­ben zuge­wie­sen und ihn spä­ter an einen ande­ren Ort ver­setzt.»

Abt Beda Szu­kics will nichts gewusst haben

Auf die Fra­ge, ob er wirk­lich nichts vom Fall Hard­eg­ger gewusst habe, als er zusam­men mit Andre­as San­to­ni und der Heim­lei­tung von St. Bene­dikt im Juli 2018 vor die Medi­en trat, sagt der heu­ti­ge Abt von Muri-Gries, Beda Szu­kics: «Erst als ich von die­sen Vor­wür­fen erfah­ren habe, habe ich bei mei­nen Mit­brü­dern nach­ge­fragt. Ich habe auch in den Klo­ster­ak­ten nach­ge­se­hen. Dort fand ich gar nichts, auch kei­nen Hin­weis auf die Unter­su­chun­gen in Sar­nen.» Die­se wur­den damals ein­ge­stellt, zu einer Ankla­ge kam es nie. Aus Grün­den des Per­sön­lich­keits­schut­zes sind die Akten beim Kan­ton Obwal­den unter Verschluss.
Christian Breitschmid
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