«Zuerst mal die eige­nen Vor­ur­tei­le prüfen»

«Zuerst mal die eige­nen Vor­ur­tei­le prüfen»

  • Jede fünf­te Per­son denkt in meist nega­ti­ven Bil­dern über jüdi­sche Menschen.
  • Die­se Ste­reo­ty­pe haben nicht zuletzt mit unse­rer christ­li­chen Erzie­hung zu tun.
  • Urs Urech, Geschäfts­füh­rer der Stif­tung Erzie­hung zur Tole­ranz, ver­mit­telt Stra­te­gien gegen anti­se­mi­ti­sche Haltungen.


«Dich soll­te man ver­ga­sen», wird ein Schü­ler einer Aar­gau­er Bezirks­schu­le beschimpft. Er wird geschubst, geschla­gen und sei­ne Hosen wer­den ihm her­un­ter­ge­zo­gen. Das ist ein beson­ders gra­vie­ren­des Bei­spiel aus dem Anti­se­mi­tis­mus­be­richt des Schwei­ze­ri­schen Israe­li­ti­schen Gemein­de­bun­des (SIG) und der Stif­tung gegen Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus (GRA). Vor­fäl­le in die­ser Art hät­ten sie seit 20 Jah­ren nicht mehr beob­ach­tet, sagt Urs Urech, Geschäfts­füh­rer der Stif­tung Erzie­hung zur Tole­ranz (SET). Die letz­te ver­gleich­ba­re Anti­se­mi­tis­mus­wel­le habe die Schweiz in den 1990er Jah­ren über­rollt – als sich das Land schwe­ren Vor­wür­fen zum Umgang mit den Ver­mö­gen der Holo­caust-Opfer aus­ge­setzt sah.

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Typisch jüdisch!?

Im ver­gan­ge­nen Jahr hät­ten sich die anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­le ver­drei­facht, heisst es im Bericht. Die mei­sten ereig­ne­ten sich nach der Ter­ror­at­tacke der Hamas am 7. Okto­ber. Der Angriff eines 15-Jäh­ri­gen auf einen jüdisch-ortho­do­xen Mann in Zürich am 2. März die­ses Jah­res ist der gra­vie­rend­ste anti­se­mi­ti­sche Angriff seit Lan­gem. Der Täter war ein Schü­ler, der sich im Netz mit IS-Ideo­lo­gien radi­ka­li­siert hat­te. Es wäre aber ver­fehlt, Anti­se­mi­tis­mus als ein Phä­no­men ein­zel­ner ver­wirr­ter Täter abzu­tun. Anti­se­mi­ti­sche Ste­reo­ty­pe und Hand­lun­gen fin­den sich in der brei­ten Schwei­zer Bevöl­ke­rung. Eine Stu­die des Bun­des­am­tes für Sta­ti­stik von 2020 zeigt, dass über 20% der Schwei­zer Bevöl­ke­rung den Jüdin­nen und Juden ste­reo­ty­pe Eigen­schaf­ten zuord­nen. Sol­che Ste­reo­ty­pe sind etwa der rei­che Jude, Juden als Wuche­rer und Betrü­ger oder die Vor­stel­lung, eine gehei­me jüdi­sche Eli­te stre­be nach der Weltherrschaft.

Teil der Reli­gi­on und Kultur

«Anti­se­mi­tis­mus gibt es schon seit der Anti­ke und ist ein Teil unse­rer Kul­tur gewor­den», sagt Urs Urech, «er ist so ver­brei­tet, dass er gleich­sam unsicht­bar gewor­den ist.» Der Anti­ras­sis­mus­trai­ner nennt als Bei­spiel Begrif­fe, die sich im Sprach­ge­brauch eta­bliert haben: etwa der «Juden­han­del» oder die «Juden­schu­le» – bei­des nega­tiv besetz­te Begrif­fe. Es gibt auch Geset­ze, die sich aus­schliess­lich gegen jüdi­sches Leben rich­ten, etwa das Schächt­ver­bot. Vie­le Bei­spie­le gibt es auch in der christ­li­chen Reli­gi­on. Der christ­li­che Anti­ju­da­is­mus hat bis zum Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil auch die katho­li­sche Leh­re geprägt. Die christ­li­che Sozia­li­sa­ti­on gehe ein­her mit anti­se­mi­ti­schen Geschich­ten und Bil­dern: Dazu gehö­re etwa die Abgren­zung des lie­ben Got­tes im Neu­en Testa­ment zum zor­ni­gen Gott des Alten Testa­ments. Selbst die Unter­schei­dung in ein Neu­es und Altes Testa­ment hier­ar­chi­sie­re die Text­samm­lun­gen. Die Dämo­ni­sie­rung der Pha­ri­sä­er, der Vor­wurf des Got­tes­mor­des, die Dar­stel­lung von Judas als Ver­rä­ter sind wei­te­re Bei­spie­le, die Urs Urech nennt. Bei allen kom­men die jüdi­schen Men­schen nie gut weg.

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Heu­te leben in der Schweiz 18 000 Jüdin­nen und Juden. Sie sei­en zual­ler­erst Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer. Vie­le von ihnen hät­ten mit dem Staat Isra­el so viel zu tun wie Katho­li­kin­nen und Katho­li­ken mit dem Vati­kan. In jüng­ster Zeit kom­men Urs Urech gra­vie­ren­de Geschich­ten zu Ohren. Jüdin­nen und Juden, die sich nicht mehr in der Öffent­lich­keit zeig­ten. Er weiss von jüdi­schen Men­schen, die ihr Tür­schild abmon­tiert haben, damit ihr jüdi­scher Name nicht mehr zu lesen ist. Ande­re lies­sen das Taxi zwei Stras­sen weit von zu Hau­se anhal­ten, damit ihre Adres­se nicht bekannt wird.

Der Hass der Erwachsenen

Die Stif­tung Erzie­hung zur Tole­ranz enga­giert sich mit Bil­dungs­pro­jek­ten in Kin­der­gär­ten, in Pri­mar­schu­len und auf der Ober­stu­fe für eine tole­ran­te Schul­kul­tur. Doch Anti­se­mi­tis­mus sei nicht das The­ma der Jun­gen, der Hass kom­me von den Erwach­se­nen, sagt Urs Urech. Seit der erneu­ten Anti­se­mi­tis­mus­wel­le nach dem Hamas-Ter­ror beschäf­ti­ge ihn, mit wel­chen Bil­dungs­an­ge­bo­ten die Erwach­se­nen erreicht wer­den kön­nen. Er höre kri­ti­sche Stim­men, die mit dem auf­flam­men­den Anti­se­mi­tis­mus die Berech­ti­gung des inter­re­li­giö­sen Dia­logs in Zwei­fel zie­hen. Urs Urech ist über­zeugt, jetzt sei­en alle beson­ders in der Pflicht, sich gegen anti­se­mi­ti­sches Ver­hal­ten zur Wehr zu set­zen. Am besten man begin­ne damit, die eige­nen Vor­ur­tei­le zu prü­fen. Wel­che Bil­der habe ich von jüdi­schen Men­schen? Nei­ge ich zu Pau­scha­li­sie­run­gen? Dann sei es wich­tig, genau hin­zu­hö­ren und anti­se­mi­ti­sche Angrif­fe anzu­spre­chen und zu stop­pen. Aus ver­ba­len Angrif­fen könn­ten bald tät­li­che wer­den. Eltern, Lehr­per­so­nen, Seel­sor­gen­de, Fuss­ball­trai­ner müss­ten selbst auf Mikro­ag­gres­sio­nen reagie­ren. Auch im Netz auf den sozia­len Medi­en, in Chat­räu­men und Kom­men­tar­spal­ten gibt es Anti­se­mi­tis­mus. Die Gegen­re­de, auch Counter­speech genannt, kön­ne ande­re Teil­neh­men­de ermu­ti­gen, eben­falls Stel­lung zu bezie­hen. Urs Urech for­dert gera­de die Kir­chen auf, jetzt beson­ders ihre Frie­dens­bot­schaft zu verkünden.

Anti­se­mi­tis­mus: Wel­che Rol­le spie­len Chri­sten­tum und Islam?

Pod­cast «Laut + Leis», Fol­ge 25

Seit dem Ter­ror­an­schlag der Hamas auf Isra­el neh­men anti­se­mi­tisch moti­vier­te Gewalt­ta­ten sprung­haft zu. Auch in der Schweiz. Der Extre­mis­mus­for­scher Dirk Bai­er und der Islamwissenschaftler

Rein­hard Schul­ze gehen den Ursa­chen auf den Grund und sagen, was die Schweiz im Unter­schied zu Deutsch­land und Frank­reich bes­ser macht.

The­men die­ser Folge:

  • Es gibt zah­len­mäs­sig in der Schweiz nicht mehr Antisemit:innen. Gestie­gen ist die Bereit­schaft, Anti­se­mi­tis­mus zu äus­sern und bis zur Tat zu gehen
  • Wie und wo sich Jugend­li­che radikalisieren
  • Mus­li­mi­sche Jugend­li­che haben ein deut­lich höhe­res Antisemitismus-Risiko
  • Die Wahr­schein­lich­keit, dass Mus­li­me in der Schweiz schwe­re Gewalt aus­üben, ist gerun­det null
  • Muslim:innen sind in der Schweiz deut­lich bes­ser inte­griert als in Deutsch­land und Frankreich
  • Anti­se­mi­tis­mus an Universitäten
  • Drei Fak­to­ren für die Prävention
  • Die Rol­le der Moscheen, der mus­li­mi­schen Ver­ei­ne und des Staates
  • Die neu­ste Stu­die: «Anti­se­mi­tis­mus unter Jugend­li­chen in Deutsch­land und der Schweiz. Wel­che Rol­le spielt die Religionszugehörigkeit?»
Eva Meienberg
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