Über das Leben hinauswachsen

Über das Leben hinauswachsen

  • Da sein, lachen und weinen. Das Hos­piz Aar­gau betreut und begleit­et Men­schen in ihrer let­zten Leben­sphase.
  • In den drei Bere­ichen Hos­piz Sta­tionär, Hos­piz Ambu­lant und Hos­piz Trauertr­e­ff engagieren sich neben 30 Fes­tangestell­ten mehr als 100 Frei­willige.
  • Ein Besuch im Hos­piz und das Gespräch mit ein­er Frei­willi­gen zeigen: Men­schen in ihren let­zten Wochen, Tagen und Stun­den beizuste­hen, ist eine sinns­tif­tende und erfül­lende Auf­gabe.

Der Ort, an dem im Durch­schnitt jede Woche zwei Men­schen ster­ben, befind­et sich an der Fröh­lich­strasse. Ein gut gelaunter Mann in leuch­t­end rotem Kapuzen­pul­li begrüsst die Besuch­er. Der Strassen­name, die Pul­li­farbe und der ungezwun­gene Emp­fang unter­stre­ichen, was Lars Holler­bach später sagen wird: «Das Hos­piz ist ein Ort des Lebens.»

Wertvolle Freiwilligenarbeit

[esf_wordpressimage id=49071][/esf_wordpressimage]

Das Hos­piz Ambu­lant sucht Frei­willige, die ​kranke und ster­bende Men­schen zu Hause begleit­en. Inter­essierte melden sich bei der Ein­satzzen­trale unter der Tele­fon­num­mer 079 320 99 15. www.hospiz-aargau.ch

Holler­bach ist Mit­glied der Geschäft­sleitung des Hos­pizes Aar­gau mit seinen drei Bere­ichen Hos­piz Sta­tionär, Hos­piz Ambu­lant und Hos­piz Trauertr­e­ff. Im Haus an der Fröh­lich­strasse in Brugg, wo früher die Geburten­abteilung des Bezirksspi­tals unterge­bracht war, nimmt das sta­tionäre Hos­piz Men­schen auf, die unheil­bar krank sind und deren Leben­szeit bald zu Ende geht. Hier ver­brin­gen sie, betreut von Fach­per­so­n­en aus Pflege, Phys­io­ther­a­pie, Psy­cholo­gie oder Seel­sorge, ihre let­zten Monate, Wochen und Tage. Die Pal­lia­tiv-­Ärztin aus dem nahen Pflegezen­trum Süss­bach kommt mehrmals am Tag auf Vis­ite vor­bei. Für die Schmerzther­a­pie wer­den die Spezial­is­ten des Schmerzzen­trums vom KSB hinzuge­zo­gen. Ganz wichtig sind die Frei­willi­gen, die den Men­schen in der let­zten Leben­sphase Zeit schenken. Neben 30 Fes­tangestell­ten engagieren sich etwa 100 Frei­willige in den drei Bere­ichen des Hos­pizes Aar­gau, das sich auch aus Spenden finanziert.

Fachpersonen und Freiwillige

Das Hos­piz hat zehn Zim­mer. Einige der Türen sind geschlossen, andere haben bloss einen Vorhang gezo­gen: Jed­er Patient entschei­det selb­st über den Grad sein­er Pri­vat­sphäre. Auf dem Flur läuft immer etwas, hier tre­f­fen Pfle­gende auf Ange­hörige, nie­mand muss extra leise sein. Der Umgang miteinan­der ist her­zlich. «Im Hos­piz betreiben wir keinen Aktion­is­mus. Wir hal­ten auch die Stille aus. Wir ver­hal­ten uns möglichst nor­mal, wir sind natür­lich, wir sind ein­fach da», erk­lärt Holler­bach. Auch das Ster­ben sei ein natür­lich­er Prozess: «Es vol­lzieht sich in Rhyth­men, die nicht in unser­er Hand liegen, es wird seinen Sinn haben.»

[esf_wordpressimage id=49085 width=half float=left][/esf_wordpressimage]

Abschiedsritual

Über hun­dert Men­schen ster­ben im Durch­schnitt jedes Jahr im Hos­piz in Brugg. Einige leben nach dem Ein­tritt nur noch wenige Stun­den, andere einige Monate. An diesem Nach­mit­tag bren­nt vor ein­er Zim­mertür eine Kerze. Vor weni­gen Stun­den ist hier ein Patient gestor­ben. Auch nach dem Tod herrscht im Hos­piz keine Eile. In Ruhe kön­nen sich die Ange­höri­gen ver­ab­schieden. Später, wenn die Bestat­ter den Sarg abholen, gehen die Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er mit der Kerze hin­ter dem Sarg her. Sie sprechen zum Beispiel einen Segen, erzählen eine Begeben­heit aus der let­zten Leben­sphase des Ver­stor­be­nen und nehmen dann Abschied vor dem Lift. «Hier ist unsere gemein­same Reise zu Ende», sagt Holler­bach. Dieser klare Schlusspunkt sei wichtig, weil am näch­sten Tag ein neuer Men­sch kommt, der willkom­men geheis­sen wird.

Erinnern, lachen, weinen

Im hin­ter­sten Teil des Hos­pizes befind­et sich das Stübli, liebevoll ein­gerichtet lädt es zum Ver­weilen ein. Eine bre­ite Rampe führt vom Stübli hin­aus auf die Dachter­rasse. Dort ist vieles möglich: mit dem Bett raus­fahren, unter dem Ster­nen­him­mel über­nacht­en, rauchen. Die Pati­entin­nen und Patien­ten im Hos­piz sollen bis zulet­zt Würde und Autonomie wahren kön­nen. Auch beim Essen: Das Hos­piz serviert auch halbe Por­tio­nen oder noch kleinere. Und dann, wenn jemand nicht mehr essen mag, auch nur noch einen Löf­fel vom Lieblingsjoghurt, eine Suppe, einen Orangen­schnitz. «Men­schen kön­nen hier let­zte Schritte tun, nach ihren eige­nen Wün­schen. Würde jemand mit­ten in der Nacht einen Teller Pommes wün­schen, wir wür­den es möglich machen», sagt Holler­bach.

An der Wand im Flur wächst eine Spi­rale aus far­bigen Steinen. Jed­er Stein ist vom Atlantik glattgeschlif­f­en, sorgfältig bemalt und mit den Ini­tialen ein­er Per­son verse­hen, die im Hos­piz gestor­ben ist. Das Kunst­werk war nicht geplant, son­dern hat sich nach und nach ergeben, aus­ge­hend vom ersten Stein, den eine Frau während des Coro­na-Lock­downs im Jahr 2020 bemalte. Sei­ther verziert sie für jeden Men­schen, der im Hos­piz stirbt, einen per­sön­lichen Stein. Holler­bach ist glück­lich über die Spi­rale. Sie ist nicht nur Blick­fang, son­dern bietet immer wieder Gesprächsstoff: «Ver­wandte von Ver­stor­be­nen kom­men vor­bei, betra­cht­en den Stein, erin­nern sich, lachen und weinen.»

[esf_wordpressimage id=49102 width=half float=right][/esf_wordpressimage]

Tatkräftig und feinfühlig

Maria Meier-Valente ist seit rund 30 Jahren als Frei­willige für das ambu­lante Hos­piz tätig und betreut schw­er kranke und ster­bende Men­schen in deren Zuhause. Mit ihrem Auto fährt sie in die hin­ter­sten Eck­en des Kan­tons. Mehr als ein­mal ist sie bei ihren Ein­sätzen im Schlamm steck­enge­blieben, hat sich in einem Wald ver­fahren oder sich durch einen Schneesturm gekämpft. Die 80-Jährige ist seit den Anfän­gen beim Hos­piz Aar­gau engagiert. Sie kan­nte dessen Grün­derin Luise Thut per­sön­lich und half beim Auf­bau der Hos­piz-Arbeit im Kan­ton. Als Ein­sat­zlei­t­erin koor­diniert Meier-Valente auch die Ein­sätze der anderen Frei­willi­gen des ambu­lanten Hos­pizes. Die Frei­willi­gen bes­tim­men selb­st, wie häu­fig sie einen Ein­satz leis­ten wollen. Ange­hörige Schw­erkranker kön­nen sich rund um die Uhr bei der Ein­satzzen­trale melden.

Auf die Frage, was eine Frei­willige oder ein Frei­williger braucht, um diesen Dienst zu erfüllen, schildert Meier-Valente eine Sit­u­a­tion, die sie erlebt hat: Kurz nach Wei­h­nacht­en fuhr sie zu einem schw­er kranken Mann, der von sein­er Tochter gepflegt wurde. Als sie ankam, teilte die Tochter ihr mit, dass sie jet­zt wegge­he, weil sie den Vater nicht mehr pfle­gen könne und wolle. Meier-Valente ver­sprach der Tochter, den Vater eine Nacht lang zu betreuen. Am näch­sten Mit­tag müsse sie aber zurück sein, um das weit­ere Vorge­hen zu regeln. «Die Frei­willi­gen im ambu­lanten Ein­satz müssen Entschei­dun­gen tre­f­fen, heik­le Sit­u­a­tio­nen mit Fin­ger­spitzenge­fühl regeln, aber auch Klar­text sprechen», weiss sie. Manch­mal herrsche vor Ort grosse Hil­flosigkeit: «Ich muss den Men­schen Sicher­heit ver­mit­teln.» Die Frei­willi­gen seien meist reifere Men­schen, hät­ten Kinder gross­ge­zo­gen oder die eige­nen Eltern gepflegt. Sie selb­st ver­bringt pro Jahr etwa 400 Stun­den bei Patien­ten und etwa 400 Stun­den am Tele­fon.

Jeder Mensch stirbt auf seine Art

Meier-Valente hat viele Men­schen ster­ben sehen. «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Ster­ben ganz indi­vidu­ell ist, jed­er stirbt anders», sagt sie. Wenn sie im Auto nach Hause fährt, lässt sie frische Luft here­in, hört Musik. Sie lässt das Erlebte unter­wegs zurück und kommt leer zu Hause an. «Wer sta­bil im Leben ste­ht, kann diese Auf­gabe stem­men. Solange ich Auto fahren kann, mache ich weit­er», sagt sie.

Marie-Christine Andres Schürch
mehr zum Autor
nach
soben