Traumatisiert über Generationen

  • Am 27. Jan­u­ar 1945 befre­ite die vor­rück­ende Rote Armee das Konzen­tra­tionslager Auschwitz-Birke­nau.
  • Das grösste deutsche Konzen­tra­tionslager im zweit­en Weltkrieg wurde zum Sym­bol für die Ver­nich­tung der Juden, den Holo­caust. Am Jahrestag sein­er Befreiung bege­hen die Vere­in­ten Natio­nen den «Inter­na­tionalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holo­caust».
  • Opfer sind auch die Nachkom­men der Über­leben­den und der Täter, denn sie tra­gen die Fol­gen bis heute.


Auschwitz ist, als grösstes deutsches Konzen­tra­tions- und Ver­nich­tungslager im zweit­en Weltkrieg, zum Sym­bol für die Ver­nich­tung der Juden, den Holo­caust, gewor­den. Der Tag der Befreiung durch die sow­jetis­che Armee, am 27. Jan­u­ar 1945, ist in Deutsch­land seit 1996 ein bun­desweit­er Gedenk­tag, der soge­nan­nte «Tag des Gedenkens an die Opfer des Nation­al­sozial­is­mus». Die Vere­in­ten Natio­nen erk­lärten das Datum im Jahr 2005 zum «Inter­na­tionalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holo­caust». 77 Jahre nach Kriegsende tra­gen die Nachkom­men der Über­leben­den und der Täter noch immer die Fol­gen der Shoah. Der hebräis­che Begriff «Shoah» bedeutet «Unheil, Unglück oder Katas­tro­phe» und ste­ht für den nation­al­sozial­is­tis­chen Völk­er­mord an den Juden Europas.

Die Autorin dieses Beitrags, die The­olo­gin Chris­tiane Faschon, ken­nt die Weit­er­gabe von Trau­ma­ta über die Gen­er­a­tio­nen aus eigen­em Erleben. Im Inter­view erk­lärt sie, was der zweit­en und drit­ten Gen­er­a­tion hil­ft, die ererbten Trau­ma­ta zu über­winden.

Unbewusste Weitergabe

Mitte der 1960er-Jahre kamen die Kinder Über­leben­der mit ähn­lichen Symp­tomen wie ihre Eltern zu Ther­a­peuten. Damit begann die Unter­suchung zur trans­gen­er­a­tionalen Weit­er­gabe von Trau­ma­ta, englisch «Trans­gen­er­a­tional Trans­mis­sion of Trau­ma», abgekürzt TTT. Offen­bar wer­den die Erfahrun­gen ein­er Gen­er­a­tion auf die nach­fol­gen­den über­tra­gen. Meist geschieht das unbe­ab­sichtigt, unbe­wusst und unge­wollt. Dabei spie­len psy­chol­o­gis­che und genetis­che Fak­toren aus unver­ar­beit­eten Trau­ma­ta eine Rolle.

Die Psy­cho­an­a­lytik­erin Judith Kesten­berg erk­lärte mit dem Begriff «Zeit­tun­nel» das Phänomen, dass die Nachkom­men der Holo­caustopfer psy­chisch an dem Punkt anknüpfen, an dem das vorher nor­male Leben ihrer Eltern gewalt­sam unter­brochen wurde. Obwohl sie nach 1945 geboren wur­den, liege der gefühlsmäs­sige Geburt­szeit­punkt der zweit­en Gen­er­a­tion in den Konzen­tra­tionslagern, pos­tuliert Kesten­berg.

Die Eltern erlösen

Ein­er­seits sollen die Kinder betrof­fen­er Fam­i­lien erset­zen, was die Eltern ver­loren haben. Ander­er­seits sollen sie aber auch glück­lich und erfol­gre­ich wer­den und so den Sieg über die Ver­fol­ger repräsen­tieren. Die zweite Gen­er­a­tion ver­sucht, die Eltern von den seel­is­chen Schreck­en zu erlösen und fühlt sich oft lebenslang für sie ver­ant­wortlich. Die zweite Gen­er­a­tion spricht nicht über die eige­nen Sor­gen. Viele zweifeln, ob sie glück­lich sein dür­fen, wenn die Eltern lei­den. Die zweite Gen­er­a­tion ist anfäl­lig für post­trau­ma­tis­che Belas­tungsstörun­gen, Stress, psy­cho­so­ma­tis­che Krankheit­en und Depres­sio­nen.

Stress verändert die Genfunktion

Das Max-Planck-Insti­tut für Psy­chi­a­trie erforscht seit Jahren die Auswirkun­gen der elter­lichen Trau­ma­ta auf die Gene ihrer Kinder. Epi­genetik ist dabei das Bindeglied zwis­chen Umwel­te­in­flüssen und Genen: Verän­derun­gen an den Chro­mo­somen bes­tim­men mit, wann welch­es Gen an- oder abgeschal­tet wird. Da der Umgang mit Stress vererbt wird, spie­len Trau­ma­ta hier eine Rolle. Dies geschieht unab­hängig davon, ob Erwach­sene über die erlebten Belas­tun­gen sprechen oder darüber schweigen. Die Forschung zeigt: Trau­ma­ta lassen sich vor Kindern nicht ver­ber­gen. Doch der Prozess ist reversibel.

Die Nachkommen der Täter

Der israelis­che TTT-Forsch­er Dan Bar-On befragte erst­mals in den 1980er-Jahren Täter­nachkom­men in Deutsch­land. Es zeigte sich, dass die meis­ten Väter Angst vor Bestra­fung hat­ten, jedoch kein Schuld­be­wusst­sein. Die Last der Schuld- und Schamge­füh­le bürde­ten sie ihren Kindern auf. Meist brechen erst die Enke­lin­nen und Enkel das Schweigen. Die Kinder lern­ten, in zwei getren­nten Wel­ten zu leben. Der Vater war ja trotz sein­er Ver­brechen daheim für­sor­glich; neben der «heilen Fam­i­lie» stand das Grauen.

Der Bruch zwis­chen den Tat­en und der Akzep­tanz der Fol­gen wurde oft weit­ergegeben. Täter ver­let­zen ihre eigene Men­schlichkeit. Deren Kinder mussten sich dem Hor­ror stellen, etwa, dass der Vater ein Massen­mörder war. Nicht wenige woll­ten daher keine Kinder. Sie sind eben­falls trau­ma­tisiert, doch hat ihr Trau­ma eine andere Qual­ität als das der Ver­fol­gten. In Exo­dus 34,7 heisst es, Gott «…ver­fol­gt die Schuld der Väter an den Söh­nen und Enkeln, an der drit­ten und vierten Gen­er­a­tion». Die Bibel beschreibt hier die men­schliche Real­ität, dass Eltern ihre «Ruck­säcke» an die näch­ste Gen­er­a­tion weit­ergeben. Es ist keine Schuldzuweisung an die Kinder.

Das Trauma bewusst thematisieren

Die katholis­che Kirche forderte von den Tätern nach dem Krieg keine Anerken­nung der Schuld, son­dern plädierte für «Vergeben und Vergessen». Auch in der Seel­sorge ist das bis heute kein The­ma. Am 27. Jan­u­ar soll­ten wir uns der Fol­gen jed­er Trau­ma­tisierung bewusst sein. Darum in Erin­nerung an die Opfer: Zichron­am livracha – möge unser Gedenken ein Segen wer­den.

Marie-Christine Andres Schürch
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