Liebe Menschen, sprecht miteinander!
Rund 3 500 Menschen aus dem Kanton Aargau kamen und feierten ein Fest für Respekt und Menschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen. 62 Organisationen aus dem Kanton, darunter die drei Landeskirchen, hatten zur Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit eingeladen.Verschmitzt lächelnd, eine Stofftasche über die Schulter geworfen, steht Luc Humbel gemeinsam mit über dreitausenden Menschen auf dem Bahnhofsplatz in Aarau. Der Präsident des Kirchenrates der Römisch-Katholischen Landeskirche Aargau ist einer von etwa hundert Mitarbeitenden der Landeskirche und Kirchgemeinden, die zum «Aufstand für Anstand» gekommen sind. «Wir tragen Sorge», lautet der Aufdruck auf den Taschen. Darin: Äpfel. «Die Äpfel sind nicht biblisch begründet», erklärt Luc Humbel. «Sie dienen dazu, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Wir wollen nicht stumm mitlaufen. Die Taschen haben wir schon vor dem Anlass in Auftrag gegeben. Sie sind Zeichen dafür, dass wir in der Gesellschaft einen sorgsamen Umgang pflegen wollen».
Vielfalt der Organisationen
«Wir hatten mit tausend Leuten gerechnet. Es ist überwältigend, dass es jetzt über dreitausend sind», sagt Cédric Wermuth, Co-Präsident der SP Aargau. Die hohe Teilnehmerzahl ist ein starkes Zeichen in einem Kanton, der in den letzten Jahren meist wegen Protesten gegen Asylunterkünfte Schlagzeilen machte; beispielsweise in Aarburg, Bettwil, Bremgarten oder aktuell in Oberwil-Lieli.
«Die Asylpolitik spaltet den Aargau», titelte der Tagesanzeiger im August 2014. «Heute zeigen wir das andere Gesicht des Aargau», stellt Cédric Wermuth zufrieden fest. Und dieses Gesicht ist bunt und vielfältig, vereint Organisationen, die in Einzelfragen vielleicht sonst weniger kooperieren: christliche Kirchen und Pfarrgemeinden, Gewerkschaften, Jugendorganisationen, Parteien, Hilfswerke, Frauenorganisationen, integrative Vereine, Kulturschaffende, die jüdische Kultusgemeinde Endingen, der Verband Aargauer Muslime: Die Liste der beteiligten Organisationen ist lang. Entsprechend lang war auch der Demonstrationszug. Rund eine Stunde zogen Menschen mit Ballons und Fahnen durch Aarau; es wurde gelacht, geredet und musiziert, vereinzelt erklangen Sprechchöre gegen Fremdenfeindlichkeit.
Einigkeit in der Aussage
Beim Abschluss auf dem Aargauer Platz wurde zweierlei deutlich. Einerseits, dass sich die Veranstalter über die Kritik am ursprünglichen Veranstaltungstitel — «Aufstand der Anständigen» — Gedanken gemacht hatten. «Dieser ist in der Kommunikation schwierig und kann ausgrenzend interpretiert werden», erläutert Luc Humbel auf Nachfragen. So änderten die Organisatoren das Motto in «Aufstand für Anstand». Andererseits, dass in einer Zeit, in der oft Menschen «mit heissen Köpfen und kaltem Herz» die Diskussionen beherrschen, mehr Anstand im Umgang miteinander und mit den Fremden und Flüchtenden notwendig ist. Ein Blick in die Kommentarspalten unter Artikeln zur Flüchtlingsproblematik zeige, wie nötig es sei, dass man Menschen «mit kühlem Kopf und warmem Herz brauche», formulierte es Christoph Weber-Berg, Präsident des Kirchenrats der Reformierten Landeskirche Aargau, der im Namen aller drei Landeskirchen als Redner auftrat. Patrizia Bertschi, Präsidentin des Vereins Netzwerk Asyl Aargau, begrüsste die Anwesenden mit «Liebe Menschen» und erinnerte daran, dass «die Menschen auf der Flucht ihr Leben aufgegeben haben und nichts mitbringen, als ihre Talente und Fähigkeiten. Sie wollen sich integrieren und arbeiten. Ihre Fähigkeiten bringen uns weiter».
Deutliche Worte
«Aaschtändig isch grüessech säge. Aaschtändig isch d Hang gä. Aaschtändig isch, öperem dr Name z säge. Aaschtändig isch, enang i d Ouge z luege…», beginnt der eigens für den Anlass
verfasste Text von Guy Krneta. Der freie Schriftsteller beschrieb, musikalisch unterlegt und beim Kleinen beginnend, dass Anstand letztlich keine Grenze kennt und kennen darf. Nicht nur sein Beitrag wurde immer wieder von Applaus und Jubel unterbrochen. Auch die Rede von Lelia Hunziker, Geschäftsführerin der Anlaufstelle Integration Aargau, in Aarau, fand breite Zustimmung. Sie wählte deutliche Worte: Es werde in den Medien gegen Fremde gepoltert und seit beinahe hundert Jahren in verschiedenster Form der Satz «Das Boot ist voll» herausgekotzt. Ihre Worte stehen den oft ebenso giftigen Kommentaren flüchtlingsfeindlicher Menschen gegenüber. «Wir sind nicht naiv», formulierte Christoph Weber Berg, «wir erfahren die Probleme mit Flüchtlingen in den Kirchgemeinden, Aufnahmezentren, bei der Caritas oder beim Hilfswerk der evangelischen Kirchen Schweiz». Doch es ändere nichts, so sind sich alle Redner einig, wenn die Schweiz Mauern hochziehe. «Sprecht miteinander, denn nichts fördert Integration so gut wie Begegnung», forderte Lelia Hunziker. Und ein Transparent macht deutlich: «Es hilft nichts, die Flüchtlinge an der Urne abzuschaffen – sie müssen dennoch fliehen».