
Krippenspiel «Ab uf Ägypte»
Krippenspiel «Ab uf Ägypte»
Das Nachstellen der Weihnachtsgeschichte nach Franz von Assisi feiert 800-Jahre-Jubiläum
LanÂdauf, landab werÂden jetÂzt wieder KripÂpenÂspiele erarÂbeitÂet. Die WeiÂhÂnachtsÂgeschichte mit Kindern theÂatralisch umzusetÂzen, hat eine sehr lange TraÂdiÂtion – und begeisÂtert auch im ZeitalÂter von NetÂflix und SmartÂphone. Ein AugenÂschein bei den Proben in PratÂteln.Was für ein Lärm! Der PfarÂreisaal unterÂhalb der Kirche St. Anton in PratÂteln wackÂelt förmÂlich, während rund 30 Kinder zwisÂchen fünf und elf Jahren in ihm herumÂtoÂben. Sie spieÂlen Fangis oder pumpen auf andere Weise die viele überÂschüsÂsige Energie in den Boden, über die Kinder auf so beneiÂdenswerte Art verÂfüÂgen. Aber natürÂlich sind die Buben und MädÂchen nicht gekomÂmen, um über StühÂle zu kletÂtern oder von TisÂchen zu hüpfen. Es ist Mittwochabend um 18 Uhr, und zu diesem ZeitÂpunkt findÂen hier zwisÂchen Mitte OktoÂber und Mitte DezemÂber jewÂeils Proben zum ökuÂmenisÂchen KripÂpenÂspiel der katholisÂchen und reformierten KirchgeÂmeinÂden von PratÂteln-Augst statt. JetÂzt ist gerÂade Pause, der Sirup ist verteilt und getrunkÂen, und bis zur nächÂsten ProbeneinÂheit bleiben den Kindern noch ein paar Minuten. Gut ausgeÂtoÂbt singt es sich dann gleÂich viel konzenÂtriÂertÂer!
Vielfältige Kinderschar
Dann ruft AssunÂta D’Angelo, die JugenÂdarÂbeiÂtÂerin der katholisÂchen KirchgeÂmeinde, die Kinder zurück auf die StühÂle, die im HalÂbkreis um ihr Klavier platziert sind. Und schon geht’s los mit einem eingängiÂgen Song von Andrew Bond, dem berühmten KomÂponÂisÂten von KinderÂliedern («Zimetschtern han i gern»); sein Werk bildet jewÂeils die musikalisÂche Basis des jährlichen PratÂtler KripÂpenÂspiels. AssunÂta D’AnÂgeÂlo leitÂet seit 13 Jahren den ökuÂmenisÂchen KinderÂchor «RägeÂboge» der Gemeinde, seit zwölf Jahren verÂantÂwortet sie den Gesang beim KripÂpenÂspiel. Mit lauter Stimme und unbeirÂrt von ständiÂgen StörunÂgen führt sie durch die Lieder. Die KinderÂschar ist so vielfältig wie unsere heutige Gesellschaft; längst nicht alle scheinen zu verÂsteÂhen, was sie sinÂgen, und nur die Grösseren könÂnen die Texte auf dem NotenÂblatt lesen. Doch alle sind mit InterÂesse dabei. Kein WunÂder: Sie sind alle freiÂwillig hier, weil ihnen das ErarÂbeitÂen eines KripÂpenÂspiels Spass macht. AssunÂta D’AnÂgeÂlo sagt, die meisÂten seien Kinder von Leuten, die eine mehr oder weniger enge Beziehung zu den KirchgeÂmeinÂden haben. «Aber wir machen auch WerÂbung in der Schule – es waren sogÂar schon Kinder aus musÂlimÂisÂchen FamÂiÂlien dabei.»Das Krippenspiel feiert Geburtstag
Der ÜberÂlieferÂung zufolge feiert die TheÂaterÂform dieses Jahr ein gewichtiges Jubiläum: Es soll genau 800 Jahre alt sein. 1223 stellte Franz von Assisi im Wald von GrecÂcio, 90 KiloÂmeÂter nördlich von Rom, die WeiÂhÂnachtsÂgeschichte mit lebenÂden Tieren und MenÂschen dar. Dass der heilige OrdensÂgrünÂder die Messe in AnweÂsenÂheit von Tieren und in einÂer StallÂhöhÂle über einÂer echtÂen Krippe feierte, war typÂisch für ihn. Franziskus setÂzte stark auf Anschaulichkeit und TheÂatraÂlik, und er verÂstand sich herÂvorÂraÂgend darauf, Leute für religiöse Inhalte zu begeisÂtern. TatÂsächÂlich werÂden sich wohl die meisÂten Kinder, die einÂmal an einem KripÂpenÂspiel mitwirkÂten, ein Leben lang an diese Erfahrung erinÂnern.Theater beruht auf Religion
AllerdÂings: Sollte Franziskus im Wald von GrecÂcio tatÂsächÂlich den GrundÂstein zur heutiÂgen Form des KripÂpenÂspiels gelegt haben, tat er das nicht im luftleeren Raum. Religiöse Inhalte den GläuÂbiÂgen in theÂatralisÂchÂer Form näherzubrinÂgen, hat eine sehr lange TraÂdiÂtion, und das ist auch keine ÜberÂraschung – denn TheÂater hat eine starke sugÂgesÂtive Kraft und macht GeschichtÂen für alle auf eingängige Weise erlebÂbar. Man kann sogÂar sagen: Die Wurzeln des TheÂaters liegen im religiösen Spiel. Den ältesten HinÂweis auf ein TheÂaterÂstück liefert eine SteÂinÂstele aus der KulÂtur des MitÂtleren ReichÂes der Ägypter vor rund 4000 Jahren. Sie berichtet von einem Spiel zu Ehren des Gottes Osiris, bei dem an dessen LeiÂden, Tod und AuferÂsteÂhung erinÂnert wurde. Das gemahÂnt bereÂits stark an die PasÂsionÂsspiele des MitÂteÂlalÂters. SelbÂst die berühmten griechisÂchen DraÂmen entÂstanden alle zu Ehren des Gottes Dionysos, auch wenn man ihnen das kaum ansieht.Von den Franziskanern in die Welt getragen
Die TheÂaterÂwisÂsenschaft geht davon aus, dass die WeiÂhÂnachtsÂgeschichte schon wenige JahrhunÂderte nach ChrisÂtus in KripÂpenÂspieÂlen dargestellt wurde. Der älteste lateinisÂche Text für ein WeiÂhÂnachtsspiel, der uns erhalÂten blieb, ist das «Freisinger MagierÂspiel»; um 1080 wurde dieser Text im Chor des Freisinger Doms uraufgeÂführt. Er behanÂdelt die Ereignisse von der Geburt Christi bis zur Flucht nach Ägypten. Ob Franziskus der Erste war, der ein KripÂpenÂspiel im heutiÂgen Sinn aufÂführte, ist also nicht gesichert, widerÂlegen lässt sich das aber auch nicht. SichÂer jedoch ist, dass es die FranziskanÂer waren, die diese DarstelÂlungsÂform popÂuÂlarÂisierten und in die Welt truÂgen. Auch in die Schweiz: Das erste nachgewiesene KripÂpenÂspiel wurde hierzuÂlande im 13. JahrhunÂdert in der Fürstabtei St. Gallen aufgeÂführt.Ein «Grippenspiel»
Wie viele KripÂpenÂspiele heutzuÂtage jedes Jahr in der Schweiz gezeigt werÂden, weiss nieÂmand. Es sind HunÂderte. Das berühmteste von allen ist fraÂgÂlos die «Zäller Wiehnacht» des genialen TheÂaterkomÂponÂisÂten Paul Burkhardt, vom dem auch der EverÂgreen «O mein Papa» stammt. Die «Zäller Wiehnacht» wurde 1960 erstÂmals aufgeÂführt, in der DorÂfkirche der zürcherischen Gemeinde Zell. MitÂtlerÂweile ist sie in 20 Sprachen überÂsetÂzt worÂden, in den USA kenÂnt man sie zum Beispiel als «Swiss NativÂiÂty». Warum aber wird die Geschichte immer wieder neu interÂpretiert und neu geschrieben, wo es doch bereÂits so viele UmsetÂzunÂgen gibt? Die Frage geht an Roswitha Holler-SeeÂbass, Autorin des KripÂpenÂspiels in PratÂteln. «Immer dasÂselbe Stück zu spieÂlen, wäre für die Kinder doch langÂweilig», sagt sie – denn viele Kinder sind während mehrerer Jahre dabei. Dass das diesjährige Stück «Ab uf Ägypte» voller TageÂsakÂtuÂalÂität steckt, ist ein Zufall. Es geht um Flucht und die Schwierigkeit, Fremde irgendÂwo unterzubrinÂgen. «Als ich das Stück schrieb, wusste ich natürÂlich nicht, wie sich die poliÂtisÂche SitÂuÂaÂtion im Nahen Osten entwickÂeln wird», sagt Roswitha Holler-SeeÂbass. Dass sie aber gern TheÂmen aufnÂimmt, die gerÂade in der Luft liegen, bewies sie während der PanÂdemie: Damals hiess das Stück «WeiÂhÂnachtÂen fällt aus», und es hanÂdelte sich nicht um ein Krippen‑, sonÂdern um ein «GripÂpenÂspiel».Das Spiel mit Möglichkeiten
Roswitha Holler-SeeÂbass ist seit acht Jahren für den Text und die Regie des PratÂtler KripÂpenÂspiels verÂantÂwortlich. Während AssunÂta D’AnÂgeÂlo mit dem Gros des EnsemÂbles die Lieder einÂstudiert, zieht die RegisÂseurin einzelne DarstelÂlerinÂnen und Darsteller ab und geht mit ihnen auf der Bühne des PfarÂreisaals die Rollen durch. Das funkÂtionÂiert im klasÂsisÂchen Stil: Die RegisÂseurin zeigt, was sie erwartet, die Kinder wiederÂholen es. Die meisÂten von ihnen spieÂlen ganz unbeÂfanÂgen und mit viel Verve; HemÂmungen bezüglich TheÂatÂerÂauftritÂten entwickÂeln sich oft erst in der Pubertät. Die meisÂten Kinder schlüpfen gern in andere Rollen und mögen es, sich zu verkleiÂden; das Spiel mit fremÂden IdenÂtitäten hilÂft, das eigene IchÂbeÂwusstÂsein zu entwickÂeln und MöglichkeitÂen auszuÂloten. Wer welche Rolle spielt, legt die Leitung des KripÂpenÂspiels übriÂgens gemeinÂsam mit den Kindern fest. NatürÂlich ist es eine HerÂausÂforderung, für alle eine passende Rolle zu findÂen, aber die Zahl von Engeln und Hirten lässt sich ja immer etwas anpassen.Keine Panik!
Zugegeben: An diesem Abend im NovemÂber klingt der kleine KinderÂchor zuweilen noch ziemÂlich schräg, vor allem bei den StroÂphen, manche Kinder haben offenÂsichtlich keine Ahnung, wie die Melodie klinÂgen soll. Und der AufÂführungÂsterÂmin rückt schnell näher: Am SamÂstag, 16. DezemÂber, ist um 17 Uhr PreÂmiere in der katholisÂchen Kirche St. Anton, tags darauf folÂgt um 10 Uhr die AufÂführung im reformierten KirchgeÂmeinÂdeÂhaus. AssunÂta D’AnÂgeÂlo ist aber viel zu erfahren, um sich aus der Ruhe brinÂgen zu lassen. «Noch klingt es, als könÂnten sie es nicht – aber in drei Wochen werÂden sie es könÂnen.» Denn es sind Kinder – und Kinder lerÂnen schnell.MarÂius LeutenegÂger



