Kirchen vor ungewisser Zukunft

Kirchen vor ungewisser Zukunft

Die Zahlen zu den Kirch­enein- und Aus­trit­ten im Aar­gau zeigen: Die Abgänge bleiben hoch. Am Pas­toral­sozi­ol­o­gis­chen Insti­tut SPI in St. Gallen zeich­nen Experten ein düsteres Bild für die Zukun­ft der Kirchen in der Schweiz. Und auf der Strasse ange­sprochen, wis­sen die Leute oft selb­st nicht mehr so genau, warum sie eigentlich noch Kirchen­mit­glied sind.C. Banz aus Stet­ten ent­pup­pt sich im Rah­men ein­er spon­ta­nen Befra­gung am Baden­er Bahn­hof als Aus­nahme-Erschei­n­ung. Der 52-Jährige weiss genau, warum er Mit­glied der Katholis­chen Kirche ist. «Wegen den Werten – genau wegen denen ist unsere west­liche Gesellschaft ja auch so erfol­gre­ich. Mit jedem Aus­tritt geht das ver­loren». Die meis­ten anderen reagieren über­rascht bis ver­legen auf die Frage, warum genau sie denn noch Kirchen­mit­glied sind. «Weil sich das so gehört», meint G. Stof­fel aus Ennet­baden, Mit­glied der Reformierten Lan­deskirche Aar­gau. Als Argu­ment wer­den oft noch die Kinder genan­nt, oder dann von jün­geren Leuten wie der 22-jähri­gen L. Schele­sen aus Bein­wil am See der Wun­sch, später ein­mal kirch­lich zu heirat­en.Zunahme an Ein­trit­ten bei den Katho­liken Um die 6 000 Per­so­n­en kehren jährlich allein im Kan­ton Aar­gau den grossen Lan­deskirchen den Rück­en. Aktuell sind noch 220 000 Aar­gauerin­nen und Aar­gauer katholisch, 175 000 reformiert. Den­noch sprach das Aar­gauer Region­alfernse­hen Tele M1 unlängst von ein­er Trendwende angesichts der von der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche für das Jahr 2014 veröf­fentlicht­en Zahlen. Auch die Aar­gauer Zeitung titelte mit sink­enden Kirchenaus­trit­ten und steigen­den Ein­trit­ten. Auf den ersten Blick stimmt das. Waren es 2012 bei den Katho­liken noch 82 Neuein­tritte, kon­nten für 2013 bere­its 118 und im ver­gan­genen Jahr 141 katholis­che Neu­mit­glieder aufgenom­men wer­den. Nicht ein­gerech­net sind hier­bei die Neuzugänge durch Taufen. Allein in Baden waren das für 2014 gesamthaft 70, weiss Rita Wil­di, Pfar­reisekretärin in Baden. Mar­cel Not­ter, Gen­er­alsekretär der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche im Aar­gau, freut sich über diese Zunahme und macht neben einem «Franziskus-Effekt» zwei weit­ere regionale Fak­toren als Ursachen für diese «pos­i­tive Entwick­lung» gel­tend. «Das hat mit der guten Seel­sorgear­beit in den Kirchge­mein­den und Pfar­reien zu tun. Weit­er lässt sich nach­weisen, dass über die neue Web­seite www.kircheneintritt-ag.ch ver­schiedene Men­schen wieder zurück zur Kirche gefun­den haben.»Weit­er­er Mit­glieder­schwund erwartet Sieht man diese Zahlen jedoch im Ver­hält­nis zu den weit­er­hin auf hohem Niveau stag­nieren­den Kirchenaus­trit­ten (2013 bei den Katho­liken 2 952, 2014: 3 062), dürfte sich die Idee ein­er Trendwende wohl rel­a­tivieren. Das bestätigt auch Judith Albiss­er vom Pas­toral­sozi­ol­o­gis­chen Insti­tut in St.Gallen (SPI): «Einen Franziskus-Effekt gibt es nicht. Ein wichtiger Fak­tor für den Mit­glieder­schwund der bei­den Lan­deskirchen ist die stetig wach­sende Zahl von Kon­fes­sion­slosen: Es wer­den heute immer weniger Men­schen getauft, Kirchenaus­tritte nehmen zu und auch viele migri­erte Men­schen aus eini­gen EU/EFTA Län­der sind kon­fes­sion­s­los.» Für die Zukun­ft sieht Judith Albiss­er keine Trendwende. Für die wis­senschaftliche Mitar­bei­t­erin mit Schw­er­punkt Kirchen­sta­tis­tik und christliche Migar­tion­skirchen ste­ht fest: «Die Mit­gliederzahlen wer­den weit­er­hin zurück­ge­hen. Die Prog­nosen sind nicht gut.» Auch ein volk­sna­her Papst wie Franziskus werde daran wenig ändern. «Die kon­stant hohen Aus­trittszahlen zeigen einen gesellschaftlichen Trend in Wes­teu­ropa. Dieser Trend kann auch durch einen neuen Papst wie Franziskus in so kurz­er Zeit nicht gestoppt wer­den.»Weniger Ein­tritte bei den Reformierten Was machen die Kirchen denn falsch? Machen Sie über­haupt etwas falsch? Sprich: Reagieren die Mit­glieder der Schweiz­er Lan­deskirchen mit­tler­weile über­haupt noch auf die Arbeit der Kirchen, deren Hal­tung in sozialen und poli­tis­chen Fra­gen? «Eine schw­er zu beant­wor­tenden Frage», find­et Judith Albiss­er vom SPI in St. Gallen. Dass der Miss­brauchsskan­dal von 2010 in der Katholis­chen Kirche ver­mehrt Kirchenaus­tritte – auch bei den Reformierten – gener­ierte, beweisen die Zahlen. Laut Mar­cel Not­ter von der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau kehrten 2010 im Rüe­bliland gegen 4 000 Men­schen der Katholis­chen Kirche den Rück­en, also 1000 mehr als in anderen Jahren. Sowohl am SPI als auch bei den Bistümern und Kan­ton­alkirchen ist man sich dessen bewusst, dass die kom­menden Jahre in der Schweiz­er Kirchen­land­schaft weit­greifende Umbrüche brin­gen wer­den. Die weit­er­hin sink­ende Attrak­tiv­ität kirch­lich­er Berufe und der damit ein­herge­hende Per­sonal­man­gel wer­den das Ange­bot in der Seel­sorge weit­er aus­dün­nen. Es wird immer grössere Seel­sorge-Ein­heit­en geben (bei den Katho­liken Pas­toral­räume genan­nt). Die Reformierten im Aar­gau verze­ich­nen zwar gegenüber den Katho­liken mehr Ein­tritte, doch die Entwick­lung ver­hält sich ins­ge­samt beun­ruhi­gend. Die jährlichen Aus­tritte liegen eben­falls um die 3 000, nach 290 Ein­trit­ten 2013 kon­nten für 2014 nur noch 241 Neu­mit­glieder verze­ich­net wer­den. Hinzu kommt, dass der Aar­gau seit ein paar Jahren katholisch ist. Migran­tinnen und Migranten aus südlichen, tra­di­tionell katholis­chen Län­dern kon­nten bei den Katho­liken die Ver­luste in Gren­zen hal­ten und sorgten dafür dass reformierte Stamm­lande wie Zürich und der Aar­gau mit­tler­weile katholisch sind. In den bei­den Basel ist der Vor­sprung eben­falls bis auf wenige Prozent­punk­te zusam­mengeschrumpft.Eso­terik­er het­zen gegen die tra­di­tionellen Kirchen Warum kehren die Men­schen den Kirchen noch immer in der­art hohem Aus­mass den Rück­en? Wegen der kon­ser­v­a­tiv­en Sex­ual­moral und ihrer diskri­m­inieren­den Hal­tung gegenüber gle­ichgeschlechtlichen Paaren (Fall Bür­glen)? Noch immer wegen der Miss­brauchs­fälle? «Wir wis­sen kaum etwas über die Beweg­gründe bei Aus­trit­ten», meint Rita Wil­di, Pfar­reisekretärin in Baden. «Die meis­ten Aus­tritte basieren auf Stan­dard­briefen aus dem Inter­net; da gibt es teils selt­same, kostenpflichtige Plat­tfor­men, die neb­st Briefvor­la­gen auch gle­ich Rit­uale zur Entchris­tian­isierung anbi­eten.» Ein­schlägige Recherchen von Hor­i­zonte in der eso­ter­ischen Szene bele­gen: An Fam­i­lien­stellen sowie anderen alter­na­tiv-spir­ituellen Ange­boten wird gezielt gegen die tra­di­tionellen Kirchen – ins­beson­dere die katholis­che – Stim­mung gemacht, indem diesen für ver­schiedene gesellschaftliche Entwick­lun­gen und indi­vidu­elle Schick­sale die Schuld in die Schuhe geschoben wird. Daneben gibt es noch jene, die wie ein 83-Jähriger aus Baden ein­fach nur das Geld reut, also keine Kirchen­s­teuer mehr bezahlen will. «Das ist eher eine Min­der­heit», meint die Baden­er Pfar­reisekretärin Rita Wil­di und freut sich über die «vie­len Ein­tritte», welche die Stadtp­far­rei Baden fürs ver­gan­gene Jahr zu verze­ich­nen hat­te. 12 an der Zahl. «Die Aus­tritte sind im Rah­men geblieben, haben leicht zugenom­men. 2013 waren es 106, 2014 nun 120.» 
Andreas C. Müller
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