Im Waldkloster auf der Suche nach dem Göttlichen
Bild: © Roger Wehrli

Im Waldkloster auf der Suche nach dem Göttlichen

Beim Staunen über die kleinen Wunder der Natur wächst die Verbundenheit mit Gott

Das Leben im Waldkloster ist einfach – und doch geniessen die Teilnehmenden hier einen seltenen Luxus. Sie legen für eine Woche Handy, Uhr und Terminplan zur Seite, stehen mit der Sonne auf und leben im eigenen Rhythmus in den Tag hinein. Wo die Geräusche des Waldes die innere Stimme zum Klingen bringen, wächst die Verbundenheit mit Gott.

Werken, Beten, Schlafen, Essen und diskutieren

Die August­sonne ste­ht bere­its ein Stück über den Baumwipfeln, ihre Strahlen fall­en auf die Wald­wiese. Janique, Karl, Cor­nelia, Ani­ta und Ursu­la streck­en sich der Wärme ent­ge­gen und schüt­teln die Feuchtigkeit und Kälte der Nacht ab. Sie haben im Zelt auf der Wiese oder unter dem Blät­ter­dach im Wald nebe­nan geschlafen.

Vor dem Cevi-Haus am Wal­drand wäscht mir Cor­nelia die Füsse. Nach diesem Begrüs­sungsritu­al steigen wir auf einem kurzen Pfad hinab in den Wald und betreten einen Platz mit Feuer­stelle, Sitzkreis und Gebet­splatz. Über­all ent­decke ich ver­spielte Kunst­werke aus Wald­ma­te­r­i­al: ein Mobile aus Zweigen, Türme aus Steinen, ein Bild aus Ast­stück­en. Spuren der let­zten Tage, die im Wech­sel von Werken, Kochen, Essen und Schlafen, Gesel­ligkeit und Beten ver­gan­gen sind. Hier im Wald ober­halb von Alt­stet­ten nahe der Stadt Zürich haben sich die Teil­nehmenden des Wald­klosters ein­gerichtet und geniessen den Luxus, Handy, Uhr und Ter­min­plan bei­seit­ezule­gen, mit der Sonne aufzuste­hen und im eige­nen Rhyth­mus in den Tag hineinzuleben.

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Ein ein­fach­es Kloster

Sie alle sind ver­bun­den mit dem Vere­in «Stadtk­loster Zürich», den es seit zehn Jahren gibt. Die Idee, das Stadtk­loster für eine Woche in den Wald zu ver­legen, hat­te Karl Flück­iger. Der reformierte Pfar­rer, Organ­i­sa­tions­ber­ater und Psy­chother­a­peut engagiert sich seit den Anfän­gen für das Stadtk­loster. Im Som­mer 2024 fand unter dem Mot­to «Stadtk­loster goes wild» zum ersten Mal eine Wald­woche statt. Die Woche im Alt­stet­ter­wald ist nun die zweite Aus­gabe des Wald­klosters. «Es ist ein ein­fach­es Kloster», sagt Janique Behman, «wir haben einen Ort zum Beten, zum Essen und zum Schlafen.» Behman ist Vor­standsmit­glied beim Vere­in Stadtk­loster und lebt zusam­men mit Geflüchteten und Gästen in der Stadtk­loster-Wohnge­mein­schaft in einem ehe­ma­li­gen Pfar­rhaus in Zürich-Wiedikon.

Gemein­sam im Wald

Im Wald­kloster sind alle Inter­essierten willkom­men. Einige bleiben die ganze Woche, andere nur ein paar Tage oder für eine Nacht. Die Teil­nehmenden kochen auf dem Feuer, streifen schweigend durch die Gegend, hal­ten gemein­sam Tagzeit­enge­bete, schlafen im Freien, disku­tieren, hantieren mit Lehm, Steinen und Holz oder lauschen dem Pfeifen der Vögel und ihrer inneren Stimme. Wass­er und san­itäre Anla­gen nutzt die Gruppe im nahen Cevi-Haus.

Im Lauf des Tages kom­men neben mir noch Tobias, Rahel, Wern­er, Ismael und Khalid dazu und unsere Gruppe wächst von sechs auf zwölf Per­so­n­en an. «In den ersten Tagen waren noch mehr Men­schen aus ver­schiede­nen Reli­gio­nen dabei, Kinder und Erwach­sene», berichtet Janique Behman. 

Das Tages­the­ma lautet «Weg». Nach der Ein­stim­mung im Sitzkreis macht sich für eine Gehmed­i­ta­tion jed­er auf seinen eige­nen Weg. Das bewusste Gehen schärft die Sinne: Wie fühlt sich der Unter­grund an? Was streift meinen Arm? Wie weit weg ist das Sum­men dieser Mücke?

Das Revi­er der Spinne

«Meine Füsse und der Boden haben sich gegen­seit­ig erkun­det, es war fast zärtlich», berichtet Cor­nelia nach der Med­i­ta­tion. «Ich hat­te auf dem Rück­weg das Gefühl: Ich habe mir diesen Weg angeeignet, indem ich ihn zuvor gegan­gen bin», sagt Ursu­la. Und Ani­ta erzählt: «Ich ging auf dem Weg und spürte: Hier ist mein Revi­er.» Beim Gehen quer­waldein, abseits eines Pfades, durch das Gewirr der Äste und durch das Unter­holz, habe sich das aber geän­dert: «Ich duck­te mich unter einem Spin­nen­netz, das zwis­chen den Ästen hing und merk­te: Hier ist das Revi­er der Spinne.»

Wir kochen unser Mit­tagessen auf dem Feuer, danach lädt uns Tobias zu einem Work­shop zum The­ma Ökospir­i­tu­al­ität ein. Jed­er sucht sich einen Rück­zug­sort, um dort zu schauen, zu hören und zu spüren, was die Natur ihm predigt.

Ameisen

Sitzend auf einem umge­fal­l­enen Baum­stamm betra­chte ich das Leben zu meinen Füssen. Ich ver­folge, wie sich ein Wurm, Erde vor sich her­schiebend, aus dem Boden kämpft. Dabei türmt er die Erde zu einem baum­nuss­grossen Häufchen auf. Schon oft habe ich solche zuhause im Rasen gese­hen, nun habe ich zum ersten Mal beobachtet, wie eines entste­ht.

Ameisen eilen hin und her, auf den ersten Blick wirr durcheinan­der. Beim län­geren Hin­se­hen ent­decke ich aber Muster. Die Ameisen fol­gen einem Plan, den vielle­icht nur sie ken­nen. Fra­gen gehen mir durch den Kopf: «Welchem Plan folge ich? Ist es eine Anmas­sung, über­haupt Pläne zu machen und zu ver­fol­gen?»

Ich bin Teil davon

Je länger ich auf dem Baum­stamm sitze, die Sonne mir die Schul­tern wärmt und die Ameisen ihre Bah­nen ziehen, desto klar­er dringt ein Gedanke in mein Bewusst­sein: «Mach ein­fach mit.» Die Natur nimmt ihren Lauf, sie fol­gt den ewigen Geset­zen von Wer­den und Verge­hen. Ich bin Teil davon. Und ich darf ein­fach mit­machen. Mich nicht quer­stellen, son­dern mich hineingeben. Aufmerk­sam und voller Ver­trauen, dass alles seinen richti­gen Lauf nimmt.

Was predigen die Brennesseln?

Als wir uns wieder tre­f­fen, tauschen wir unsere Erfahrun­gen aus. Rahel hat ein Spin­nen­netz beobachtet, gese­hen, wie es die Bewe­gun­gen des Windes mit­macht, ohne zu zer­reis­sen. Wern­er hat einen alten Baum betra­chtet, «ein riesiges, starkes Geschöpf». Ani­ta hat das Blät­ter­dach über dem Sitzkreis bewun­dert, das wie eine schützende Hand über uns allen schwebt. Karl schmun­zelt und erk­lärt, er habe ver­sucht, her­auszufind­en, was die Brennnes­seln ihm predi­gen. Hin­ter der aggres­siv­en Fas­sade stecke eine Pflanze, die Schmetter­lin­gen Nahrung und Unter­schlupf biete. «Ich spüre, wie wir mit den anderen Geschöpfen ver­bun­den sind, wir atmen den gle­ichen Sauer­stoff», sagt Tobias.

Die Fülle der Schöpfung umgibt uns

Die Teil­nehmenden am Wald­kloster sind Men­schen, die in Verbindung kom­men wollen mit Gott und sein­er Schöp­fung. Es sind Men­schen, die sich viele Gedanken machen über das Leben, die Welt und gelebte Sol­i­dar­ität. Das Nach­denken über Gott ist im Wald­kloster ver­bun­den mit prak­tis­ch­er Tätigkeit. Wer hier ist, knetet Teig, schnitzt Stöcke, flicht Zweige und sam­melt Rinde. Dabei reift die Erken­nt­nis, wie wenig es eigentlich braucht, um zu gestal­ten und sich daran zu freuen. Die Fülle der Schöp­fung umgibt und inspiri­ert uns alle. Karl find­et dafür die Worte: «Ich brauche so wenig und habe doch alles.»

Im Diesseits das Jenseitige erfahren - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz 6

Dieser Text/dieses Video ist eine Pro­duk­tion der inter­re­ligiösen Zeitung «zVis­ite». zVis­ite ist eine Koop­er­a­tion von reformiert., die evan­ge­lisch-reformierte Zeitung, Forum, Mag­a­zin der katholis­chen Kirche im Kan­ton Zürich, tach­les, das jüdis­che Wochen­magazin, Licht­blick, Zeitung der römisch-katholis­chen Pfar­reien des Kan­tons Aar­gau, Christkatholisch, Zeitschrift der Christkatholis­chen Kirche, Kirchen­bote, evan­ge­lisch-reformierte Zeitung BS, BL, SO, SH und Zen­tralschweiz und dem katholis­chen Pfar­rblatt Bern.

Marie-Christine Andres Schürch
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