Ich muss mich überzeugen können

Johannes 20,24–29Thomas, der Didy­mus genan­nt wurde, ein­er der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Her­rn gese­hen. Er ent­geg­nete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Hän­den sehe und wenn ich meinen Fin­ger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drin­nen ver­sam­melt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei ver­schlosse­nen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: … Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.Ein­heit­süber­set­zung 2016 

Ich muss mich überzeugen können

In diesen Monat­en der staatlichen Verord­nun­gen ist in mir wie sel­ten zuvor die Frage lebendig gewor­den, auf wen ich schaue, wenn es um mein Ver­hal­ten geht. Folge ich der Autorität und bin immer regelkon­form? Folge ich den Wis­senschaftlern und glaube an etwas, das ich nicht sehen kann? Oder unter­schei­de ich zwis­chen meinem öffentlichem und meinem pri­vat­en Leben? Vielle­icht erscheine ich als angepasst, wenn Fremde mich sehen kön­nen, schere mich aber keinen Deut um die Regeln, wenn ich mit Fre­un­den zusam­men bin?Wenn es um meine Überzeu­gun­gen geht, wem folge ich dann? Allzu leicht­gläu­big schliesse ich mich oft der ver­meintlichen Mehrheit an, um nicht anzueck­en. Gegen den Strom zu denken, kostet Kraft. In vie­len Diskus­sio­nen stelle ich meine vor­läu­fige Ein­stel­lung anderen Men­schen vor und höre darauf, wie sie denken. Ich ste­he im Dia­log, ich sage gar: Ich entste­he im Dia­log. Und ich bleibe (hof­fentlich) lern­fähig und bin bere­it, mich überzeu­gen zu lassen.Wer mich überzeugt und was mich schliesslich verän­dert, entschei­det sich nur zum Teil in bewusster Weise. Es geht in mir nicht immer sehr sach­lich zu. Frühere Erfahrun­gen und die Beziehun­gen zu meinen Gesprächspart­nern spie­len bedeu­tende Rollen. Und natür­lich ist oft meine Angst um Zuge­hörigkeit gröss­er als meine aufrichtige Suche nach der Wahrheit.Der Abschnitt aus dem Johan­ne­se­van­geli­um, der am Fest des hl. Thomas gele­sen wird, eignet sich vorzüglich für eine kleine Pro­voka­tion. Man muss nur die Mitte weglassen (wie im oben gedruck­ten Text), und schon ergibt sich eine moralis­che Inter­pre­ta­tion, die wir gut ken­nen. Blind zu glauben und sich grad nicht selb­st überzeu­gen zu wollen, war jahrhun­derte­lang das gepredigte Ide­al. Weil er damit nicht ein­ver­standen war, wurde Thomas als der Zwei­fler in die Ecke der unanständi­gen Heili­gen gestellt. Zweifeln galt als das Tor zur Sünde, Sel­ber­denken stand im Geruch der Ungläu­bigkeit und hat­te oft (physisch oder sozial) den Auss­chluss aus der Gemeinde zur Folge.Thomas hat­te stets den Hang zum Sel­ber­denken. Darum ist er der Schutz­pa­tron der Zwei­fler, ein drin­gend benötigter Heiliger aller Zeit­en. Und weil er von Jesus eben nicht moralisch abgekanzelt wurde, gehört die Mitte des Evan­geli­ums unbe­d­ingt nachgeliefert:Streck deinen Fin­ger hier­her aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläu­big, son­dern gläu­big! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gese­hen hast, glaub­st du.Die Meth­ode des kri­tis­chen Hin­ter­fra­gens wird da von unser­er höch­sten religiösen Autorität legal­isiert: Überzeug dich selb­st und sei nicht ungläu­big – und nicht leicht­gläu­big –, son­dern gläu­big. Wir wer­den ermutigt, auch in religiösen Fra­gen kri­tisch zu bleiben. Wir wer­den ermutigt, genau hinzuschauen, wem wir Glauben schenken und wem nicht, und uns selb­st und unseren Gedanken treu zu sein. Wir müssen und dür­fen uns selb­st überzeu­gen. Unter Umstän­den erge­ht es uns dabei wie Thomas. Er ging seinen eige­nen Weg, auch wenn er damit nicht wirk­lich Kar­riere gemacht hat. Er kam nicht nach Rom und nicht nach Jerusalem oder wie immer die Mitte der Welt heis­sen mag. Er sei nach Indi­en aus­ge­wan­dert und bleibt uns den­noch sehr nahe.Lud­wig Hesse, The­ologe, Autor und Teilzeitschrein­er, war bis zu sein­er Pen­sion­ierung Spi­talseel­sorg­er im Kan­ton Basel­land 
Redaktion Lichtblick
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