
Bild: © Cristian Gennari/Romano Siciliani/KNA
Hilas Geschichte
Riccardo Bonfranchi hat Fluchtgeschichten von vier Frauen aufgeschrieben, die er bei einem Freiwilligeneinsatz der Caritas kennengelernt hat. Hilas Geschichte ist eine von ihnen. Sie steht für Vertreibung, Gewalt und unermessliches Leid, aber auch für die ungebrochene Hoffnung auf ein würdiges Leben.
Ich habe Hila* jeweils bei ihr zu Hause besucht. Jedes Mal tischte sie grünen Tee, Gebäck und Schokolade auf und erzählte mir ihre Geschichte
.Eine Geburtsurkunde besitzt Hila nicht. Ihr Alter konnten wir nur schätzen. Wir einigten uns auf das Geburtsjahr 1988. Dann wäre sie jetzt ungefähr 37 Jahre alt.
Kindheit in Afghanistan
Geboren wurde Hila im Landesinneren von Afghanistan in einem kleinen Dorf. Ihr Wohnhaus war marode und wurde immer wieder von starken Regenfällen überflutet. Hila besuchte in Afghanistan während vier Jahren die Schule. Länger durfte sie nicht. Als sie etwa zehn Jahre alt war, verliess ihre Mutter die Familie und Hila bekam eine Stiefmutter. Diese übergab die Jugendliche mit etwa 14 Jahren gegen Bezahlung einem «alten Mann», dessen Name Hila sich weigerte auszusprechen. Bei ihm lebte sie in einem Kellerverlies. Er schlug sie regelmässig und vergewaltigte sie. Als ihre Stiefmutter sie nach ein paar Monaten besuchte und sah, wie schlecht es ihr ging, durfte Hila den Mann verlassen. Allerdings war sie da bereits schwanger von ihm. Hila gebar eine Tochter, die bei ihrem Bruder und dessen Frau aufwuchs.
Hila heiratet
Hila lernte einen Mann kennen, den sie 2014 heiratete. Von ihm wurde sie mit Zwillingen schwanger, die sie jedoch verlor. Hila erzählte weinend von ihren fünf Fehlgeburten. Da die Familie ihres Mannes und insbesondere ihr Schwiegervater sie immer wieder auf den Bauch schlugen, starben die Zwillinge im vierten Schwangerschaftsmonat. Zwei Monate später wurde Hila wieder schwanger. Dieser Fötus starb während des achten Schwangerschaftsmonats, nachdem sie der Schwiegervater wiederum misshandelt hatte. Hila benötigte einen Kaiserschnitt und verbrachte 22 Tage im Krankenhaus. Später in der Schweiz erlitt sie zwei weitere Fehlgeburten. 2016 beschloss das Paar aus Afghanistan zu fliehen.
Flucht nach Europa
Über Kabul flogen sie in den Iran nach Meschhed und Teheran. Mit Hilfe von Schleppern gelangten sie in die Türkei, die sie auf Viehtransportern voller Menschen von Ost nach West durchquerten. Die ganze Zeit über hatte die schwangere Hila starke Bauchschmerzen. Nach der Türkei führte die Fluchtroute nach Griechenland auf die Insel Lesbos. Sie habe grosse Angst gehabt, dass das Schiff dem Wellengang nicht standhalten würde. Dort angekommen, wurde Hila aufgrund ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft in ein Spital in Athen gebracht, wo sie schliesslich ihren Sohn gebar. Von Athen flog die Mutter mit dem Neugeborenen nach Deutschland. Für ihren Mann reichte das Geld für den Flug nicht. «Als mein Mann in Athen blieb, wurde die Welt dunkel für mich», erinnerte sich Hila. Die Trennung von ihm war für sie eine schwere Zeit.
Angekommen in der Schweiz
Im September 2017 erreichte Hila als Asylsuchende die Schweiz. Nach mehreren Stationen kamen Mutter und Sohn schliesslich ins Bundesasylzentrum Brugg. Das Baby war nun ein halbes Jahr alt. Nach einer Impfung konnte es den linken Arm und das linke Bein nicht mehr bewegen. Sie meldete dies mehrmals dem Leiter des Asylzentrums, der sie jedoch nicht ernst genommen habe, erzählte Hila, weil sie damals noch nicht gut Deutsch habe sprechen können. Ein freiwilliger Mitarbeiter wurde auf das Baby aufmerksam und veranlasste die Einlieferung ins Spital. Nach einem Spital- und Reha-Aufenthalt kam der kleine Junge wieder nach Hause. Noch heute, acht Jahre später, ist eine leichte körperliche Beeinträchtigung feststellbar.
Familiennachzug
Durch die Unterstützung von Caritas gelang der Familiennachzug des Mannes. Weil Hila nach all den Erlebnissen unter einer starken posttraumatischen Belastungsstörung litt, erfolgte eine Gefährdungsmeldung für das neugeborene Kind an die Kinder- und Erwachsenenschutz-Behörde (KESB). Hilas Sohn wurde ihr weggenommen und einer Pflegefamilie übergeben. Dagegen reichte Hila Beschwerde ein. Insbesondere der Umstand, dass Hilas Sohn in eine ihrer Meinung nach völlig unzureichende Pflegesituation gegeben wurde, war für sie sehr belastend. Es kam zu einem Rechtsstreit, der zur Folge hatte, dass offiziell bestätigt wurde, dass für die Unterbringung des Sohnes ein mangelhaft geführter Betrieb ausgewählt wurde, dem die Berechtigung unterdessen entzogen wurde.
Ein selbst bestimmtes Leben führen
Heute lebt Hila mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einem kleinen Aargauer Dorf. Sie sind auf Sozialhilfe angewiesen. Hila absolvierte eine Ausbildung zur Pflegefachperson bei der Spitex. Sie wünscht sich sehr, ein selbst bestimmtes Leben führen zu können, aber das gestaltet sich schwierig, weil sie von dem grossen Leid, das sie erlebt hat, immer wieder eingeholt wird.
* Hila heisst eigentlich anders. Aus Schutz ihrer Privatsphäre verwenden wir den Namen Hila, der übersetzt «Hoffnung» bedeutet.
Weitere Fluchtgeschichten, die der Autor aufgezeichnet hat, finden Sie hier.
Unterstützung für Hila
Der Kirchliche Regionale Sozialdienst (KRSD) Wohlen und Umgebung der Caritas Aargau konnte Hila in mehrfacher Hinsicht wirkungsvoll unterstützen. Einerseits finanziell – etwa durch die Abgabe einer «Tischlein.deck.dich»-Karte und die punktuelle Übernahme von Alltagskosten. Ein besonders wichtiger Beitrag des KRSD war die Ermöglichung des Familiennachzugs. Dass Hilas Ehemanns in die Schweiz kommen durfte, hat massgeblich zur Stabilisierung ihrer Lebenssituation beigetragen. Die empathische Begleitung ihrer bewegenden Lebensgeschichte bot zudem wichtige psychosoziale Unterstützung. Hila zeigte sich als starke, talentierte Frau mit grossem Integrationswillen, die durch die Hilfe des KRSD neue Perspektiven für sich und ihre Familie gewinnen konnte.


