Hilas Geschichte
Eine afghanische Frau steht zwischen Zelten in einem Lager für Geflüchtete aus Afghanistan am 2. September 2021 in Avezzano (Italien).
Bild: © Cristian Gennari/Romano Siciliani/KNA

Hilas Geschichte

Riccardo Bonfranchi hat Fluchtgeschichten von vier Frauen aufgeschrieben, die er bei einem Freiwilligeneinsatz der Caritas kennengelernt hat. Hilas Geschichte ist eine von ihnen. Sie steht für Vertreibung, Gewalt und unermessliches Leid, aber auch für die ungebrochene Hoffnung auf ein würdiges Leben.

Ich habe Hila* jew­eils bei ihr zu Hause besucht. Jedes Mal tis­chte sie grü­nen Tee, Gebäck und Schoko­lade auf und erzählte mir ihre Geschichte
.Eine Geburt­surkunde besitzt Hila nicht. Ihr Alter kon­nten wir nur schätzen. Wir einigten uns auf das Geburt­s­jahr 1988. Dann wäre sie jet­zt unge­fähr 37 Jahre alt.

Kindheit in Afghanistan

Geboren wurde Hila im Lan­desin­neren von Afghanistan in einem kleinen Dorf. Ihr Wohn­haus war mar­o­de und wurde immer wieder von starken Regen­fällen über­flutet. Hila besuchte in Afghanistan während vier Jahren die Schule. Länger durfte sie nicht. Als sie etwa zehn Jahre alt war, ver­liess ihre Mut­ter die Fam­i­lie und Hila bekam eine Stief­mut­ter. Diese über­gab die Jugendliche mit etwa 14 Jahren gegen Bezahlung einem «alten Mann», dessen Name Hila sich weigerte auszus­prechen. Bei ihm lebte sie in einem Kellerver­lies. Er schlug sie regelmäs­sig und verge­waltigte sie. Als ihre Stief­mut­ter sie nach ein paar Monat­en besuchte und sah, wie schlecht es ihr ging, durfte Hila den Mann ver­lassen. Allerd­ings war sie da bere­its schwanger von ihm. Hila gebar eine Tochter, die bei ihrem Brud­er und dessen Frau aufwuchs.

Hila heiratet

Hila lernte einen Mann ken­nen, den sie 2014 heiratete. Von ihm wurde sie mit Zwill­in­gen schwanger, die sie jedoch ver­lor. Hila erzählte weinend von ihren fünf Fehlge­burten. Da die Fam­i­lie ihres Mannes und ins­beson­dere ihr Schwiegervater sie immer wieder auf den Bauch schlu­gen, star­ben die Zwill­inge im vierten Schwanger­schaftsmonat. Zwei Monate später wurde Hila wieder schwanger. Dieser Fötus starb während des acht­en Schwanger­schaftsmonats, nach­dem sie der Schwiegervater wiederum mis­shan­delt hat­te. Hila benötigte einen Kaiser­schnitt und ver­brachte 22 Tage im Kranken­haus. Später in der Schweiz erlitt sie zwei weit­ere Fehlge­burten. 2016 beschloss das Paar aus Afghanistan zu fliehen.

Flucht nach Europa

Über Kab­ul flo­gen sie in den Iran nach Meschhed und Teheran. Mit Hil­fe von Schlep­pern gelangten sie in die Türkei, die sie auf Viehtrans­portern voller Men­schen von Ost nach West durch­querten. Die ganze Zeit über hat­te die schwan­gere Hila starke Bauch­schmerzen. Nach der Türkei führte die Fluchtroute nach Griechen­land auf die Insel Les­bos. Sie habe grosse Angst gehabt, dass das Schiff dem Wellen­gang nicht stand­hal­ten würde. Dort angekom­men, wurde Hila auf­grund ihrer fort­geschrit­te­nen Schwanger­schaft in ein Spi­tal in Athen gebracht, wo sie schliesslich ihren Sohn gebar. Von Athen flog die Mut­ter mit dem Neuge­bore­nen nach Deutsch­land. Für ihren Mann reichte das Geld für den Flug nicht. «Als mein Mann in Athen blieb, wurde die Welt dunkel für mich», erin­nerte sich Hila. Die Tren­nung von ihm war für sie eine schwere Zeit.

Angekommen in der Schweiz

Im Sep­tem­ber 2017 erre­ichte Hila als Asyl­suchende die Schweiz. Nach mehreren Sta­tio­nen kamen Mut­ter und Sohn schliesslich ins Bun­de­sa­sylzen­trum Brugg. Das Baby war nun ein halbes Jahr alt. Nach ein­er Imp­fung kon­nte es den linken Arm und das linke Bein nicht mehr bewe­gen. Sie meldete dies mehrmals dem Leit­er des Asylzen­trums, der sie jedoch nicht ernst genom­men habe, erzählte Hila, weil sie damals noch nicht gut Deutsch habe sprechen kön­nen. Ein frei­williger Mitar­beit­er wurde auf das Baby aufmerk­sam und ver­an­lasste die Ein­liefer­ung ins Spi­tal. Nach einem Spi­tal- und Reha-Aufen­thalt kam der kleine Junge wieder nach Hause. Noch heute, acht Jahre später, ist eine leichte kör­per­liche Beein­träch­ti­gung fest­stell­bar.

Familiennachzug

Durch die Unter­stützung von Car­i­tas gelang der Fam­i­li­en­nachzug des Mannes. Weil Hila nach all den Erleb­nis­sen unter ein­er starken post­trau­ma­tis­chen Belas­tungsstörung litt, erfol­gte eine Gefährdungsmeldung für das neuge­borene Kind an die Kinder- und Erwach­se­nen­schutz-Behörde (KESB). Hilas Sohn wurde ihr weggenom­men und ein­er Pflege­fam­i­lie übergeben. Dage­gen reichte Hila Beschw­erde ein. Ins­beson­dere der Umstand, dass Hilas Sohn in eine ihrer Mei­n­ung nach völ­lig unzure­ichende Pfle­ge­si­t­u­a­tion gegeben wurde, war für sie sehr belas­tend. Es kam zu einem Rechtsstre­it, der zur Folge hat­te, dass offiziell bestätigt wurde, dass für die Unter­bringung des Sohnes ein man­gel­haft geführter Betrieb aus­gewählt wurde, dem die Berech­ti­gung unter­dessen ent­zo­gen wurde.

Ein selbst bestimmtes Leben führen

Heute lebt Hila mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einem kleinen Aar­gauer Dorf. Sie sind auf Sozial­hil­fe angewiesen. Hila absolvierte eine Aus­bil­dung zur Pflege­fach­per­son bei der Spi­tex. Sie wün­scht sich sehr, ein selb­st bes­timmtes Leben führen zu kön­nen, aber das gestal­tet sich schwierig, weil sie von dem grossen Leid, das sie erlebt hat, immer wieder einge­holt wird.

* Hila heisst eigentlich anders. Aus Schutz ihrer Pri­vat­sphäre ver­wen­den wir den Namen Hila, der über­set­zt «Hoff­nung» bedeutet.

Weit­ere Flucht­geschicht­en, die der Autor aufgeze­ich­net hat, find­en Sie hier.

Unter­stützung für Hila

Der Kirch­liche Regionale Sozial­dienst (KRSD) Wohlen und Umge­bung der Car­i­tas Aar­gau kon­nte Hila in mehrfach­er Hin­sicht wirkungsvoll unter­stützen. Ein­er­seits finanziell – etwa durch die Abgabe ein­er «Tischlein.deck.dich»-Karte und die punk­tuelle Über­nahme von All­t­agskosten. Ein beson­ders wichtiger Beitrag des KRSD war die Ermöglichung des Fam­i­li­en­nachzugs. Dass Hilas Ehe­manns in die Schweiz kom­men durfte, hat mass­ge­blich zur Sta­bil­isierung ihrer Lebenssi­t­u­a­tion beige­tra­gen. Die empathis­che Begleitung ihrer bewe­gen­den Lebens­geschichte bot zudem wichtige psy­chosoziale Unter­stützung. Hila zeigte sich als starke, tal­en­tierte Frau mit grossem Inte­gra­tionswillen, die durch die Hil­fe des KRSD neue Per­spek­tiv­en für sich und ihre Fam­i­lie gewin­nen kon­nte.

Riccardo Bonfranchi
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