Inne­re Frei­heit trotz äus­se­rer Begrenzung

Inne­re Frei­heit trotz äus­se­rer Begrenzung

Psalm 18,20.29–30Er führ­te mich hin­aus ins Wei­te, er befrei­te mich, denn er hat­te an mir Gefallen. Ja, du lässt mei­ne Leuch­te erstrah­len, der Herr, mein Gott, macht mei­ne Fin­ster­nis hell.Ja, mit dir über­ren­ne ich Scha­ren, mit mei­nem Gott über­sprin­ge ich Mauern.Ein­heits­über­set­zung 2016 

Inne­re Frei­heit trotz äus­se­rer Begrenzung

Sich ein­schlies­sen las­sen. Frei­wil­lig. Um frei zu sein. Um Raum zu haben. Nicht so sehr um sich her­um. Son­dern in sich selbst. Dort Wei­te fin­den. Und das, was trägt, den Grund allen Seins. Das Fun­da­ment. Gott.Viel­leicht war das der Grund für Wibora­da, sich für ein Leben als Inklu­sin, als Ein­ge­schlos­se­ne zu ent­schei­den. Sie, die im 10. Jahr­hun­dert in Wohl­stand auf­wuchs und plötz­lich als jun­ges Mäd­chen auf dem Weg zur Kir­che erkennt, dass ihr Leben sich ändern muss, dass sie in der Art und Wei­se zu leben, die ihr vor­ge­ge­ben wird, nicht sie sel­ber sein kann. Etwas macht ihr plötz­lich Kopf­schmer­zen, und sie ändert ihr Leben radi­kal. Sie reist mit ihrem Bru­der nach Rom und drängt ihn, Mönch zu wer­den. Sie sel­ber ent­schliesst sich zu einem Leben als Ein­sied­le­rin. Das ver­heisst ihr grös­se­re Frei­heit als ein Leben als Ehe­frau und Mut­ter. Nach einer Pro­be­zeit in St. Geor­gen lässt sie sich in eine Klau­se bei St. Man­gen ein­schlies­sen und wird so die erste Inklu­sin in St. Gal­len; sechs Jahr­hun­der­te lang wird es in St. Gal­len die­se Form des reli­giö­sen Lebens geben.Wibora­das Klau­se hat zwei Fen­ster: eines zur Kir­che St. Man­gen und eines zur Aus­sen­welt. Durch das Fen­ster zur Kir­che nimmt Wibora­da an den Got­tes­dien­sten teil; an das ande­re Fen­ster kom­men Men­schen zu ihr und bit­ten sie um ihr Gebet und um ihren guten Rat. Mit jedem Rat, den sie gibt, ver­schenkt sie ein von ihr selbst geseg­ne­tes Brot, und nur bei­des zusam­men hat heil­sa­me Wir­kung auf die Rat und Hei­lung suchen­den Men­schen, die zu ihr kom­men.Als 926 die Ungarn in St. Gal­len ein­fal­len, bre­chen sie durch das Dach in ihre Klau­se ein und erschla­gen sie vor ihrem Altar mit drei Axt­hie­ben. Sie hat­te sich gewei­gert, die Zel­le zu ver­las­sen, den Über­fall aber vor­aus­ge­se­hen und dadurch Men­schen und auch die Klo­ster­bi­blio­thek ret­ten kön­nen. Auch dies eine Ent­schei­dung aus Frei­heit.Wozu Wibora­da einen Altar brauch­te in ihrer Zel­le? In ihrer Vita heisst es, dass sie sel­ber mit Kelch, Pate­ne (Hosti­en­scha­le), Kor­po­ra­le (Altar­tuch, auf dem Kelch und Pate­ne für die Eucha­ri­stie ste­hen) und Mani­pel (Teil des lit­ur­gi­schen Gewan­des für die Mess­fei­er) «das Opfer dar­zu­brin­gen gewohnt» war … offen­bar in gros­ser inne­rer Frei­heit. Der Maler Fer­di­nand Gehr stellt sie in der Wiborad­aka­pel­le St. Geor­gen mit einer roten Sto­la dar, die bei­de Schul­tern bedeckt, also mit einer Prie­ster­sto­la.Und so ist sie im karo­lin­gi­schen St. Gal­ler Pro­fess­buch, das um 800 ange­legt wur­de und in dem die Gelüb­de der St. Gal­ler Mön­che fest­ge­hal­ten sind, ver­ewigt: «K(A)L(ENDIS) MAI(IS) WIBERAT reclu­sa a paga­nis inte­r­emp­ta – Am ersten Mai wur­de die Reklu­sin Wibe­rat von den Hei­den getö­tet».Im Jahr 2021 wur­de Wibora­das Klau­se wie­der auf­ge­baut. Frau­en und Män­ner haben sich dort für je eine Woche ein­schlies­sen las­sen. Waren zu bestimm­ten Zei­ten ansprech­bar durch das Fen­ster in die Welt, nah­men Für­bit­ten ent­ge­gen, die in die täg­li­chen Gebets­zei­ten auf­ge­nom­men wur­den. Auch in die­sem Jahr, im Mai, wird die Klau­se wie­der genutzt wer­den; fünf Frau­en wer­den jeweils für eine Woche als Inklu­sin­nen leben.Was sie dort fin­den? Viel­leicht die Frei­heit, die Wibora­da dort gefun­den hat. Eine Ahnung davon, dass wir inner­lich frei sein kön­nen, auch wenn Äus­ser­lich­kei­ten uns ein­schrän­ken und begren­zen. Die Frei­heit von Bal­last, von Ter­mi­nen, von allem Gehetz. Die Frei­heit, um das zu fin­den, was wirk­lich trägt. Den Grund allen Seins. Das Fun­da­ment. Gott.Doro­thee Becker, Theo­lo­gin und Seel­sor­ge­rin. Gemein­de­lei­te­rin der Pfar­rei St. Fran­zis­kus, Riehen-Bettingen
Regula Vogt-Kohler
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