In Zukunft Chatbot statt Gebet?
Künstliche Intelligenz (KI) begegnet uns im Alltag immer öfter. Die Prognosen zeigen, dass ihre Präsenz weiter zunehmen wird. Wie sollen die Gläubigen damit umgehen? Werden wir bald nur noch mit einem «KI-Jesus» sprechen? Wo muss die Kirche Verantwortung übernehmen, wenn es um KI geht? Auf diese und weitere Fragen hat uns Theologe und Philosoph Prof. Dr. Peter G. Kirchschläger Antworten geliefert.
Künstliche Intelligenz durchdringt unsere Leben als Individuen und als Gesellschaft. Ganz allgemein: Welche Auswirkungen hat sie auf Religion?
Prof. Peter G. Kirchschläger: Ich würde grundsätzlich dazu einladen, im Umgang mit sogenannter «KI» kritisch zu sein, auch im Bereich von Religion. Daher würde ich auch vorschlagen, diese Systeme nicht als «KI», sondern als datenbasierte Systeme (DS) zu bezeichnen, da sie uns Menschen in gewissen Intelligenzbereichen wohl überragen, aber für sie als Maschinen andere Intelligenzbereiche, wie zum Beispiel emotionale und soziale Intelligenz, unerreichbar sind und bleiben – aufgrund von fehlender echter Emotionalität oder aufgrund von fehlender Moralfähigkeit mangels Freiheit. Im Kern geht es bei diesen Maschinen um Daten, Daten, Daten. Datengenerierung und ‑sammlung, Datenverarbeitung, datenbasierte Handlungen. Es wäre aus ethischer Sicht wünschenswert, wenn Religionen Zeit, Orte und Gefässe anböten zur kritischen Reflexion über DS, zum gemeinsamen Dialog über die ethischen Chancen und Risiken von DS und über ethische Lösungsansätze. Ausserdem wäre es gut, wenn sie ihre eigene ethische Kernkompetenz in den öffentlichen Diskurs über DS einbringen und Menschen im Umgang mit der Ungewissheit, die DS auslösen, begleiten würden.
Können datenbasierte Systeme religiöse Erfahrungen ermöglichen? Wenn ja, in welchem Rahmen? Wo liegen die Grenzen?
Kirchschläger: DS können aus ethischer Sicht in vielen Bereichen unseres Lebens positiv eingesetzt werden und dazu beitragen, dass allen Menschen ein menschenwürdiges Leben und dem Planeten eine nachhaltige Zukunft ermöglicht wird. Religion zählt nicht zu diesen Bereichen, weil zum Beispiel Pastoral und Seelsorge von zwischenmenschlicher Interaktion und von Beziehungen leben. Da können die DS nichts bieten. Es mag ja sein, dass wir mit solchen DS gewisse Menschen erreichen. Wir sollten aber aus ethischer Perspektive kritisch hinterfragen, wie, womit und wofür wir sie mit DS erreichen. Wir Menschen sollten viel kritischer und ethisch informiert entscheiden, ob und wie wir eine Technologie schaffen, nutzen oder aus ethischen Gründen nicht nutzen beziehungsweise sie sogar zerstören.
Datenbasierte Systeme beruhen auf Algorithmen. Sie verfügen nicht über moralische Fähigkeiten. Nehmen wir an, ich unterhalte mich mit einem «KI-Jesus». Je nachdem, mit welchen Daten er gefüttert wurde, fallen seine Antworten auf bestimmte ethische und moralische Fragen unterschiedlich aus. Wie anfällig sind «KI-Jesusse/Götter» für die moralische Manipulation der Nutzenden? Wie können die Menschen davor geschützt werden?
Kirchschläger: Eine der grössten Herausforderungen und Risiken stellt bereits in der Gegenwart die politische und ökonomische Manipulation dar. Aufgrund der grossen Datensätze, die DS sammeln und generieren, «kennen» uns DS besser als wir uns selbst. Sie wissen genau, welche Punkte wie angesprochen werden müssen, um bei uns die durch die DS angestrebte politische Wahl-/Abstimmungsstimme oder Kaufentscheidung zu bekommen. Eine Ausweitung der Manipulation auf das Religiöse wäre fatal. Gleichzeitig stehlen DS im religiösen Bereich nicht nur Daten über das, wer und wie wir sind (Verhaltensmuster) sowie was wir wollen (Interessen, Präferenzen), sondern auch noch darüber, woran wir glauben und worauf wir hoffen, was uns schliesslich noch weit verletzbarer macht.
Kann es auch eine Chance sein, sich mit einem KI-Jesus zu unterhalten?
Kirchschläger: Aus ethischer Perspektive bestehen hier nur Risiken, keine Chancen. Denn ein solches DS – ein generatives DS – ist bildlich gesprochen nichts anderes als eine wiederkäuende Kuh, weil sie nur das wiederkäuen und dann ausspucken kann, was ihr als Daten bereits eingespeist worden ist. Erschwerend kommt noch hinzu, dass das Kriterium der Wahrhaftigkeit keine Rolle spielt. Ein DS liefert etwas, das syntaktisch korrekt ist und semantisch einigermassen passt; ob die Inhalte stimmen oder nicht, erweist sich als nebensächlich. Wir Menschen hingegen streben zumindest danach, dieses Kriterium zu erfüllen.
Ein diesbezüglicher konkreter Handlungsvorschlag aus meiner Forschung umfasst, menschenrechtsbasierte DS zu schaffen. Menschenrechtsbasierte DS bedeutet, dass im gesamten Lebenszyklus von DS die Menschenrechte respektiert werden, d.h. beim Design, bei der Schürfung der für DS notwendigen Rohstoffe, bei der Produktion, bei der Nutzung und auch bei der Nichtnutzung von DS aufgrund von Menschenrechtsbedenken. Gleichzeitig sollte für die Durchsetzung menschenrechtsbasierter «KI» eine Internationale Agentur für datenbasierte Systeme (IDA) bei der UNO geschaffen werden – nach dem Modell der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), d.h. «mit Zähnen». Das meint, dass sie neben einer Plattform für technische Zusammenarbeit auch die Funktion einer Marktzulassungs- und Monitoringbehörde erfüllen soll, um menschenrechtsverletzende und klima- und umweltzerstörende DS zu verhindern.
KI ist geduldig. Ist es wichtiger, dass ein Gegenüber sich Zeit für einen nimmt, zuhört und auf einen eingeht, als dass es ein richtiger Mensch ist?
Kirchschläger: Nein, es ist eindeutig wichtiger, dass das Gegenüber ein richtiger Mensch ist und dass wir uns als Menschen gegenseitig füreinander Zeit nehmen, denn DS sind nicht echt und haben weder Gefühle noch Empathie, sondern simulieren Letztere nur und täuschen uns etwas vor. DS können nur das ausführen, was wir ihnen antrainiert haben. Dies bedeutet, dass DS die Interaktion mit uns nicht einmal egal ist. DS haben überhaupt keinen Bezug dazu. DS erweisen sich auch nicht als fair, neutral und objektiv, denn sowohl die Daten als auch die Algorithmen, die DS ausmachen, kennen Verzerrungen, sogenannte «biases». Natürlich haben wir Menschen auch Vorurteile, aber wir können uns selbstkritisch damit auseinandersetzen und dazu verhalten.
Es gibt Schätzungen, dass ein Auftrag an einen Chatbot dreimal mehr Treibhausgase zur Folge hat als eine Google-Anfrage. Im Wissen darum und in der Sorge um die Mitwelt, dürfen wir uns dieser Technologie bedienen?
Kirchschläger: Meines Erachtens erhalten die negativen ökologischen Auswirkungen von DS viel zu wenig Aufmerksamkeit. Natürlich ist zu hoffen, dass DS uns Menschen dabei unterstützen, Wege zu finden, wie wir Klima- und Mitweltzerstörung ein Ende setzen können. Aber das ist noch Zukunftsmusik, bei der eine Unsicherheit mitklingt, ob das überhaupt der Fall sein wird. Frappante Gegenwart ist aber bereits das ethische Problem, dass DS die Mitwelt massiv belasten und zur Klimazerstörung beitragen, was wir als potenzielle Nutzende von DS berücksichtigen sollten. Daher wäre es auch eine zentrale Aufgabe von IDA bei der UNO, sich konsequent für nachhaltige DS einzusetzen – «mit Zähnen».
Priestermangel hier, nicht genug Personal da. Wenn Sie eine Prognose abgeben müssten: Wie könnte eine KI-integrierende Kirche in 10/20 Jahren aussehen?
Kirchschläger: Es mangelt definitiv nicht an Menschen, die sich in der Kirche beruflich engagieren wollen, sondern es gibt diesbezüglich eine dringenden Reformbedarf in der Kirche selbst im Sinne einer Menschenrechtshermeneutik, um diesbezügliche Diskriminierungen von Menschen zu beenden. Ich würde basierend auf meiner Forschung dazu einladen, dass sich die Kirche in ihrem Wirken hinsichtlich DS auf die Alleinstellungsmerkmale der Menschen im Vergleich zu Maschinen fokussiert und diese fördert sowie zur Geltung kommen lässt, nämlich u. a. Zwischenmenschlichkeit, Moralfähigkeit, Empathie, kritisches Denken, Kreativität, Sinnstiftung. Darüber hinaus sollte sich die Kirche mit ihrer eigenen ethischen Kernkompetenz viel stärker in den demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess zur Nutzung und auch ethisch basierten Nichtnutzung von DS einbringen. Schliesslich wäre es von einem ethischen Standpunkt aus hilfreich, wenn die Kirche auch ein Ort wäre, wo Menschen gemeinsam nach Antworten suchen können und Begleitung erfahren für den Umgang mit all den Ungewissheiten, die der so rasant voranschreitende technologische Fortschritt auslöst, z. B. was die massive Reduktion von bezahlten beruflichen Aufgaben für Menschen bedeutet, wofür wir Zeit sinnvoll einsetzen, wenn wir keinem bezahlten Beruf mehr nachgehen müssen/können, wo alternative Quellen von Sinnstiftung und Identität liegen könnten, …
Internationale Agentur für datenbasierte Systeme
Wer die Schaffung von IDA bei der UNO ideell unterstützen möchte, kann auf www.idaonline.ch einem globalen, internationalen und interdisziplinären Netzwerk von Unterstützern/innen beitreten. Ihre Stimmen werden den UNO-Mitgliedstaaten und der UNO kommuniziert. Unter anderem Papst Franziskus, UNO-Generalsekretär António Guterres und Sam Altman (Gründer von OpenAI, das ChatGPT anbietet) unterstützen IDA.