Gegen das Vergessen
Genbaku-Dome in Hiroshima: Als der Abwurf der Atombombe alles dem Erdboden gleichmachte, blieben einige Mauern und das Dach der Ausstellungshalle als einzige stehen. Heute ist der Ort eine Friedensgedenkstätte und gehört zum Unesco-Welterbe.
Bild: © Werner Rolli

Gegen das Vergessen

Am 6. August 1945 tötete die Atombombe in ​Hiroshima zehntausende von Menschen

Die Zahl der Menschen, die aus eigener Erfahrung berichten können, was die Abwürfe der Atombomben ​über ­Hiroshima und Nagasaki angerichtet haben, wird täglich kleiner. Die Überlebenden nennen sich Hibakusha und kämpfen mit all ihrer Kraft gegen das Vergessen.

Der 6. August 1945 war ein heiss­er Tag mit wolken­losem Him­mel. Nach­dem die B‑29 mit dem Namen Eno­la Gay auf der Insel Tin­ian ges­tartet war, wurde die Bombe Lit­tle Boy um 8.14 Uhr in zehn Kilo­me­ter Höhe über Hiroshi­ma aus­gek­linkt. 45 Sekun­den später detonierte sie rund 600 Meter über der Stadt, tötete zehn­tausende Men­schen und machte die blühende Metro­pole dem Erd­bo­den gle­ich.

Sichtbare Erinnerungen

Hide­ta­ka Taki­gushi erin­nert sich: «Ich war fünf Jahre alt. Mein Vater war im Krieg. Meine Mut­ter, damals 33, lief mit mein­er 10 Monate alten Schwest­er Hiroko und der Ver­lobten meines Cousins ins Haus, als wir die Motoren der B‑29 Bomber hörten. Als ich die Schiebetüre schliessen wollte, sah ich einen Blitz und fühlte einen bren­nen­den Schmerz in meinem linken Arm.» Die nach­fol­gende Druck­welle schleud­erte ihn ins Innere des Haus­es. Taki­gushi krem­pelt den linken Ärmel seines Hemds hoch. Noch heute sind die Spuren sein­er Ver­bren­nun­gen sicht­bar. Die Fam­i­lie floh nach Mat­suna­ga, wo sie bei den Eltern der Mut­ter unterka­men. Die kleine Hiroko über­lebte die Stra­pazen nicht, sie starb am 22. August in den Armen ihrer Mut­ter.

Lebenslanges Leiden

Kuni­hiko Iida war da ger­ade drei Jahre alt und lebte im Stadt­teil Kako, etwa 900 Meter vom Hypozen­trum ent­fer­nt. Zusam­men mit sein­er Mut­ter, sein­er vier­jähri­gen Schwest­er und sein­er Tante floh er zur Sumiyoshi­brücke. Was er da gese­hen hat, verur­sacht bei ihm heute noch Alb­träume: «Unzäh­lige Men­schen lagen im Ster­ben, verkohlte Leichen lagen über­all oder trieben im Fluss. Den Über­leben­den hing die Haut in Fet­zen von den Leibern.» Kuni­hiko schaffte es schliesslich mit sein­er Fam­i­lie zum Haus von Ver­wandten im Dorf Shin­jo. Seine Mut­ter und Schwest­er lit­ten an Nekrose, speziell an den Beinen. Bei­de star­ben innert kurz­er Zeit. Für Kuni­hiko begann, wie er sich aus­drückt, ein «lebenslanges Lei­den». Er wurde zu einem Hibakusha, wie sich die Über­leben­den selb­st beze­ich­nen.

Einsatz des Roten Kreuzes

Am 6. August und den fol­gen­den Monat­en star­ben Schätzun­gen zufolge 140’000 Men­schen. Die meis­ten Todes­fälle der ersten zwei Wochen waren auf Ver­bren­nun­gen und akute Strahlungs­fol­gen zurück­zuführen. Von der drit­ten bis zur acht­en Woche star­ben vor allem diejeni­gen, die ein­er Strahlung von drei bis vier Siev­ert aus­ge­set­zt waren durch Organ­ver­sagen, Blutver­lust, unstill­bares Erbrechen, blutige Durch­fälle, Hautablö­sun­gen und Knochen­marks­de­pres­sion mit Anämie, Infek­tan­fäl­ligkeit und Blu­tun­gen. Ab 1947 wurde eine Zunahme an Leukämiefällen beobachtet. Fehlge­burten und Spät­fol­gen sind nur unzure­ichend doku­men­tiert. Hil­fe von aussen kam vom Inter­na­tionalen Komi­tee des Roten Kreuzes. Der Schweiz­er Arzt Mar­cel Jun­od erre­ichte Hiroshi­ma erst im Sep­tem­ber, mit einem Team des Alli­ierten Brigade­gen­er­als Thomas Far­rel. Sie bracht­en 15 Ton­nen Medika­mente. Mar­cel Jun­od blieb in der zer­störten Stadt, um die medi­zinis­che Hil­fe aufzubauen. Am Südein­gang des Friedensparks erin­nert heute ein Gedenkstein an seine Mis­sion.


Blick flussab­wärts auf den Gen­baku-Dome in Hiroshi­ma.© Wern­er Rol­li

Opferzahl bis heute nicht geklärt

Die endgültige Zahl der Opfer bleibt bis heute eine Schätzung, die tat­säch­liche Bevölkerungszahl in den let­zten Kriegsta­gen war unklar, bei der Explo­sion und den darauf­fol­gen­den Brän­den ver­bran­nten Doku­mente, ganze Fam­i­lien kamen um und das Sozial­sys­tem brach zusam­men. Selb­st wer sich nicht in der Stadt aufhielt, war nicht sich­er vor atom­ar­er Verseuchung. Isao Sako­da (86) war sieben Jahre alt, als die Bombe fiel. Er lebte 19 Kilo­me­ter ausser­halb der Stadt in Ogauchi (heute: Asaki­ta-ku, Hiroshi­ma, Präfek­tur Hiroshi­ma) in den Bergen. Nach der Det­o­na­tion von Lit­tle Boy stieg der Atom­pilz bis in 13 Kilo­me­ter Höhe und ver­bre­it­ete hochkon­t­a­miniertes Mate­r­i­al, das etwa 20 Minuten später als Fall­out – radioak­tiv­er Regen, auch Black Rain genan­nt – niederg­ing, in die Böden ein­drang und diese kon­t­a­minierte. Auch auf umliegende Dör­fer.

Verseuchter Regen

Viele Men­schen erhofften sich vom Regen eine Abküh­lung oder woll­ten ihren Durst löschen, schliesslich steigt das Ther­mome­ter im August nicht sel­ten über die Dreis­sig-Grad-Marke. Auch Isao spielte gerne im Freien. Woher hätte er wis­sen sollen, dass der lang ersehnte Regen verseucht war? Er erlitt keine äusseren Ver­let­zun­gen und zeigte keine Symp­tome – bis er 58 Jahre später erkrank­te: «Mit 65 wurde bei mir Schild­drüsenkrebs diag­nos­tiziert. Da erst real­isierte ich, dass auch ich verseucht wor­den war.» Langsam wür­den seine Erin­nerun­gen an diesen Tag verblassen, sagt er, deshalb habe er sich gemeldet, als er ver­nahm, dass die Motomachi High School mit Hibakusha zusam­me­nar­beit­et, um ihre Lei­dens­geschichte für kün­ftige Gen­er­a­tio­nen in Erzäh­lun­gen und Bildern festzuhal­ten. So haben die Studieren­den aus seinen und den Schilderun­gen ander­er Hibakusha aus­drucksstarke Bilder gemalt. Isao Sako­da wurde erst 2022 als Opfer anerkan­nt.


Das Friedens­denkmal für Kinder, der «Tow­er of a Thou­sand Cranes». 1955 starb die elfjährige Schü­lerin Sadako Sasa­ki an Leukämie. Sie hat­te bis zulet­zt Papierkraniche gefal­tet, denn eine Leg­ende besagt, dass tausend Papierkraniche Glück brin­gen. Ihre Klassenkamerad/innen gaben den Anstoss zu diesem Denkmal, um Sadakos Seele zu trösten und den Wun­sch nach Frieden in die Welt zu tra­gen. © Wern­er Rol­li

Friedensnobelpreis 2024

Während Jahren wur­den die Über­leben­den des Atom­bomben­ab­wurfs stig­ma­tisiert, hat­ten schlechte Chan­cen im Beruf­sleben oder Mühe, eine Fam­i­lie zu grün­den. Manche glaubten, die Strahlenkrankheit sei ansteck­end und mieden die Hibakusha. Diese began­nen sich zu organ­isieren in einem Ver­band namens Nihon Hidankyo. Mit der Zeit set­zte sich Nihon Hidankyo nicht nur für finanzielle und medi­zinis­che Hil­fe der Opfer ein, son­dern forderte auch immer deut­lich­er die weltweite Abschaf­fung von Atom­waf­fen. Am 10. Dezem­ber 2024 erhielt diese NGO den Frieden­sno­bel­preis.

Lebenslanges Engagement für eine Welt ohne Atomwaffen

Kuni­hiko Iida wuchs bei sein­er Gross­mut­ter auf. Er absolvierte die Tech­nis­che Hochschule in Hiroshi­ma, arbeit­ete für Mit­subishi und als Geschäfts­führer von Dai­ichi Rental Ltd. Sein Trau­ma hat ihn dazu ver­an­lasst, Psy­cholo­gie zu studieren. Er warnt uner­müdlich vor Atom­waf­fen, indem er weltweit Vorträge und Tes­ti­mo­ni­als hält. Hide­ta­ka Taki­gushi fand Kraft in der Fotografie. Er doku­men­tierte die alten Gebäude vor ihrem Abbruch und fotografierte Bäume, die beim Atom­bomben­ab­wurf Schaden genom­men hat­ten, aber wieder zu blühen began­nen. Isao Sako­da wird sich eben­falls weit­er­hin für die Gesellschaft und eine friedliche Welt ohne Atom­waf­fen engagieren. Er wün­scht sich, dass auch die Schweiz den Atom­waf­fen­ver­botsver­trag (Treaty on the Pro­hi­bi­tion of Nuclear Weapons, kurz TPNW) unter­schreibt. In einem Punkt sind sich die Hibakusha einig: Was in Hiroshi­ma und Nagasa­ki passiert ist, darf sich nicht wieder­holen und darf nicht in Vergessen­heit ger­at­en.

Werner Rolli
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