Eine Vision wird bewohnbar
Priorin Irene Gassmann segnet die umgebaute Bäuerinnenschule ein. Die Benediktinerinnen und die Bewohnerinnen und Bewohner des Generationenwohnens pflegen eine gute Nachbarschaft.
Bild: © Verein erfahrbar

Eine Vision wird bewohnbar

Das Generationenwohnen in der ehemaligen Bäuerinnenschule beim Kloster Fahr

Seit zwei Jahren leben beim Kloster Fahr 45 Menschen in einem christlichen Generationenwohnen zusammen. Eine Dokumentation und ein Besuch vor Ort zeigen, wie das Zusammenleben funktioniert.


Mehr als 4000 Frauen haben in der Zeit zwis­chen 1944 und 2013 die Bäuerin­nen­schule Kloster Fahr besucht. Das Benedik­tiner­in­nen­kloster prägte damit Gen­er­a­tio­nen von Frauen in der Land­wirtschaft. Im Jahr 1964 baute das Kloster dafür ein gross­es Wohn- und Schul­ge­bäude. Aus Ressourcengrün­den beschloss der Kon­vent 2013, die Schule zu schliessen. Die Diskus­sion darüber, wie die Gebäude weit­er­genutzt wer­den soll­ten, begann.*

Der Inspi­ra­tions­abend, zu dem sich die Benedik­tiner­in­nen des Klosters Fahr und die Bewohnen­den des christlichen Gen­er­a­tio­nen­wohnens in der ehe­ma­li­gen Bäuerin­nen­schule monatlich tre­f­fen, begin­nt um 19.30 Uhr mit der Feier der Kom­plet in der Klosterkirche. Als die Schwest­ern vorne im Chor die ersten Töne sin­gen, find­en die Frauen und Män­ner in den Bänken ziel­sich­er die richtige Stelle im Buch und stim­men ins Gebet ein. Wer zuhört, spürt: Die Benedik­tiner­in­nen und ihre Nach­barn haben die gemein­same Fre­quenz gefun­den.


Die ehe­ma­lige Bäuerin­nen­schule beim Kloster Fahr kurz nach dem Einzug der neuen Bewohner­in­nen und Bewohn­er im Som­mer 2023. | Bild: Frédéric Giger

Spirituelle Nähe zum Kloster

Seit zwei Jahren wohnen in den umge­baut­en Gebäu­den der ehe­ma­li­gen Bäuerin­nen­schule des Klosters Fahr 45 Per­so­n­en in 16 Woh­nun­gen. Das Wohn­haus befind­et sich im Gegen­satz zum Klosterge­bäude, das eine aar­gauis­che Exklave ist, im Kan­ton Zürich und gehört zur Gemeinde Unterengstrin­gen. Nach der Adresse Chloster­strasse 11 nen­nt die Gemein­schaft ihr Zuhause schlicht «Fahr 11».

Am 8. Novem­ber 2017 erregt eine unübliche Auss­chrei­bung die Aufmerk­samkeit der Immo­bilien­szene: Das Kloster Fahr suchte zusam­men mit dem Zürcher Immo­bilien-Dien­stleis­ter Wüest Part­ner Inve­storen, Nutzer und Betreiber für seine Annexge­bäude und Betriebe. Auf die Auss­chrei­bung des Klosters hin bewarb sich Anfang 2018 die Gruppe «erfahrbar», beste­hend aus der Gemein­schaft Guggen­bühl, der Pen­sion­skasse Pros­peri­ta sowie Part­nern aus Architek­tur, Land­wirtschaft und Gas­tronomie. Ihr Vorschlag: die Umset­zung eines christlichen Gen­er­a­tio­nen­wohnens in der ehe­ma­li­gen Bäuerin­nen­schule. Die Gruppe erhielt den Zuschlag, auch wegen ihrer spir­ituellen Nähe zum Kloster.*

Nach der Kom­plet tre­f­fen sich alle im Gemein­schaft­sraum, der sich über den Bach und damit über die Kan­ton­s­gren­ze zwis­chen Zürich und Aar­gau span­nt. «Wer will, kann hier mit einem Schritt das Bis­tum wech­seln», sagt eine der Schwest­ern mit einem vergnügten Zwinkern. Pri­or­in Irene Gassmann eröffnet die Runde mit einem Rück­blick auf ver­gan­gene Inspi­ra­tions­abende. In den let­zten zwei Jahren haben sich die Benedik­tiner­in­nen und die Bewohnen­den regelmäs­sig über die Benedik­t­sregel aus­ge­tauscht und einan­der von ihrem Glauben erzählt. Pri­or­in Irene Gassmann sagt: «Diese Abende helfen, dass wir uns spir­ituell ken­nen­ler­nen. Das ist für uns Schwest­ern eine Bere­icherung. So ist eine Verbindung zu unseren Nach­barn ent­standen.»

Bau­vorhaben in der direk­ten Umge­bung von his­torischen Gebäu­den sind nie 0815-Pro­jek­te. Entsprechend braucht­en Investor und Ini­tiantinnen von «erfahrbar» einen lan­gen Atem, um den Umbau der alten Bäuerin­nen­schule zur Bewil­li­gung zu führen. Der Prozess begann Ende 2018 und dauerte bis zum Bezug Mitte 2023 viere­in­halb Jahre.*

Das Zusammenleben funktioniert

Zwei Jahre nach dem Einzug ist heute ein beson­der­er Abend. Die Age-Stiftung, die das christliche Gen­er­a­tio­nen­wohnen finanziell gefördert hat, gab eine Doku­men­ta­tion des Pro­jek­ts in Auf­trag, die jet­zt vor­liegt. Die Autorin­nen der Doku­men­ta­tion, die His­torik­erin­nen und Kloster­ex­per­tin­nen Ruth Wiederkehr und Anni­na Sand­meier-Walt, über­re­ichen den Bewohner­in­nen und Bewohn­ern einen Kar­ton mit druck­frischen Broschüren. Auf 40 Seit­en ist die Entste­hung des Gen­er­a­tio­nen­wohnens «erfahrbar» von der ersten Idee bis heute nachzu­vol­lziehen. Julia Neuen­schwan­der ist Präsi­dentin des Vere­ins «erfahrbar». Sie entwick­elte zusam­men mit ihrem Mann Ueli und dem befre­un­de­ten Ehep­aar Melanie und Roger Mey­er vor Jahren die Vision eines christlichen Gen­er­a­tio­nen­wohnens, suchte Pro­jek­t­part­ner und hielt behar­rlich an der Idee fest. Die Doku­men­ta­tion nun in den Hän­den zu hal­ten, ist für Neuen­schwan­der eine grosse Freude: «Der Bericht hält fest, dass das Zusam­men­leben hier im Haus und die Nach­barschaft zu den Benedik­tiner­in­nen so funk­tion­iert, wie ich es gehofft und geglaubt habe.»

Zur Expertin geworden

Im ersten Jahr galt es, voneinan­der zu ler­nen, sich manch­mal aber auch auszuhal­ten. Die Gemein­schaft habe den Rank immer wieder gefun­den, sagt Neuen­schwan­der. Dabei helfe die Bitte um Verge­bung im wöchentlichen Gebet: «Wenn wir einan­der immer wieder vergeben, kön­nen wir gemein­sam im Guten weit­erge­hen.»

«Wer möchte so leben?», hät­ten manche Leute bei der Entste­hung des Pro­jek­ts gefragt. Jet­zt, wo das Gen­er­a­tio­nen­wohnen im Fahr 11 läuft, zeigt sich: Es gibt viele Leute, die so leben wollen. Der Vere­in «erfahrbar» erhält jede Woche Anfra­gen, ob noch eine Woh­nung frei sei. Neuen­schwan­der sagt: «Das gemein­schaftliche, christlich aus­gerichtete Zusam­men­leben scheint einen Nerv zu tre­f­fen.» Sie selb­st hat sich dank ihrer Erfahrung mit «erfahrbar» und divers­er Weit­er­bil­dun­gen zur Exper­tin für den Auf­bau gemein­schaftlich­er Wohn­mod­elle entwick­elt. Sie berät und begleit­et diverse kirch­liche Nutzungsen­twick­lun­gen von Immo­bilien in der Schweiz und in Deutsch­land.


Hier nahm der Traum Form an: Pri­or­in Irene Gassmann und Julia Neuen­schwan­der im Früh­ling 2022 vor der Baustelle in der ehe­ma­li­gen Bäuerin­nen­schule beim Kloster Fahr. | Bild: Roger Wehrli

Mehr als die kleine Kernfamilie

Dass eine Lebens­ge­mein­schaft nur Mut­ter, Vater und ein, zwei Kinder umfasst, ist eine rel­a­tiv junge Idee. Die His­torik­erin Ruth Wiederkehr sagt: «Früher waren die Men­schen in Fam­i­lien­ver­bände einge­bun­den. Dazu gehörten die Grossel­tern, ledi­ge Tan­ten, die Knechte und Mägde. Heute sei alles viel zer­stück­el­ter, stellt Neuen­schwan­der fest: «Als wir Kinder beka­men, merk­ten wir, dass dieses Frag­men­tierte ein Stress­fak­tor ist: Hier die Kita, da die Arbeitsstelle, dort die Grossel­tern …» Und über allem schwebe die Prämisse, alles inner­halb der kleinen Fam­i­lie zu schaf­fen, gibt Wiederkehr zu bedenken.

Es ist immer jemand da

Diese Prämisse gilt im «erfahrbar» nicht. Die Doku­men­ta­tion hält fest, dass die gemein­samen Aktiv­itäten und die Begeg­nun­gen in den gemein­sam genutzten Räu­men viel Leben­squal­ität brin­gen. «Wenn man Hil­fe braucht, ist immer jemand da» und «Unsere Nach­barschaft ist verbindlich und Kom­pro­misse gehören zum All­t­ag – daran kann ich wach­sen», sagen die Bewohner­in­nen und Bewohn­er. Und doch hat im Fahr 11 jede Fam­i­lie oder Einzelper­son ihre eigene mark­tübliche Woh­nung, ihr eigenes Geld. «Wir sind keine Kom­mune», betont Neuen­schwan­der, «unser Vor­bild ist das genossen­schaftliche Wohnen. Wir haben es ergänzt um die christliche, die benedik­tinis­che Kom­po­nente. Wir funk­tion­ieren wie eine mod­erne, christlich Genossen­schaft und bewohnen ein Ren­di­teob­jekt. Das ist das Inno­v­a­tive an unserem Mod­ell.»

Geglückt

Für die Ver­gabe der Woh­nun­gen hielt sich der Vor­stand von «erfahrbar» an den Prozess «Auss­chrei­bung – Bewer­bun­gen ent­ge­gen­nehmen – Ken­nen­lernge­spräch – Ver­tiefungs­ge­spräch – Zuschlag». Es sollte eine sozial und altersmäs­sig durch­mis­chte Gruppe entste­hen. Rück­blick­end habe sich beson­ders die beru­fliche Durch­mis­chung bewährt: «Wir braucht­en beim Auf­bau viel Know-how in den Bere­ichen Haus­be­wirtschaf­tung, Admin­is­tra­tion, IT oder Buch­hal­tung», sagt Neuen­schwan­der. Alle diese Kom­pe­ten­zen kon­nten intern abgedeckt wer­den. «Mitzuer­leben, wie die Men­schen sich hier ent­fal­ten, ist toll.»

Pri­or­in Irene Gassmann attestiert dem Vor­stand, dass ihm die Auswahl der Bewohner­in­nen und Bewohn­er geglückt ist. Wichtig sei aus ihrer Sicht gewe­sen, dass sich die Schwest­ernge­mein­schaft nicht eingemis­cht hat: «Wir Schwest­ern mussten loslassen.» Die Pri­or­in meint das nicht nur im Hin­blick auf die Entwick­lung im Kloster Fahr, son­dern ganz all­ge­mein für den Umgang mit Klöstern, die leer wer­den und sich mit neuem Leben füllen sollen. Die neue Nach­barschaft ist für Pri­or­in Irene Gassmann und ihre Gemein­schaft run­dum stim­mig, wie eine Anek­dote zeigt: Eine ihrer Mitschwest­ern, die kür­zlich im Spi­tal war und dort Kinder vor dem Fen­ster spie­len hörte, sagte zur Pri­or­in: «Es ist wie daheim.»

*aus: «erfahrbar», Christlich­es Gen­er­a­tio­nen­wohnen in der ehe­ma­li­gen Bäuerin­nen­schule beim Kloster Fahr, Pro­jek­t­doku­men­ta­tion 2025, pub­liziert im Mai 2025. Zu find­en im Inter­net unter www.age-stiftung.ch – Pub­lika­tio­nen – Doku­men­ta­tio­nen

Lösun­gen gesucht

Es sind Ideen gefragt zur Umnutzung von ehe­ma­li­gen Klöstern und Nebenge­bäu­den

Klöster erleben heute wegen fehlen­dem Nach­wuchs einen Struk­tur­wan­del: Klostereigene Betriebe kön­nen nicht mehr durch die Kon­vente selb­st geführt wer­den, Gebäude ste­hen leer. Der vom Kloster Fahr eingeschla­gene Weg mit einem Investor (Pen­sion­skasse Pros­peri­ta) als Bau­recht­snehmer und einem Vere­in («erfahrbar») als Ver­wal­ter ist in ­der Schweiz bish­er ein­ma­lig. Die Frage nach der Umnutzung oder Weit­er­en­twick­lung von Klöstern ist hochak­tuell und ver­schiedene Inter­essens­ge­mein­schaften suchen nach Lösun­gen. Hier find­en Sie Infor­ma­tio­nen zum The­ma Klosterum­nutzung: www.erfahrbar.ch | www. kloster-fahr.ch | www.kloster-leben.ch | schweizerkirchenbautag.unibe.ch | www.klostergeschichte.ch | Link zur Doku­men­ta­tion über das Gen­er­a­tio­nen­wohnen beim Kloster Fahr: www.age-stiftung.ch – Pub­lika­tio­nen – Doku­men­ta­tio­nen

Eine Vision wird bewohnbar - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz 7
Bild: © Roger Wehrli

Zu Gast im Kloster Fahr
Ganz im Sinn des heili­gen Benedikt wird im Kloster Fahr die Gast­fre­und­schaft gross­geschrieben. Gästez­im­mer in der Prop­stei und im Kloster ste­hen Frauen offen, die im benedik­tinis­chen Tages­rhyth­mus Ruhe und Entspan­nung suchen. Die Gäste sind ein­ge­laden, an den Gebeten der Klosterge­mein­schaft teilzunehmen; sie essen mit­tags und abends im Refek­to­ri­um bei den Schwest­ern, schweigend und mit Tis­chle­sung. Ein weit­eres Ange­bot ist «Im Rhyth­mus der Benedik­tiner­in­nen», bei dem Frauen einen Tag und eine Nacht im Kloster ver­weilen, in die Stille ein­tauchen und der Sehn­sucht nach einem Leben, das in die Tiefe führt, Raum geben. Ter­mine: 5./6. Sep­tem­ber, 17./18. Okto­ber und 21./22. Novem­ber, jew­eils von Fre­itag 17.45 Uhr bis Sam­stag 18.15 Uhr. www.kloster-fahr.ch

Die Clus­ter­woh­nung im ober­sten Geschoss beste­ht aus fünf Wohnein­heit­en. ​Wohnz­im­mer und Küche wer­den gemein­schaftlich genutzt. | Bild: Gabi Vogt
Marie-Christine Andres Schürch
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