Eine Nacht in der Notschlafstelle

Eine Nacht in der Notschlafstelle

  • Seit dem Herb­st 2019 ist in Baden die einzige Aar­gauer Notschlaf­stelle in Betrieb. Zur Zeit ist beim Kan­ton ein Pos­tu­lat hängig, das die Finanzierung länger­fristig sich­er­stellen soll.
  • Susanne Muth ist Lei­t­erin der Fach­stelle Diakonie der Römisch-Katholis­chen Kirche im Aar­gau und Präsi­dentin des Vere­ins Notschlaf­stelle.
  • Als frei­willige Helferin war sie eine Nacht lang vor Ort im Ein­satz.

Als ich an einem Abend im Spätherb­st in Baden aus dem Zug steige, ist es bere­its dunkel. Mein Ziel ist die Notschlaf­stelle in der Oberen Halde. Vom Kirch­platz führt eine Treppe im Dunkel steil nach unten. Dann links um das alte Haus herum und ich bin da. Es ist ein küh­ler Abend, ich bin froh über meine warme Klei­dung. 

Es ist 19.30 Uhr. Ich läute an der Ein­gangstür. Zuerst passiert nichts. Ich läute nochmals und im zweit­en Stock öffnet sich ein Fen­ster. Susi Hor­vath ruft: «Wir öff­nen erst um 20 Uhr!» «Ich bin es!» rufe ich zurück. «Oh, du bist es! Warte, ich komme», schallt es zurück.

Der Einsatz von Freiwilligen ist unverzichtbar

[esf_wordpressimage id=36473 width=half float=right][/esf_wordpressimage]Susi Hor­vath leit­et die Notschlaf­stelle, seit diese im Sep­tem­ber 2019 eröffnet wurde. Ich hinge­gen bin ziem­lich «frisch» im Geschäft. Erst kurz vor meinem ersten Ein­satz in der Notschlaf­stelle habe ich das Prä­sid­i­um des Vere­ins über­nom­men. Susi lässt mich here­in. «Ich hat­te dich ganz vergessen», geste­ht sie. Eine Frei­willige ist bere­its da. Sie bere­it­et oben in der Küche den Znacht für die Gäste vor, die zwis­chen 20 und 23 Uhr herein­ge­lassen wer­den. Später Ein­tr­e­f­fende wer­den nur in Aus­nah­me­fällen aufgenom­men. Son­st kom­men die Gäste, die Frei­willi­gen und Mitar­bei­t­en­den nie zur Ruhe.

Im Mitar­beit­erz­im­mer ste­ht ein Com­put­er für die admin­is­tra­tiv­en Arbeit­en. Der Schlaf­bere­ich für Angestellte und frei­willige Helfer ist mit einem Vorhang abge­tren­nt. Nur durch das grosse Engage­ment zuver­läs­siger Frei­williger ist der Betrieb der Notschlaf­stelle möglich.

Znacht, Zmorge, ein Bett und frische Wäsche

[esf_wordpressimage id=22004 width=half float=left][/esf_wordpressimage]Als um 20 Uhr die ersten Gäste vor der Türe ste­hen, sind wir bere­it. Susi öffnet im Erdgeschoss die Türe. «Hal­lo! Hat­test du einen guten Tag?» Wer in der Notschlaf­stelle über­nachtet, bezahlt einen sym­bol­is­chen Beitrag von fünf Franken. Manch ein­er hat noch etwas Wäsche, die er gewaschen haben möchte. Pro Per­son gibt es dafür eine Plas­tik­box, in der die Wäsche deponiert wird. Susi und die Frei­willi­gen waschen und trock­nen die Wäsche noch am Abend. Am näch­sten Mor­gen wartet die Box mit der frischen Wäsche vor der Zim­mertüre.

In dieser Nacht sind acht Män­ner zu Gast. Sechs von ihnen sind sich­er unter 30 Jahren alt. Die Stim­mung ist recht entspan­nt, man ken­nt sich. Ein­er der jün­geren Män­ner möchte nach dem Aben­dessen auf einem Com­put­er mit den anderen einen Film schauen. Wir gehen mit einem anderen jun­gen Mann in den Keller. Er hat keine frischen Klei­der mehr. In der Klei­derkam­mer, in der auch die Waschmaschi­nen ste­hen, find­et er beglückt ein paar neue alte Sachen. Anschliessend fal­ten wir noch etwas Wäsche zusam­men, Susi macht einige Ein­träge am PC und ich helfe oben in der Küche. Ein Gast, der sich nicht an die Regeln hal­ten kann, kommt erst nach 23 Uhr. Er bekommt ein Time­out, was bedeutet, dass er die näch­ste Nacht nicht kom­men darf. Manch­mal wirkt das. Oft nicht.

Es ist ein langer Abend, aber ungewöhn­lich ruhig, wie ich erfahre. Um 00.30 Uhr falle ich tod­müde ins Bett. Ein­mal erwache ich. Über uns läuft ein Gast hek­tisch im Zim­mer hin und her. Das ist aber auch alles. Ich kann noch ein­mal ein­schlafen, bevor wir um 6 Uhr auf­ste­hen.

Schicksale und Träume

Susi holt frisches Brot – manch­mal bringt das auch ein fre­undlich­er Nach­bar – ich koche Kaf­fee und decke den Tisch. Die Gäste dür­fen am Woch­enende bis 9 Uhr bleiben, Früh­stück gibt es bis 8.30 Uhr.

Die Gäste sind aufgeschlossen, unter­hal­ten sich miteinan­der, beziehen mich ins Gespräch ein. Die schwieri­gen Geschicht­en kom­men nicht so direkt auf den Tisch, doch zwis­chen den Zeilen kann man sie hören. Ein junger Mann, knapp 20, zeigt das Bild sein­er zwei Kinder, das er im Geld­beu­tel dabei­hat. Ein­er träumt davon, den Piloten­schein zu machen. Er habe sich schon zur Prü­fung angemeldet. Ich bin irri­tiert, sage aber nichts. Susi zeigt mir später den neuen, teuren Motor­rad­helm, den er sich neulich kaufte, weil er unbe­d­ingt Motor­rad fahren möchte. Einen Führerschein hat er nicht.

Finanzierung sicherstellen

Die einzige Notschlaf­stelle im Kan­ton Aar­gau ist eine kurzfristige Möglichkeit für Men­schen, die aus unter­schiedlich­sten Grün­den ger­ade keine andere Lösung find­en. Das christliche Sozial­w­erk HOPE betreibt sie seit Sep­tem­ber 2019 im Auf­trag des Vere­ins Notschlaf­stelle. Gemäss Sozial­hil­fege­setz wären die Gemein­den für die Notun­ter­bringung von Betrof­fe­nen zuständig. Das funk­tion­iert aber häu­fig nicht, auch deswe­gen, weil die Per­so­n­en nicht immer ein­er Gemeinde zuge­ord­net wer­den kön­nen. Wie die Aar­gauer Zeitung im Dezem­ber 2021 berichtete, prüft der Kan­ton zur Zeit ein Pos­tu­lat, das zum Ziel hat, die Finanzierung der Notschlaf­stelle über den Kan­ton zu sich­ern. Momen­tan tra­gen die bei­den grossen Lan­deskirchen den Haupt­teil der Finanzierung und der Vere­in Notschlaf­stelle ist auf Spenden angewiesen.


Hier find­en Sie weit­ere Artikel über die Notschlaf­stelle Aar­gau

https://www.horizonte-aargau.ch/zu-gast-in-der-ersten-aargauer-notschlafstelle/
https://www.horizonte-aargau.ch/eine-notschlafstelle-fuer-den-aargau/
Marie-Christine Andres Schürch
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