Ein Leben in drei Zimmern

Ein Leben in drei Zimmern

  • Der Krieg in der Ukraine dik­tiert den All­t­ag von Ole­na, Mut­ter von sechs Kindern.​
  • Livia Leykauf von Car­i­tas Schweiz hat die Fam­i­lie in Zapor­izhzhia besucht.

«Es war die let­zte Chance, zu entkom­men», erin­nert sich Ole­na. In einem Kon­voi aus den asowschen Stahlw­erken hat­ten sie Platz für die ganze Fam­i­lie gefun­den, nach­dem die rus­sis­che Armee im Feb­ru­ar 2022 ihre Heimat­stadt Tok­mak im Südosten der Ukraine beset­zt hat­te. Ihr bish­eriges Leben in ihrem kleinen Häuschen war über Nacht zur Hölle gewor­den. Dauerbeschuss von bei­den Seit­en. Hals über Kopf musste die Fam­i­lie alles ver­lassen, was ihnen lieb und ver­traut war. Zu acht flo­hen sie durch die Ukraine nach Polen. Aber dort fehlte ihnen ihre Heimat, ihr Land, ihre Sprache, ihr Leben.

Eine Sorge weniger

So kehrten sie nach einem Jahr, mit­ten im Krieg, zurück in die Ukraine. In ihr Haus, das direkt in der beset­zten Zone im Kampfge­bi­et liegt, kon­nten sie nicht. Kurzfristig kamen sie bei ein­er befre­un­de­ten Fam­i­lie in Zapor­izhzhia unter, gut 100 Kilo­me­ter nördlich ihrer Heimat­stadt. Doch wer kann schon eine achtköp­fige Fam­i­lie für län­gere Zeit aufnehmen? Also pack­ten sie wieder alles zusam­men und sucht­en nach ein­er Bleibe. Ole­na hörte von den Ange­boten der Car­i­tas und liess sich reg­istri­eren. «Das Beste, was uns in dieser Sit­u­a­tion passieren kon­nte», lächelt die blonde Frau zurück­hal­tend. Dank der Car­i­tas haben sie, ihr Mann und die sechs Kinder eine Woh­nung gefun­den, kon­nten diese schlicht, aber gemütlich ein­richt­en und erhal­ten einen Miet­zuschuss. Das neue Zuhause ist klein, es gibt nicht ein­mal Platz für einen Tisch, an dem alle gemein­sam essen kön­nen. Und doch ist Ole­na unendlich dankbar für die Hil­fe. «Es gibt mir Zuver­sicht und bedeutet eine Sorge weniger.»


Hilfe in der Ukraine

Car­i­tas bietet seit dem ersten Tag des Krieges ver­schiedene Hil­feleis­tun­gen an. Stand am Anfang eher die Nothil­fe mit Schlaf­stellen, Sup­penküchen und Beratun­gen im Zen­trum, sind es heute Bargeld­hil­fe für Men­schen, die unlängst geflo­hen sind, Miet­zuschüsse, Repara­turen von Woh­nun­gen, die bei Angrif­f­en beschädigt wur­den, psy­chol­o­gis­che Beratun­gen, aber auch Beratung und Zuschüsse für Geschäft­sideen (zum Beispiel ein Näh-Ate­lier oder kleinere Land­wirtschafts­maschi­nen) damit die Fam­i­lien, die nicht mehr in ihre anges­tammten Heimat­dör­fer zurück­kehren kön­nen, ein neues Leben begin­nen kön­nen. (ley)

Schule mit Luftschutzkeller

Sor­gen bere­it­et ihr jedoch die Aus­bil­dung ihrer Kinder. Die meis­ten Schulen im Osten der Ukraine haben geschlossen, weil sie über keine Schutzbunker ver­fü­gen, die aufge­sucht wer­den müssen, sobald die Sire­nen vor Rake­te­nan­grif­f­en war­nen. «Auf der anderen Seite der Stadt», weiss Ole­na, «gibt es eine Schule mit Luftschutzkeller.» Aber der Weg dahin mit der Strassen­bahn ist lang und ungeschützt. «Als Mut­ter hat man da immer Angst.» So find­et der Unter­richt und fast das ganze Fam­i­lien­leben in der kleinen 3‑Z­im­mer-Woh­nung statt. Als wir zu Besuch sind, ver­sucht die Achtjährige Katya* konzen­tri­ert und kerzenger­ade aufgerichtet der Lehrper­son per Com­put­er zu fol­gen. Die anderen Geschwis­ter machen Hausauf­gaben, schauen fern, stre­it­en sich, kuscheln mit der Mut­ter oder chat­ten mit den früheren Fre­undin­nen aus Tok­mak, die auch irgend­wohin in der Welt geflo­hen sind. «Den Kindern fehlt das gewohnte Umfeld, sie kön­nen die Woh­nung kaum ver­lassen, ich kann ihnen nicht so viel Zeit wid­men, wie ich das gerne würde.»

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Bedrückende Einsamkeit

Die Ein­samkeit der jun­gen intern Ver­triebe­nen ist ein riesiges Prob­lem in der Ukraine. Das hört man über­all, von Eltern, Psy­chologin­nen oder Sozialar­beit­ern. Umso wichtiger sind Ange­bote wie die der Car­i­tas, wo die Kinder und Jugendlichen einen geschützten Rah­men haben, um sich auszu­tauschen. Dort kön­nen sie spielerisch die schlim­men Erleb­nisse aufar­beit­en und erhal­ten pro­fes­sionelle Begleitung. Auch Ole­na ist oft ein­sam. Ihr Mann Maksym* ist sel­ten daheim. Nicht, weil er an der Front Kriegs­di­enst leis­ten muss, davon ist er als Vater von sechs Kindern befre­it. Er hat eine Anstel­lung als Schweiss­er gefun­den und muss wochen­lang in anderen Städten arbeit­en. Dann liegt alles auf Ole­nas Schul­tern. In ruhi­gen Momenten kom­men ihr die Trä­nen. Trau­rig schaut sie auf die Kof­fer im Woh­nung­sein­gang. Sie sind Sinnbild für alles, was sie durch den Krieg ver­loren hat und für die Ungewis­sheit, die noch vor ihr und ihren Kindern liegt. Dann hebt sie res­o­lut den Kopf. «Das sind die Umstände. Ich kann es nicht ändern.» Sie will sich nicht vom Krieg brechen lassen.

*Alle Namen sind zum Schutz der Per­so­n­en geän­dert

Text: Livia Leykauf/Caritas

Eva Meienberg
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