Ein Beichtstuhl als Notausgang

Ein Beichtstuhl als Notausgang

An heis­sen Som­merta­gen kann der Besuch in ein­er der schön­sten Aar­gauer Betonkirchen für Architek­tur­in­ter­essierte zu einem richtig coolen Erleb­nis wer­den. Hor­i­zonte machte die Probe aufs Exem­pel und liess sich aus­gewählte Schmuck­stücke vom lei­t­en­den Denkmalpfleger Reto Nuss­baumer zeigen — in dieser Folge die Kirche St. Anton in Wet­tin­gen, in der ein funk­tionaler Beicht­stuhl unfrei­willig komisch daher kommt. In der Anto­niusstrasse in Wet­tin­gen, ein­er Sack­gasse mit schmalem Fuss­weg Rich­tung Zen­tral­strasse am Ende, blitzt rechter Hand ein Gebäude durch die Büsche: Die Kirche Sankt Anton. Erst beim Rechtsab­biegen an der Zen­tral­strasse, wenn der schlanke und hohe Glock­en­turm in den Blick kommt, zeigt sich das Gebäude voll­ständig und weckt die Neugierde auf einen Blick ins Innere.

Wie eine Bühne ohne Vorhang

Ent­wor­fen wurde die Kirche vom Architek­ten Karl Higi. Ein Architekt, der, so wird Reto Nuss­baumer später im Gespräch bemerken, «vielle­icht bish­er zu wenig gewürdigt wurde».Sankt Anton ist unglaublich hoch und wirkt noch höher, weil das Vor­dach des Kirchge­bäudes durch extrem schlanke Säulen getra­gen wird. «Architek­tonisch kann man Sankt Anton Wet­tin­gen als das Verbindungs­glied zwis­chen Peter und Paul Aarau von 1940 und der Heiliggeist-Kirche in Suhr aus dem Jahr 1961 beze­ich­nen», ord­net Reto Nuss­baumer den Kirchen­bau ein.Die Höhe und die schlanken Säulen beein­druck­en auch innen. Den Kopf in den Nack­en gelegt, sieht man eine Kas­set­ten­decke, deren einzelne Felder in ver­schiede­nen Rot­tö­nen aus­ge­malt sind. Geht man dem Mit­tel­gang in Rich­tung Chor­raum ent­lang, ver­schwindet die Decke fast aus dem Bewusst­sein, so hoch über dem Kopf schwebt sie — eher, als dass sie auf den Säulen ruht. Ein weit­er­er Ein­druck: Je näher man dem Chor­raum kommt, desto mehr erin­nert der Auf­bau mit dem schmalen Bogen im Auf­gang zum Altar­raum an eine Bühne; allein der rote Vorhang fehlt.

Bildskandal verzögert Einweihung

Im Hin­ter­grund des Altar­raumes ist eine angedeutete Apsis. Der Rah­men ist reich bemalt, ein Bildtep­pich im oberen Teil zeigt den Patron der Kirche und eine Abendmahlsszene. «Die Gestal­tung dieser Apsis war der Grund für die etwas verzögerte Ein­wei­hung der Kirche. Der Kün­stler, Fer­di­nand Gehr, hat­te die Aus­malung besorgt. Diese passte dem Bischof – ein­mal mehr Fer­di­nand Streng – nicht», erzählt Reto Nuss­baumer schmun­zel­nd. Erst als das Bild, abstrakt dargestellte Engel, durch einen Vorhang verdeckt wer­den kon­nte, wurde die Kirche am 18. Juli 1954 eingewei­ht. Später, 1960, wur­den dann sechs Wandtep­piche mit ver­schiede­nen Motiv­en des Kirchen­jahres von ins­ge­samt vier Kün­stlern gestal­tet. Diese Lösung der Apsis­gestal­tung ist bis heute in Gebrauch.Die Kon­struk­tion der Kirche wirkt trotz des mod­er­nen Baustoffs, der ungewöhn­lichen Pro­por­tio­nen und der eigen­willi­gen Gestal­tung ver­traut. Reto Nuss­baumer löst dieses Rät­sel in einem Satz: «Sankt Anton schafft die überzeu­gende Verbindung zwis­chen tra­di­tionellem Grun­driss und zeit­genös­sis­chem Aufriss». Reto Nuss­baumer zeigt, was er meint: Der Bau ist dreis­chif­fig, auch wenn die Seit­en­schiffe nur denkbar schmal über die Säulen und die Decke vom Hauptschiff abge­set­zt sind. Der Raum ist unterteilt in Joche, wie man es aus roman­is­chen oder gotis­chen Kirchen ken­nt. Gle­ichzeit­ig  ist es eine mod­erne Kirche – nicht nur durch den Baustoff, son­dern auch durch die Fen­ster und die Ein­rich­tung. Bis in die Beicht­stüh­le hinein ist die Ausstat­tung fast ursprünglich erhal­ten.

«Dreck» färbt Kirchen schwarz

Sankt Anton wirkt in sich stim­mig. Bei der  Neugestal­tung des Vor­platzes wurde darauf geachtet, dass die ursprüngliche Bodengestal­tung unter dem Vor­dach aufge­grif­f­en wurde. Die Aus­malung im Inneren ist durch wenige Kün­stler gemacht wor­den. Fer­di­nand Gehr «zer­störte» selb­st sein ursprünglich­es Bild, als er die Apsis über­malte und die Apsis-Rah­mung mit Blick auf die sechs Wandtep­piche neu gestal­tete. Er lieferte auch gle­ich einen Entwurf für einen Wandtep­pich. Deck­e­naus­malung, Kreuzweg und eben­falls ein Wandtep­pich stam­men aus der Hand von Armin Brugiss­er. Ein weit­er­er wurde von Willi Hel­bling und ins­ge­samt drei von Hans Stock­er ent­wor­fen. Mit Armin Brugiss­er und Willie Hel­bling waren zwei Aar­gauer Kün­stler am Werk, der Basler Hans Stock­er gilt als Pio­nier der mod­er­nen schweiz­erischen sakralen Glas­malerei. Diese Acht­samkeit in den Neugestal­tun­gen führt zur grossen Ruhe, die Sankt Anton ausstrahlt.«Zu dem frischen und schö­nen Gesamtein­druck trägt bei», so erk­lärt Reto Nuss­baumer zudem, «dass die Kirche gere­inigt wurde. Der Schmutz, der sich im Laufe der Zeit ablagert, weil die Heizungsan­la­gen Staub und andere Par­tikel an den kühlen Wän­den abset­zen, wurde vor anderthalb Jahren ent­fer­nt». Es sei übri­gens, so räumt er einen ver­bre­it­eten Irrtum aus, nicht nur der Russ von Kerzen, son­dern tat­säch­lich ordinär­er «Dreck», der die Kirchgewölbe schwarz färbe. «In jed­er Kirche mit irgen­dein­er Form von Heizungsan­lage ken­nen wir dieses Prob­lem», ergänzt er.

Unfreiwillig komisch?

An ander­er Stelle ist Sankt Anton ein weit­eres gutes Beispiel dafür, wie mit Find­igkeit har­monis­che Lösun­gen für die Verbindung von ursprünglich­er Nutzung und neuen Anforderun­gen gefun­den wer­den kön­nen. Während die meis­ten der kleinen Kam­mern in der linken Seit­en­wand der Kirche als klas­sis­che Beicht­stüh­le oder als offeneres Beichtz­im­mer genutzt wer­den kön­nen, trägt ein­er an der recht­en Seite ein grünes Notaus­gangss­child.«In entsprechen­den Refer­at­en vor Studieren­den führe ich diesen Beicht­stuhl gerne als ide­ale Lösung an. Im Inneren der Kirche ist bis auf das Notaus­gangss­child alles erhal­ten. Die Holzausklei­dung hin­ter den Türen wurde ent­fer­nt und aussen wurde in die Mauer­aus­buch­tung, die jed­er der Beicht­stüh­le hat, ein Durch­gang gebrochen und mit ein­er Tür exakt in dem Stil und Mate­r­i­al verse­hen, wie auch die Ein­gangstüren sind», erk­lärt Reto Nuss­baumer. Wer diesen Umstand nicht ken­nt, merkt  kaum, dass es jemals anders gewe­sen ist. Er oder Sie fragt sich vielle­icht ein­fach, welch schrä­gen Sinn für Humor ein Architekt haben muss, der ein Notaus­gangss­child auf eine Beicht­stuhltür mon­tiert. Bish­er erschienen: Dies war der vierte und let­zte Beitrag der diesjähri­gen Hor­i­zonte-Som­merserie. Alle bish­er erschienen Artikel kön­nen Sie nach­le­sen: Der dop­pel­teilige Auf­takt: Aarau, Peter und Paul; Ennet­baden, St. Michael Suhr, Kirche Heilig Geist Buchs, St. Johannes
Anne Burgmer
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