Auf die Strasse!?

Auf die Strasse!?

  • Der Streik gehört für eine Mitte-Poli­tik­erin nicht zum tra­di­tionellen Reper­toire.
  • Pia Viel find­et es legit­im, poli­tis­che Forderun­gen auf die Strasse zu tra­gen: Der Streik schaffe Aufmerk­samkeit.
  • Aber dann müssten aus Forderun­gen Geset­ze entste­hen. Das ist die Arbeit, welche die katholis­che Poli­tik­erin aus Ehrendin­gen wirk­lich inter­essiert.

Aus dem Frauen­streik wurde der Fem­i­nis­tis­che Streik. Wie ste­hen Sie zu diesem Namenswech­sel?
Pia Viel*: Ich finde ihn nicht gut. Fem­i­nis­mus hat ein schlecht­es Image bei vie­len Men­schen. Sie stellen sich radikale Frauen vor, die auss­chliesslich für ihre eige­nen Rechte kämpfen. Mit dieser Namen­sän­derung haben wir im Aar­gau bewirkt, dass die Land­frauen nicht mehr mit­machen. Die Mitte-Frauen kom­men im Aar­gau zwar zu den Kundge­bun­gen aber marschieren nicht mit.

Und Sie selb­st, marschieren Sie mit?
Ich werde mich spon­tan entschei­den. 2019 war mir der Marsch zu laut. Das ist nicht meine Art.

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Beze­ich­nen Sie sich als Fem­i­nistin?
Ja. Denn für mich bedeutet Fem­i­nis­mus eine umfassende Entwick­lung, die das Leben für alle Men­schen gerechter macht.

Was fordern Sie am Streik?
Ich fordere, dass die Fam­i­lien im Kan­ton Aar­gau für die Kinder­be­treu­ungskosten über­all nach dem gle­ichen Tar­if­sys­tem unter­stützt wer­den . Es darf keine Rolle spie­len, ob eine Fam­i­lie in Unter­siggen­thal oder in Geben­storf wohnt. Gegen diese Ungerechtigkeit set­ze ich mich ein.

Tun Sie das auch in Ihrer Rolle als Mitte-Präsi­dentin des Bezirks Baden?
Ja, aber für diese Forderung set­zt sich meine Partei nicht expliz­it ein. Und das, obwohl sie sich als eine Fam­i­lien-Partei darstellt und sagt, sie set­ze sich für die Vere­in­barkeit von Beruf und Fam­i­lie ein. Die Gemein­de­ho­heit wird in der Mitte hochge­hal­ten. Man will den Gemein­den nicht vorschreiben, wie sie die Gelder vom Kan­ton ein­set­zen müssen.

Sie sagen, seit das Christlich aus dem Namen Ihrer Partei gestrichen wurde, hät­ten Sie mehr Zulauf von jün­geren Men­schen. Vielle­icht hät­ten Sie mehr Zulauf in den Frauen­vere­inen, wenn das katholisch aus dem Namen ver­schwinden wür­den?

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Es gibt Ortsvere­ine, die das machen, weil sie für Frauen aller Kon­fes­sio­nen und Reli­gio­nen offen sein wollen. Wir haben uns entsch­ieden, dass katholisch zu unser­er Iden­tität gehört. Und zu unserem Pro­gramm gehört, dass wir uns für eine offene, bessere Kirche ein­set­zen. Im AKF sind trotz­dem alle Kon­fes­sio­nen willkom­men, solange sie die christlichen Grundw­erte vertreten kön­nen.

Sie set­zen sich auch ein für Gle­ich­stel­lung und gin­gen dafür 2018 auf die Strasse …
Als der Kan­ton die Fach­stelle Gle­ich­stel­lung in der Bud­get­de­bat­te gestrichen hat, haben wir vom Aar­gauer Katholis­chen Frauen­bund vor dem Gross­rats­ge­bäude demon­stri­ert. Mit dabei waren viele AKF-Frauen, die sich seit Jahrzehn­ten für die Gle­ich­stel­lung einge­set­zt hat­ten. Susi Krämer war früher Mit­glied des Vere­ins Aar­gauer Staats­bürg­erin­nen, der sich schon für das Frauen­stimm- und Wahlrecht ein­set­zte, war Präsi­dentin der STAKA (Staats­bürg­er­liche Ver­band katholis­ch­er Schweiz­erin­nen), Präsi­dentin der CVP Stadt Baden und Vor­standsmit­glied der Frauen­zen­trale Aar­gau. Eben­falls anwe­send war Irme­line Gehrig-Bor­er, ehe­ma­lige Gross­rätin, welche mit ein­er Motion die Schaf­fung der Fach­stelle gefordert hat­te. Diese Frauen kon­nten nicht ver­ste­hen, dass sie mit 80 Jahren für den Erhalt der Fach­stelle für Gle­ich­stel­lung wieder auf die Strasse gehen mussten. Gle­ich­stel­lung bet­rifft alle Men­schen: Men­schen mit Behin­derung, allein­erziehende Men­schen, Men­schen mit Migra­tionsh­in­ter­grund. Im Kan­ton Aar­gau gibt es noch viel zu tun, damit allen Men­schen Gerechtigkeit wider­fährt. Darum fordere ich am Fem­i­nis­tis­chen Streik die Wiedere­in­führung ein­er Fach­stelle für Gle­ich­stel­lung im Kan­ton Aar­gau.

Hin­ter welchen aktuellen Forderun­gen des Fem­i­nis­tis­chen Streiks ste­hen Sie?

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Ich ste­he hin­ter der Forderung nach Lohn­gle­ich­heit und nach einem Min­dest­lohn. Als Beispiel: Der Min­dest­lohn für eine Fach­per­son Betreu­ung liegt nach der Aus­bil­dung bei 4100 Franken. Die Betreu­ungsar­beit von Kindern ist sehr wertvoll und trägt zur Vere­in­barkeit von Fam­i­lie und Beruf bei. Für einen genü­gend hohen Lohn der Betreuen­den müssten die Eltern mehr bezahlen, was nicht wün­schenswert ist. Darum finde ich es richtig, dass der Bund das Impul­spro­gramm zur Förderung der fam­i­lienergänzen­den Kinder­be­treu­ung ver­längert hat.

Wie sieht es mit weit­eren Forderun­gen aus?
Es ist höch­ste Zeit, dass wir die Pflegeini­tia­tive umset­zen. Ausser­dem bin ich für einen tief­er­en Koor­di­na­tion­s­abzug für die zweite Säule. Zudem sollte es möglich sein, bere­its ab 20 Jahren Sparkap­i­tal einzuzahlen, wenn eine Per­son beruf­stätig ist. Die über die Zeit ansteigen­den Abzüge finde ich für die Betriebe und die Sparen­den belas­tend, da würde ich mir mehr Flex­i­bil­ität wün­schen.

Es gibt die Forderung nach der Abschaf­fung des Drei-Säulen-Sys­tems in der Altersvor­sorge zugun­sten ein­er einzi­gen Säule. Wie denken Sie darüber?
Da bin ich dage­gen. Alle soll­ten die Gele­gen­heit haben ergänzend zur AHV für sich zu sparen. Wir wis­sen nicht, wie es mit der AHV weit­erge­ht. Ich würde mich nur mit der AHV unsich­er fühlen.

Wie denken andere AKF-Frauen über diese Forderung?
Vor allem ältere Frauen haben sich bei mir gemeldet und mich aufge­fordert, die Forderun­gen nicht zu unter­stützen. Die Auflö­sung des Drei-Säulen-Prinzips und die Ein­heit­skassen find­en diese Frauen total daneben. Sie haben das Gefühl, es werde alles kaputt gemacht, was sie aufge­baut haben. Das sind Frauen, die noch für das Frauen­stimm­recht und die AHV auf die Strasse gin­gen.

Wie gehen Sie mit der Het­ero­gen­ität des Fem­i­nis­tis­chen Streiks um?
Alle müssen einen Platz haben in dieser Bewe­gung. Ich möchte auch nicht diskri­m­iniert wer­den, weil ich nicht alle Forderun­gen unter­stütze. Zusam­men haben wir eine grosse Kraft. Wir vom AKF schreiben die Sol­i­dar­ität anderen gegenüber gross.

Spiegelt sich diese Het­ero­gen­ität auch im AKF?

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Ja, die Frauen im AKF sind sehr unter­schiedlich.

Wie gehen Sie damit um?
Ich bin eine sehr tol­er­ante Per­son, die andere Mei­n­un­gen ste­hen lassen kann. In meinem Leben, das ich über dreizehn Jahre im Aus­land ver­bracht habe, habe ich gel­ernt, dass es viele ver­schiedene Wege gibt, um ans Ziel zu kom­men. Es gibt ver­schiedene Wertvorstel­lun­gen, die man akzep­tieren muss. Und den­noch müssen wir im Vor­stand des AKF Entschei­de tre­f­fen. Dafür haben wir Grund­sätze for­muliert. Entschei­de dür­fen diesen nicht wider­sprechen. Aber wir kön­nen es nie allen recht machen.

Welche aktuellen Streik­forderun­gen lehnen Sie ab?
Ich bin gegen eine Senkung des Rentenal­ters. Men­schen, die länger arbeit­en kön­nen, sollen das kön­nen. Natür­lich gibt es Branchen, in denen die Arbeit­nehmenden früher in Pen­sion gehen kön­nen sollen, etwa in der Baubranche. Ich wün­sche mir ein Mod­ell, in dem das Pen­sion­salter glei­t­end erre­icht wer­den kann, je nach­dem, wie es den Arbeit­nehmenden bei der Arbeit gesund­heitlich erge­ht. Ich möchte auch keine ein­heitliche, öffentliche Krankenkasse. Beispiele aus Deutsch­land und Eng­land zeigen, dass Men­schen, die es sich leis­ten kön­nen, zusät­zlich zur Ein­heit­skasse eine pri­vate Ver­sicherung haben, um bessere Leis­tun­gen zu bekom­men. Wir haben die Prämien­ver­bil­li­gun­gen, die dazu da sind, Men­schen zu unter­stützen, die sich die Krankenkassen­beiträge nicht leis­ten kön­nen.

Wie ste­hen Sie zur Beren­tung der Care-Auf­gaben, die gratis geleis­tet wer­den?
Das finde ich sehr gut. Aber ich glaube, dass wir dafür noch lange kämpfen müssen. Immer­hin kön­nen wir bei der AHV die Zeit, in der wir Kinder­be­treu­ung geleis­tet haben, anrech­nen lassen.

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Was hal­ten Sie von der Forderung nach einem Jahr Elternzeit pro Per­son und Kind?
Ich bezwei­fle, dass wir uns das leis­ten kön­nen. Ich bin dafür, dass die Eltern in Teilzeit arbeit­en kön­nen und sich die Elternar­beit aufteilen. Jede Fam­i­lie sollte die Wahl haben, wie sie die Betreu­ungsar­beit organ­isieren möchte aber dafür braucht es die Lohn­gle­ich­heit.

Wie sieht es mit der Arbeit­steilung bei Ihnen zu Hause aus?
Als unsere Kinder klein waren, habe ich zu Hause die Betreu­ungsar­beit geleis­tet und wir haben vom Lohn meines Mannes gelebt. Wir hät­ten uns auch anders entschei­den kön­nen. Ich habe damals auf ein­er Bank gear­beit­et und genug ver­di­ent für die Fam­i­lie. Heute machen wir die Arbeit zu Hause gemein­sam. Ich mähe keinen Rasen und mein Mann bügelt nicht. Den Rest teilen wir uns.

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Noch ein Wort zum Frauen­haus Aar­gau-Solothurn.
Ich finde die Forderung für den Schutz aller Men­schen vor häus­lich­er Gewalt sehr wichtig. Es braucht Mass­nah­men, die gewährleis­ten, dass die Täterin­nen und Täter nicht davonkom­men. Es brauch zudem Schutz­plätze für Gewalt­be­trof­fene. Im Kan­ton Aar­gau gibt es dahinge­hend eine grosse Ungerechtigkeit: das Frauen­haus Aar­gau-Solothurn bekommt vom Kan­ton keinen Sock­el­beitrag und ist deswe­gen von den erbracht­en Leis­tun­gen abhängig. Das finde ich unver­ständlich. Wenn das Frauen­haus nicht aus­ge­lastet ist, was ja eigentlich wün­schenswert ist, dann macht der Betrieb Defiz­it. Der Betrieb ist darum auch von Spenden abhängig. Der AKF berück­sichtigt das Frauen­haus regelmäs­sig mit seinen Zuwen­dun­gen. Zeit­gemäss wäre es, wenn der Kan­ton das Frauen­haus finanziell tra­gen würde. Der Kan­ton ist auf diese Insti­tu­tion angewiesen und brüstet sich immer wieder gerne mit ihr.

*Pia Viel ist seit 2020 Präsi­dentin von Die Mitte Region Baden. Sie prä­si­diert auch den Aar­gauis­chen Katholis­chen Frauen­bund und den kan­tonalen Dachver­band Tagesstruk­turen. Pia Viel lebt mit ihrem Mann in Ehrendin­gen, wo sie bis 2013 Präsi­dentin der Schulpflege war. Pia Viel set­zt sich für die Frauenor­di­na­tion in der katholis­chen Kirche ein.


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Eva Meienberg
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