Direktdemokratisch und antikatholisch
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Direktdemokratisch und antikatholisch

Direktdemokratisch und antikatholisch

Mit der Total­re­vi­sion am 19. April 1874 fan­den kon­fes­sionelle Aus­nah­meartikel Einzug in die Schweiz­er Bun­desver­fas­sung. Sie waren Aus­druck des Kul­turkampfs und ein Mit­tel des Staates, um in die inneren Ver­hält­nisse der Kirche einzu­greifen. Die dama­li­gen Aus­nah­meartikel wur­den in den ver­gan­genen Jahrzehn­ten aufge­hoben – neue kamen hinzu.Vor 150 Jahren tobte ein Machtkampf zwis­chen Anhängern des Lib­er­al­is­mus und kon­ser­v­a­tiv-katholis­chen Kräften. Die Schweiz hat­te seit 1848 eine Bun­desver­fas­sung (BV), die bere­its das Jesuit­en­ver­bot enthielt. Der Orden wurde für den Aus­bruch des Son­der­bund­skriegs ver­ant­wortlich gemacht. Rom stellte sich gegen die Aufk­lärung, was Papst Pius IX. 1864 im Doku­ment «Syl­labus erro­rum» fes­thielt. Darin wurde der Lib­er­al­is­mus ver­dammt. Das 1870 vom 1. Vatikanis­chen Konzil erlassene Dog­ma zur päp­stlichen Unfehlbarkeit brachte in der Schweiz das lib­erale Fass zum Über­laufen. Da die BV von 1848 noch prak­tisch keine direk­t­demokratis­chen Instru­mente enthielt – die Nation­al­ratswahlen und die Ini­tia­tive zur Total­re­vi­sion der BV waren die einzi­gen Aus­nah­men – wur­den schon bald Rufe nach ein­er Total­re­vi­sion laut. Angestrebt wurde eine volk­snähere Demokratie. «Um auch die kon­ser­v­a­tiv­en Protes­tanten für die neue Bun­desver­fas­sung zu gewin­nen, wurde sie antikatholisch aufge­laden», sagt der His­torik­er Mar­co Jorio. Am 19. April 1874 wurde die total­re­v­i­dierte BV von den Wahlberechtigten angenom­men. In Bezug auf die indi­vidu­elle Reli­gions­frei­heit brachte sie eine Verbesserung mit sich: War diese bish­er nur Chris­ten vor­be­hal­ten, galt sie neu für alle Men­schen in der Schweiz. Anders sah es hinge­gen mit der kor­po­ra­tiv­en Reli­gions­frei­heit aus, die in den kon­fes­sionellen Aus­nah­meartikeln eingeschränkt wurde. Das Jesuit­en­ver­bot blieb beste­hen, die katholis­che Kirche durfte ohne Ein­willi­gung des Staates keine Bistümer mehr erricht­en, Kloster­grün­dun­gen wur­den unter­sagt. «Zudem wurde der Nun­tius aus der Schweiz gewor­fen. Und wir beobacht­en einen damals ‹öku­menis­chen› Antik­lerikalis­mus: Nicht nur katholis­che Priester, son­dern auch reformierte Pfar­rer waren von der Wahl in den Nation­al­rat aus­geschlossen», sagt Jorio. Auf­gaben wie das Zivil­stands- und Begräb­niswe­sen, die Schule, Soziales und die Pflege wur­den von der Kirche auf den Staat über­tra­gen.

20. Jahrhundert – Schrittweise Abschaffung der Artikel

Die kon­fes­sionellen Aus­nah­meartikel wur­den im Ver­lauf des 20. Jahrhun­derts immer weniger durch­set­zbar. «Nach dem Zweit­en Weltkrieg erkan­nte man, dass diese Artikel men­schen­rechtswidrig sind», sagt Mar­co Jorio. Auf­grund dieser Artikel kon­nte die Schweiz damals die Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion nur unter Vor­be­halt unterze­ich­nen. Nach dem Zweit­en Vatikanis­chen Konzil in den 1960er-Jahren erfol­gte 1973 die Abstim­mung zur Aufhe­bung des Kloster- und Jesuit­e­nar­tikels. Mar­co Jorio, damals Stu­dent und im Abstim­mungskomi­tee aktiv, erin­nert sich: «Wir hat­ten die Abstim­mung gewon­nen, aber selb­st da noch gegen grossen reformierten Wider­stand.» Mit der BV 1999 fie­len das Wahlver­bot für Geistliche sowie das Schächtver­bot, let­zteres wurde jedoch unmit­tel­bar in das Tier­schutzge­setz aufgenom­men. Mit ein­er Volksab­stim­mung im Juni 2001 wurde der let­zte kon­fes­sionelle Aus­nah­meartikel, der in der BV 1874 wurzelte, beseit­igt, der Bis­tum­sar­tikel wurde aufge­hoben. Den­noch enthält die BV 1999 heute wieder zwei kon­fes­sionelle Aus­nah­meartikel. «Mit dem Minarettver­bot aus dem Jahr 2009 hat eine Ein­schränkung der kollek­tiv­en Reli­gions­frei­heit Einzug in die Bun­desver­fas­sung gefun­den. Und mit dem Ver­schleierungsver­bot, über welch­es wir vor drei Jahren abges­timmt haben, ist die indi­vidu­elle Reli­gions­frei­heit eingeschränkt wor­den. Bei­de Artikel dürften antimus­lim­isch motiviert sein», sagt Jorio.Mar­i­anne BoltZuerst erschienen im Pfar­reiblatt des Kan­tons Zug
Marianne Bolt
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