Moderne Taglöhnerei

Moderne Taglöhnerei

  • Immer mehr Men­schen bieten ihre Arbeit auf dig­i­tal­en Plat­tfor­men an.
  • Viele dieser Plat­tfor­men wollen jedoch partout keine Ver­ant­wor­tung als Arbeit­gebende übernehmen.
  • Karin Schwiter erforscht dieses noch junge Phänomen.

Sie beschäfti­gen sich mit den Fol­gen der Dig­i­tal­isierung für den Arbeits­markt, im Speziellen mit der Gig-Ökonomie. Wer arbeit­et in diesem Feld?
Karin Schwiter: In der Gig-Ökonomie arbeit­en vornehm­lich Men­schen mit wenig Möglichkeit­en auf dem Arbeits­markt. Sie haben Schwierigkeit­en, eine dauer­hafte, gut bezahlte Arbeitsstelle zu find­en. Viele von ihnen sprechen die lokale Sprache nicht gut oder brin­gen die gewün­schte Aus­bil­dung oder Arbeit­ser­fahrung nicht mit. Ihre Fähigkeit­szeug­nisse wer­den vor Ort nicht anerkan­nt oder sie haben keine Arbeit­ser­laub­nis. In der Gig-Ökonomie arbeit­en aber auch häu­fig Studierende, die neben ihrem Studi­um kurze Arbeit­sein­sätze machen wollen.

Was heisst Gig?
Der Begriff «Gig» kommt aus der Musikin­dus­trie und meint einen ein­ma­li­gen Auftritt ein­er Band. In der Gig-Ökonomie beze­ich­net er einen ein­ma­li­gen Arbeit­sein­satz. Beispiel­sweise verkauft eine Frau einen Abend lang Würste an einem Fuss­ball­match. Ist der Ein­satz vor­bei, hat sie kein­er­lei Anspruch auf weit­ere Arbeit. Das ist Arbeit auf Abruf, ähn­lich wie die frühere Taglöh­nerei.

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Was ist neu an der Gig-Ökonomie?
Neu ist die Vere­in­fachung und die Beschle­u­ni­gung des Abrufs durch die dig­i­tal­en Plat­tfor­men. Als Arbeit­suchende kann ich dort ein Pro­fil erstellen und meine Arbeit anbi­eten. Das bet­rifft vor allem Arbeits­felder wie Lieferser­vice, Putz- und Fahr­di­en­ste, aber auch Care-Arbeit. Als Kon­sumentin kann ich in kürzester Zeit eine Per­son find­en, die mir die Woh­nung putzt, das Kind betreut oder mich zum Flughafen fährt. Die Bezahlung läuft über die Plat­tform.

Welch­es sind die Ver­sprechen der Gig-Ökonomie?
Sie ver­spricht den Arbeit­skräften die Frei­heit, dann zu arbeit­en, wann sie Zeit haben. Aus Inter­views mit Gig-Arbei­t­en­den haben wir aber erfahren, dass let­ztlich die Kund­schaft und die Plat­tfor­men bes­tim­men, wann gear­beit­et wird. Die Plat­tfor­men steuern die Gig-Arbei­t­en­den zusät­zlich mit dynamis­chen Preis­plä­nen. Ist die Nach­frage nach Fahr­di­en­sten gross, sind die Fahrpreise und somit die Löhne höher. Will eine Uber-Fahrerin etwas ver­di­enen, muss sie dem­nach Sam­sta­gnacht fahren oder wenn es in Strö­men reg­net. Dann, wenn die meis­ten Fahrten gebucht wer­den. Sehr oft hat es auf diesen Plat­tfor­men weniger Jobs als Men­schen, welche die Jobs gerne machen möcht­en.

Karin Schwiter (45) ist Assis­ten­zpro­fes­sorin für Arbeits­geo­gra­phie an der Uni­ver­sität Zürich. Sie ist zudem Mit­glied der Eid­genös­sis­chen Kom­mis­sion für Frauen­fra­gen EKF.

Wie gross ist diese Gig-Ökonomie?
Diese Frage ist sehr schwierig zu beant­worten. Die Eid­genös­sis­che Finanzkon­trolle schätzt, dass Plat­tfor­m­di­en­stleis­tende in der Schweiz inzwis­chen mehr als eine Mil­liarde Umsatz erzie­len. Und sie geht davon aus, dass sich die Gig-Ökonomie weit­er aus­bre­it­en wird. Ein gross­er Teil der Arbeit über Plat­tfor­men ist jedoch nicht deklar­i­ert und taucht deshalb nicht in den offiziellen Sta­tis­tiken auf. Es gibt viele Fra­gen zur Gig-Ökonomie, die drin­gend beant­wortet wer­den müssen.

Näm­lich?
Ist der Uber-Fahrer angestellt oder ist er selb­ständig? Wie ste­ht es mit seinen Sozial­ab­gaben? Ist etwa die Plat­tform Care.com eine Arbeit­ge­berin oder lediglich eine Arbeitsver­mit­t­lerin? Solche Fra­gen wer­den zur Zeit in vie­len einzel­nen Recht­sprozessen ver­han­delt. Es fällt auf, dass viele Plat­tform-Unternehmen unter keinen Umstän­den die Ver­ant­wor­tung als Arbeit­gebende tra­gen wollen. Nach­dem das Bun­des­gericht diesen Som­mer entsch­ied, dass Uber-Fahrende im Kan­ton Genf als Angestellte zu behan­deln sind, muss die Plat­tform nun Nachzahlun­gen in der Höhe von 35 Mil­lio­nen leis­ten. Inzwis­chen lässt sie ihre Fahrerin­nen und Fahrer durch eine Drit­tfir­ma anstellen. Auch dies ist rechtlich umstrit­ten.

Erhöht die Arbeit in der Gig-Ökonomie die Chance, auf dem Arbeits­markt eine gesicherte Stelle zu erhal­ten?
Das ist die grosse Hoff­nung viel­er Gig-Arbei­t­en­den. Es zeigt sich aber, dass der Umstieg zu einem bess­er bezahlten Job oft sehr viel schwieriger und lang­wieriger ist als gedacht. Die Gig-Arbeit wird auf dem Arbeits­markt nicht als Qual­i­fika­tion ange­se­hen. Einige Arbeit­nehmende find­en vielle­icht eine Teilzeit­stelle, sind aber weit­er­hin auf die Gigs angewiesen.

Generell gefragt: Ist die Dig­i­tal­isierung Fluch oder Segen für die Gesellschaft?
Die Gesellschaft hat es in der Hand, wie sie dig­i­tale Tech­nolo­gien ein­set­zt. Sie kön­nte die durch dig­i­tal­isierte Prozesse gewonnene Zeit zur Entschle­u­ni­gung ver­wen­den. Oder sie für Care-Arbeit ein­set­zen. Aber die gewonnene Zeit kann auch dazu ver­wen­det wer­den, noch mehr zu arbeit­en, noch mehr zu pro­duzieren. Wir haben es in der Hand.

Es gibt grosse Befürch­tun­gen, dass Men­schen durch Com­put­er­pro­gramme erset­zt wer­den, dass viele Men­schen ihre Arbeit ver­lieren.
Jede tech­nol­o­gis­che Entwick­lung ruft diese Äng­ste her­vor. Der Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass jede neue Tech­nolo­gie immer auch neue Jobs geschaf­fen hat. Zudem fall­en Jobs nicht ein­fach weg, son­dern sie verän­dern sich.

Sie sagen, in der Gig-Ökonomie kön­nen neue Jobs entste­hen. Aber welche Jobs fall­en weg?
Es gibt eine These in der Arbeits­mark­t­forschung, die besagt, dass die Dig­i­tal­isierung im Arbeits­markt ein­er­seits zu mehr Jobs für gut- und hochaus­ge­bildete Men­schen führt. Also beispiel­sweise mehr IT-Entwick­lerin­nen, mehr Pro­gram­mier­er. Ander­er­seits entste­hen viele neue Jobs mit sehr tiefen Löh­nen. In diesen Jobs müssen Men­schen Arbeit­en ver­richt­en, die nicht oder noch nicht dig­i­tal­isiert wer­den kön­nen. Da sicht­en dann beispiel­sweise Men­schen Youtube-Filme auf Gewalt­darstel­lun­gen hin.

Was geschieht mit Men­schen in Durch­schnittsjobs, mit Leuten, die durch­schnit­tliche Löhne ver­di­enen?
Die These ist, dass in diesem Seg­ment am ehesten Jobs weg­fall­en. Diese Entwick­lung kann dazu beitra­gen, dass der Graben zwis­chen den gut­bezahlten und den prekären Jobs gröss­er wird. Dieser Entwick­lung müssen wir ent­ge­gen­wirken.

Armutsforum

Am jährlichen Armutsfo­rum der Car­i­tas Zürich wur­den am 26. Okto­ber 2022 die Chan­cen und Hür­den der Dig­i­tal­isierung für Armuts­be­trof­fene beleuchtet. Die Gig-Ökonomie stand dabei als eine der grossen sozialpoli­tis­chen Her­aus­forderun­gen der Gegen­wart im Fokus.

www.caritas-zuerich.ch/armutsforum

Bestellen Sie sich ab und zu das Essen nach Hause?
Nein. Ich lasse mir auch die Woh­nung nicht von ein­er Gig-arbei­t­en­den Per­son reini­gen.

Wieso nicht?
Weil ich diese Arbeits­be­din­gun­gen nicht unter­stützen möchte.

Liegt es also an der Kund­schaft, die Ver­ant­wor­tung zu übernehmen, welche die Plat­tform-Unternehmen von sich weisen?
Nein, für die Kund­schaft sind die Arbeits­be­din­gun­gen oft nicht trans­par­ent. Es braucht ganz klar staatliche Reg­ulierun­gen. Wer Arbeit anbi­etet, ist ein Arbeit­ge­ber und muss diese Ver­ant­wor­tung übernehmen. Das Blossstellen der Kon­sumentin­nen und Kon­sumenten, die Dien­stleis­tun­gen der Gig-Ökonomie in Anspruch nehmen, bringt unsere Gesellschaft nicht weit­er.

Welche Verän­derun­gen braucht es, damit sich die Bedin­gun­gen für die Arbeit­nehmenden in der Gig-Ökonomie verbessern?
Plat­tform-Unternehmen müssen im Gesetz als Arbeit­gebende definiert wer­den. Zudem müssen die Gig-Arbei­t­en­den unter­stützt wer­den, damit sie sich aus- und weit­er­bilden kön­nen, um schliesslich eine dauer­hafte, exis­ten­zsich­ernde Arbeit zu übernehmen. Die Schweiz ken­nt bish­er keinen generellen Min­dest­lohn. Deshalb braucht es für die Arbeits­felder der Gig-Ökonomie eine Fes­tle­gung von Min­destentschädi­gun­gen und effek­tiv­en Arbeit­szeit­en mit bezahlten Wartezeit­en und Arbeitswe­gen.

Das Inter­view mit Karin Schwiter ist am 19. Feb­ru­ar im Forum Pfar­rblatt erschienen.

Eva Meienberg
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