Der Stadtrundgang «Voll unterschti» ist unbequem, aber lehrreich

Der Stadtrundgang «Voll unterschti» ist unbequem, aber lehrreich

  • Im Jahr 2017 lancierte die Car­i­tas Aar­gau Stadtrundgänge zum The­ma Armut. Im Pro­jekt «Unten durch» ver­mit­tel­ten Schaus­pielerin­nen und Schaus­piel­er dem Pub­likum auf pack­ende Weise, was es heisst, arm zu sein.
  • Vor zwei Jahren entwick­elte die Car­i­tas das Pro­jekt weit­er. Die so ent­stande­nen Stadtrundgänge «voll unter­schti» sind auf Jugendliche zugeschnit­ten.
  • Ein Besuch an einem Rundgang in Baden zeigt, dass die inter­ak­tive Form die jun­gen Teil­nehmenden her­aus­fordert. Der Abend ist nicht bequem, aber lehrre­ich.

Fil­i­pa Césars Frage ist kurz und klar: «Wie sieht eine Per­son aus, die arm ist?» Doch eine ein­deutige Antwort zu geben, fällt den ver­sam­melten Neun­tk­lässlern gar nicht so leicht. Sie über­legen: Trägt eine arme Per­son schäbige Klei­der? Hängt sie häu­fig rum, weil sie keine Arbeit hat? Fil­i­pa César, Mitar­bei­t­erin des Kirch­lichen Regionalen Sozial­dien­sts Baden, hil­ft und fragt die Jugendlichen, woran sie merken wür­den, dass jemand in ihrer Klasse arm ist. «Wenn ein­er nicht ins Ferien­lager mitkom­men kann» oder «Wenn jemand kein Konz­ert besuchen will» laut­en die Antworten. Die jun­gen Erwach­se­nen ziehen das Faz­it: «Armut bedeutet, nicht so viele Chan­cen zu haben.»

Armut, absolut und relativ

Dann berichtet Fil­i­pa César den Jugendlichen von Armut in der reichen Schweiz. Von absoluter Armut, die bedeutet, die Grundbedürfnisse nicht deck­en zu kön­nen. Und von rel­a­tiv­er Armut, die beste­ht, wenn das Einkom­men eines Men­schen unter dem Durch­schnitt liegt und soziale Ungle­ich­heit zur Folge hat. Zu diesem Zeit­punkt haben die Schü­lerin­nen und Schüler den Mann noch nicht bemerkt, der etwas ent­fer­nt auf einem Bän­kli liegt und zu schlafen scheint.

Amar und Elin

Fil­i­pa César ken­nt den Mann offen­bar. Sie geht auf in zu und und spricht ihn an. Die Jugendlichen beobacht­en die bei­den mit ein­er Mis­chung aus Inter­esse und Skep­sis. Dann wen­det sich der junge Mann an die Umste­hen­den und begin­nt, von sich zu erzählen. Amar heisst er, ist Flüchtling und wohnt mit Mut­ter und Geschwis­tern in der Asy­lun­terkun­ft. 

Kurz darauf gesellt sich Amars Kol­le­gin Elin zu der Gruppe. Auch sie erzählt aus ihrem Leben. Elin wohnt zusam­men mit ihrer Mut­ter und ihrem Stief­vater, zu dem sie ein schwieriges Ver­hält­nis hat. Ihre Lehre als Coif­feuse hat sie wegen ein­er Allergie abbrechen müssen. Amar und Elin steuern Rich­tung Kur­park, «um ein biss­chen abzuhän­gen» und fordern die Gruppe auf, mitzukom­men. 

Aktive Auseinandersetzung

Das Ziel der Rundgänge «Voll unter­schti» ist es, Armut sicht­bar zu machen. Die Rollen der Schaus­piel­er basieren auf Fall­beispie­len aus der Prax­is der Kirch­lichen Regionalen Sozial­dien­ste. Auf dem Par­cours wer­den The­men wie Platz­man­gel in der Woh­nung, Abbruch der Lehre, Arbeitssuche und Einkaufen mit wenig Geld ange­sprochen. Die Jugendlichen sollen sich aktiv mit dem The­ma Armut auseinan­der­set­zen.

Die Neun­tk­lässler aus Würen­los sind im Rah­men des Reli­gion­sun­ter­richts da, der in ihrer Pfar­rei pro­jek­t­be­zo­gen stat­tfind­et und sich mit Lebens­fra­gen und Glaubensin­hal­ten auseinan­der­set­zt. Begleit­et wird die Gruppe von der Reli­gion­späd­a­gogin There­sia Hlav­ka.

Neun Franken müssen reichen

Aktiv wer­den müssen die Neun­tk­lässler, als Amar seinen Einkauf­szettel her­vorn­immt und dem Näch­st­ste­hen­den neun Franken in die Hand drückt. «Geht einkaufen.» Neun Franken bekommt ein Flüchtling pro Tag. Davon muss er Essen, Klei­der, ÖV-Tick­ets und alle weit­eren Dinge des täglichen Bedarfs bezahlen. Auf Amars Pos­tizettel ste­ht zuun­ter­st «Geschenk Bro», ein Geburt­stags­geschenk für seinen kleinen Brud­er. Ob das Geld dafür noch reicht?

Auf den Preis achten

Im Laden nimmt ein­er der Schüler das Handy her­vor und tippt fort­laufend die Preise ein. «Das mache ich höch­stens, wenn ich nur wenig Münz dabei habe und nicht sich­er bin, ob es reicht» sagt sein Kol­lege. «Beim Einkaufen auf den Preis zu schauen, kenne ich gar nicht», meint ein ander­er.

Das Geld reicht für den Einkauf. Doch ob das kleine Brötli, das die Gruppe Amar über­re­icht, seine ganze Fam­i­lie satt machen wird?

Eine Lehre ist Luxus

Amar macht Armut konkret. Er erzählt, dass er auf Nahrungsmit­tel­hil­fe angewiesen ist. Dass er nicht Bas­ket­ball­spie­len gehen und sich die Aus­bil­dung für seinen Traum­beruf Hochbauze­ich­n­er nicht leis­ten kann. Elin kom­men­tiert seine Schilderun­gen eben­so mit­füh­lend wie trock­en: «Ich kenn’s.»

Es sind unbe­queme Fak­ten und Fra­gen, die Schaus­piel­er und Spiellei­t­erin an die Jugendlichen her­antra­gen. Doch die Fig­uren Amar und Elin ver­ste­hen es, nicht ankla­gend, son­dern per­sön­lich und dif­feren­ziert über ihre Sit­u­a­tion zu bericht­en.

Rundgang «voll unter­schti» buchen

Wer mit ein­er Gruppe Jugendlich­er den Stadtrundgang «voll unter­schti» erleben will, kann sich bei Mina Umice­vic, Kirch­lich­er Regionaler Sozial­dienst Mutschellen-Reusstal, melden: 

Amar und Elin suchen Ver­stärkung

Das Schaus­piel-Team der Stadtrundgänge «voll unter­schti» sucht (vor allem männliche) Ver­stärkung. Wer an ein­er Rolle inter­essiert ist, kann sich gerne bei Mina Umice­vic, Kirch­lich­er Regionaler Sozial­dienst Mutschellen-Reusstal, melden: " data-type="URL" data-id="mu@caritas-aargau.ch" target="_blank" rel="noreferrer noopener">

«Ist die echt?»

Bei der let­zten Sta­tion ver­ab­schieden sich Elin und Amar. Wenig später tauchen sie als Anna Lena und Samuel wieder auf. Samuel Wel­ter und Anna Lena Scher­er spie­len seit der Pri­marschule The­ater und waren schon let­ztes Jahr bei den Stadtrundgän­gen dabei. Samuel Wel­ters Mut­ter half als The­ater­päd­a­gogin, die «Voll unterschti»-Rundgänge im Auf­trag der Car­i­tas zu entwick­eln.

Anna Lena Scher­er erzählt, sie habe schon ab und zu mit­bekom­men, dass Teil­nehmende anfänglich etwas über­fordert gewirkt, sie ver­stohlen beobachtet und einan­der leise gefragt hät­ten: «Ist die echt?» Samuel Wel­ter betont, dass ihnen das Schaus­piel­ern ein­fach Freude mache. «Wir haben einen groben Ablauf, aber ein gross­er Teil ist Impro­vi­sa­tion. Die Dialoge ergeben sich aus der Sit­u­a­tion her­aus und in Inter­ak­tion mit der Umge­bung.»

Marie-Christine Andres Schürch
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