Altern – aufregend anders
Carmen Frei ist Gerontologin, Journalistin, Ritualgestalterin und Malbegleiterin. In ihren Vorträgen plädiert sie dafür, bis ins hohe Alter aktiv zu sein: «Das Altern ist eine so spannende Phase – nutzt sie! Das Leben hält noch viele Aufgaben für uns bereit.»
Bild: © Roger Wehrli

Altern – aufregend anders

Die Gerontologin Carmen Frei schafft neue, positive Altersbilder

Pflegenotstand und schwindende AHV-Reserven sind Aspekte des Alterns, die medial omnipräsent sind. Sie prägen unser Bild vom Altern. Da ist das Gespräch mit Carmen Frei eine Offenbarung.


Als Geron­tolo­gin hält Car­men Frei Vorträge unter dem Titel «Altern – aufre­gend anders». «Ich will den Blick aufs Altern erweit­ern und neue Alters­bilder dazufü­gen. Ich will die Leute aber auch aufre­gen, im pos­i­tiv­en Sinn», sagt Frei.

30 Jahre Altern brauchen einen Plan

Vor zehn Jahren hat die Jour­nal­istin und langjährige Chefredak­torin des früheren Aar­gauer Pfar­rblatts «Hor­i­zonte» einen Mas­ter­ab­schluss in Geron­tolo­gie gemacht. Sei­ther nimmt sie viele Dinge mit der «Alters­brille» wahr, wie sie sagt. Im Gespräch mit Men­schen und in ihren Refer­at­en will sie ein neues Bewusst­sein schaf­fen für die Phase im Leben, die meist mit der Pen­sion­ierung begin­nt und gut und gerne 30 Jahre dauern kann. Wenn im per­sön­lichen Umfeld jemand mit 60 Jahren stirbt, verz­er­rt das die Wahrnehmung, und es geht vergessen, dass sta­tis­tisch gese­hen die Chance intakt ist, gegen 90 Jahre alt zu wer­den. Frei stellt klar: «Die Spanne des Alterns ist heute gle­ich lang wie im Mit­te­lal­ter das ganze Leben. Es ist wichtig, für diese Phase einen Plan zu haben.»

Einen Plan für das Altern zu haben ist für die Einzelper­son genau­so wichtig wie für die Gesellschaft. Frei zeigt anhand ein­er Grafik, dass die Bevölkerungsverteilung in der Schweiz keine Pyra­mide mit bre­it­er Basis und schmaler Spitze mehr bildet, son­dern die geburten­starken Jahrgänge 1946 bis 1964, die «Baby-Boomer» (siehe Box), eine Beule in der oberen Hälfte bilden. Dieser Alter­süber­hang in unser­er Gesellschaft ist ein neues Phänomen in der Men­schheits­geschichte.

Durch die Pen­sion­ierung der geburten­starken Boomer-Jahrgänge wer­den die Her­aus­forderun­gen des Alter­süber­hangs offen­sichtlich­er. Frei erk­lärt: «Der grosse Schub, wenn diese Men­schen vom Arbeits­markt wegge­hen, ste­ht uns dem­nächst bevor. Wir haben keinen Fachkräfte­man­gel, son­dern einen Arbeit­skräfte­man­gel. Zwei Per­so­n­en gehen, nur eine kommt nach.» Da komme die AHV als Umverteilungs­mas­chine natür­lich an ihre Gren­zen: «Es ist eine ein­fache Milch­büech­lirech­nung, dass sich die Kasse schneller leert als füllt.» Die Geron­tolo­gin plädiert dafür, dass die Boomer-Gen­er­a­tion einen Beitrag dazu leis­tet, diese Her­aus­forderun­gen zu meis­tern. Manch­mal macht sie sich mit ihren Anre­gun­gen unbe­liebt, doch sie find­et es wichtig, einige Missver­ständ­nisse klarzustellen.

Die Masse macht den Unterschied

Die Baby­boomer-Gen­er­a­tion sei sich sel­ten bewusst, dass sie so viele sind und gross­es Gewicht in der Gesellschaft haben. Viele schrieben die pos­i­tiv­en Entwick­lun­gen der ver­gan­genen Jahrzehnte vor allem ihrer Arbeitsmoral und ihrer Leis­tung zu, weiss Frei. Dabei über­sähen sie aber den wichtig­sten Fak­tor: «Die Masse macht’s!» Viele Leute bracht­en viel Tal­ent und Arbeit­skraft zusam­men, was Fortschritte in allen Lebens­bere­ichen ermöglichte.

Die Boomer-Gen­er­a­tion hat – eben auch dank ihrer Masse – viel geleis­tet und stellt darum hohe Ansprüche an die näch­ste Gen­er­a­tion. Diese ist jedoch men­gen­mäs­sig unter­legen und kann den Forderun­gen nur dank tech­nol­o­gis­chem Fortschritt annäh­ernd entsprechen. In diesem Punkt leis­tet die 56-Jährige in ihren Vorträ­gen, aber auch im per­sön­lichen Umfeld, Aufk­lärungsar­beit. Sie will die Diskus­sion zwis­chen den Gen­er­a­tio­nen fördern, speziell ausser­halb der Fam­i­lie. «In der Fam­i­lie ist man zu lieb miteinan­der, es gibt sel­ten eine wirk­liche Auseinan­der­set­zung. Es wäre wichtig, den Aus­tausch zwis­chen den Gen­er­a­tio­nen zu insti­tu­tion­al­isieren.»

Die Kirche ist als Arbeitgeberin Vorbild

Wichtige Botschaften, die Frei den Men­schen um die 60 ver­mit­teln will, sind, das Altern als Lebens­ab­schnitt zu pla­nen, sich nicht früh­pen­sion­ieren zu lassen und sich nach der Pen­sion­ierung nicht voll­ständig ins Pri­vate zurück­zuziehen. Wenn Gle­ichal­trige um die Welt jet­ten oder mit dem Wohn­mo­bil an den Nord­pol fahren, kann die Gross­mut­ter, die ein­fach «nur» die Enkel hütet und am Mit­tagstisch hil­ft, unter Druck kom­men. Dabei machen genau solche Tätigkeit­en und die damit ein­herge­hende gesellschaftliche Wertschätzung ältere Men­schen zufrieden und gesün­der. Sich frei­willig zu engagieren, wirkt sich run­dum pos­i­tiv aus: «Wer eine sinns­tif­tende frei­willige Tätigkeit find­et, tut sich selb­st etwas Gutes und gibt der Gesellschaft etwas zurück.»

Eine vor­bildliche Arbeit­ge­berin sei in dieser Hin­sicht die Kirche, sagt Car­men Frei: «Wo son­st erre­icht man erst im Alter von 75 Jahren das Pen­sion­salter, wie unsere Bis­chöfe? Auch in einem Kloster arbeit­en alle bis ins hohe Alter. Die Gemein­schaft find­et dem Alter angepasste Auf­gaben.» Die Kirchen hät­ten allerd­ings auch brach­liegen­des Poten­tial im Umgang mit den jün­geren, deut­lich kirchen­ferneren Senior­in­nen und Senioren. Sie müssten ver­mehrt Pro­jek­te auf die Beine stellen, die den Kon­takt zwis­chen den Gen­er­a­tio­nen förderten und auf die Sin­n­frage eingin­gen, find­et Frei: «Sin­n­find­ung und inner­lich­es Reifen sind riesige Bedürfnisse im Altern.» Eben­falls wichtig seien Pro­jek­te, die Begeg­nun­gen fördern, möglichst alters­gemis­cht: «Man kann dem Men­schen alles weg­nehmen, doch ohne soziale Kon­tak­te geht er ein.»

Alte Men­schen so lange wie möglich am Gemein­schaft­sleben teil­haben zu lassen, begin­nt bei banalen Din­gen: «Ich bin grosse Ver­fech­terin des Kirchen-Klos, also von mehr öffentlichen WC-Anla­gen», sagt Car­men Frei, und würde es begrüssen, wenn die Kirchen auch auf so grundle­gende men­schliche Bedürfnisse einge­hen.

Möglichkeit, Abschied zu nehmen

Wer einen Plan für sein eigenes Altern machen will, kann vom Ende her denken und sich beispiel­sweise mit sein­er Beiset­zung befassen. Obwohl so viele Men­schen wie noch nie zuvor ins «ster­be­fähige» Alter kom­men, wird das The­ma gerne ver­drängt, beobachtet Car­men Frei. Sie arbeit­et auch als Rit­u­al­be­glei­t­erin und find­et es schade, dass immer weniger öffentliche Abdankun­gen stat­tfind­en. «Dabei ist Anteil­nahme eine so stärk­ende Kraft.» Auch das Ster­ben mit Ster­be­hil­fe­or­gan­i­sa­tio­nen wie Exit wird zunehmen, prophezeit Car­men Frei: «Wer 80 Jahre lang Voll­gas geben kon­nte, wird Mühe damit haben, pflegebedürftig zu sein.» Auch in diesem Punkt sieht sie eine Auf­gabe für die Kirche: «Wer einen Sinn in seinem Leben sieht, empfind­et es als wertvoll bis zum Schluss.» Frei selb­st freut sich auf das Aben­teuer Altern und sagt: «Die näch­sten zwei, drei Jahrzehnte sind eine grossar­tige Chance für alle Gen­er­a­tio­nen, Alters­bilder pos­i­tiv zu wan­deln und das Altern aufre­gend anders neu zu erfind­en.»

Die Gen­er­a­tion der Baby-Boomer

Ein­ma­lige demografis­che Sit­u­a­tion

Schon vor Kriegsende, aber vor allem in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg kam es zu einem Anstieg der Geburten­häu­figkeit (Baby-Boom) und bis Mitte der 1960er-Jahre blieben die Geburten­rat­en hoch. Demografisch entschei­dend für den ‘Baby-Boom’ war, dass mehr Frauen Kinder zur Welt bracht­en. Das bürg­er­liche Ehe­mod­ell – Vater voll erwerb­stätig, Mut­ter vol­lzeitlich für Kinder und Haushalt da – war in den Nachkriegs­jahren unange­focht­en, speziell in der Schweiz noch ohne Frauen­stimm­recht. Viele Müt­ter zogen sich aus dem Arbeits­markt zurück, so dass die wirtschaftlich expandierende Schweiz auch wegen des Gebur­tende­fiz­its der 1920er- und 1930er-Jahre zu wenig Arbeit­skräfte hat­te. So kam es in der Nachkriegszeit zur ver­mehrten Ein­wan­derung junger Arbeit­skräfte in die Schweiz. Die hohe Geburten­zahl kom­biniert mit der Zuwan­derung führte zu so hohen demografis­chen Wach­s­tum­srat­en wie nie zuvor in der Schweiz. Durch die Ver­hü­tungspille kam es ab 1965/66 zu einem Rück­gang der Geburten, und seit 1972 weist die Schweiz ein Geburten­niveau auf, das tiefer liegt als zur demografis­chen Repro­duk­tion notwendig wäre.

Nach François Höpflinger: Bevölkerungswan­del Schweiz, Okt. 2020. Online-Ver­­sion: www.hoepflinger.com

Bild: © Roger Wehrli
Marie-Christine Andres Schürch
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