Globale Ernährungskrise: Ursachen und Wege zu mehr Ernährungssouveränität
Bild: © Fabian Biasio/Caritas Schweiz

Globale Ernährungskrise: Ursachen und Wege zu mehr Ernährungssouveränität

733 Millionen. Das ist die Zahl der Menschen, die nach Erhebungen der Vereinten Nationen im Jahr 2023 an Hunger litten. Wie kam es zu dieser Ernährungskriese? Und welche Wege führen wieder heraus? In der Webkonferenz «Was hat die Ernährungskrise mit (neo)kolonialen Nahrungssystemen zu tun?» von «Mission 21», dem evangelischen Missionswerk Basel, diskutierten diese Fragen drei Experten/innen aus Afrika, Südamerika und Europa.

Jed­er elfte Men­sch kon­nte sich im Jahr 2023 nicht satt essen. In 42 Län­dern herrscht nach Angaben der Vere­in­ten Natio­nen eine alarmierende oder bere­its extreme Hunger­si­t­u­a­tion. Am meis­ten betrof­fen sind die Län­der südlich der Sahara. Auch bei den Geschlechtern zeich­net sich ein Unter­schied ab. So sind Frauen weltweit stärk­er von Nahrungsmit­telun­sicher­heit betrof­fen als Män­ner.

Aber was sind die Gründe für den Hunger in diesen Regionen der Welt?

Joyce Brown, Gesund­heit­sex­per­tin und Aktivistin für Ernährungssou­veränität aus Nige­ria, sieht in ihrem Heimat­land mehrere Fak­toren als ver­ant­wortlich an. Zum einen hiel­ten Kon­flik­te und Ent­führun­gen die Bäuerin­nen und Bauern von ihren Far­men fern; das gelte vor allem für Frauen. Auch der Kli­mawan­del trage eine Mitschuld. In den ver­gan­genen Monat­en haben ver­heerende Über­schwem­mungen die Ern­ten zer­stört und die Prog­nosen gin­gen hier von ein­er Ver­schlim­merung der Lage in den näch­sten Jahren aus, so Brown. Eine wichtige Rolle spiele ausser­dem der inter­na­tionale Han­del. Viele der Bäuerin­nen und Bauern in afrikanis­chen Län­dern konzen­tri­erten sich auf soge­nan­nte «Cash Crops», land­wirtschaftliche Kul­turen, die zu Exportzweck­en – meist in den glob­alen Nor­den – angepflanzt wer­den. Das bedeute, dass die Land­wirtschaft zu grossen Teilen aus Monokul­turen beste­he, was einen erhe­blichen neg­a­tiv­en Ein­fluss auf die Bio­di­ver­sität der Gebi­ete habe. Ausser­dem habe die Regierung die Unter­stützung für lokale Klein­bäuerin­nen und Klein­bauern gekürzt und unter­stütze vor allem die grossen Export­pro­duzen­ten. Die Notwendigkeit, auf lokaler Ebene zu unter­stützen sähe die Regierung nicht, son­dern prof­i­tiere lieber von den transna­tionalen Han­delsabkom­men. Ausser­dem berichtet Brown, dass die Men­schen in Nige­ria nicht hungerten, weil es nicht genug zu essen gäbe. In Nige­ria wür­den mehr als 40% der pro­duzierten Lebens­mit­tel weggeschmis­sen, da die Bäuerin­nen und Bauern keine adäquat­en Lager­möglichkeit­en und Ver­ar­beitung­sein­rich­tun­gen für die Lebens­mit­tel besässen. Auch ein­er Ver­ar­beitung der Rohstoffe in den afrikanis­chen Län­dern selb­st, beispiel­sweise von Kakao zu Schoko­lade, stünde die fehlende Prozess­in­fra­struk­tur im Weg.

Mario Enriquez, Experte für Agrarökolo­gie aus Bolivien, sieht den Hunger dort als die Kon­se­quenz eines his­torischen Prozess­es an. Vor etwa 50 Jahren seien nicht die richti­gen Investi­tio­nen getätigt wor­den. Auf­grund der sozialpoli­tis­chen Krise im Land seien Nahrungsmit­tel nicht mehr zugänglich, vor allem für die ärmeren Men­schen. Die Kluft zwis­chen Arm und Reich ver­tiefe sich kon­tinuier­lich. Dadurch zeigt sich nach Enriquez eine ungerechte Aufteilung der Nahrungsmit­tel. Zudem mache sich auch in Bolivien der Kli­mawan­del bemerk­bar, denn es fehle vor allem an Wass­er. Auch er sieht die Prob­lematiken, die der inter­na­tionale Han­del mit sich bringt. Bolivien exportiert vor allem Quinoa, Kaf­fee und Kakao. Auch in Bolivien set­zten immer mehr kleine Pro­duzen­ten auf Export­pro­duk­te, um ihre Einkom­men zu verbessern. Das bringe eine starke Ent­wal­dung und einen Ver­lust der Ökosys­teme mit sich.

Dr. iur. Elis­a­beth Bür­gi Bonano­mi, die an der Uni­ver­sität Bern Recht und nach­haltige Entwick­lung unter­richtet, fasst zusam­men, welche Rolle der inter­na­tionale Han­del mit Nahrungsmit­teln als Fak­tor für den Hunger in der Welt spielt. Die transna­tionalen Han­delsabkom­men, die einen freien Han­del im Agrikul­tursek­tor ermöglichen, hiel­ten die Preise für die Län­der des glob­alen Südens niedrig, so Bür­gi Bonano­mi. Es han­dle sich ins­ge­samt um eine Art Teufel­skreis, denn die Rohstoffe wür­den bil­lig vom Süden in den Nor­den verkauft und die weit­er­ver­ar­beit­eten Pro­duk­te fluteten anschliessend die heimis­chen Märk­te des Südens, sodass kein Anreiz beste­he, Pro­duk­tions­ket­ten ins Inland zu ver­legen. Die Län­der des glob­alen Südens hät­ten kaum eine Chance, dage­gen anzuge­hen, da sie in grossem Masse davon abhängig seien, ihre Waren in den glob­alen Nor­den zu verkaufen. So wür­den vom glob­alen Nor­den gezielt Abhängigkeit­en geschaf­fen. Bür­gi Bonano­mi sieht hier eine Kon­ti­nu­ität zu kolo­nialem Han­deln, erken­nt neokolo­niale Struk­turen.

Welche Möglichkeiten sehen die drei Experten/innen, um die globalen Hungersnöte zu bekämpfen?

Das Stich­wort, dass bei den Antworten fällt ist «Agri­col­o­gy». Dabei han­delt es sich um bio­di­verse, nach­haltige, lokale Land­wirtschaft. Ziel ist eine Bewirtschaf­tung von Flächen, die sich auf lokale Ressourcen konzen­tri­ert und neg­a­tive sozioökonomis­che und Umweltauswirkun­gen min­imiert. Dadurch, so Enriquez, würde die Land­wirtschaft sicher­er vor Umwel­te­in­flüssen. Brown erken­nt darin vor allem einen Weg, die Rechte der Nahrungsproduzenten/innen zu fördern. Vor allem Frauen könne dadurch der Zugang zu Kred­iten und eigen­em Land ein­fach­er ermöglicht wer­den. Auch Bür­gi Bonano­mi wirbt dafür, die Muster so zu verän­dern, dass der Schw­er­punkt mehr auf lokalen Ernährungssys­te­men und der lokalen Land­wirtschaft liegt. Hier sieht sie die Län­der des glob­alen Nor­dens, darunter auch die Schweiz, in der Ver­ant­wor­tung. Mit Geset­zesän­derun­gen könne der ungerechte Han­del gestoppt und ein gerechter Han­del etabliert wer­den.

Mission21 arbeit­et die eigene Geschichte auf

Die kolo­nialen Struk­turen haben den afrikanis­chen Kon­ti­nent tief­greifend geprägt und haben Auswirkun­gen bis heute. Auch die christlichen Mis­sio­nen spiel­ten dabei eine Rolle. Heute engagiert sich Mission21 für ein würde­volles Leben aller Men­schen durch Förderung von Gerechtigkeit, Reli­gions­frei­heit und Frieden, mit dem Fokus auf Entwick­lungszusam­me­nar­beit.  Doch unter der Basler Mis­sion, der Vorgängeror­gan­i­sa­tion von Mission21, lebten Men­schen im heuti­gen Ghana (ehe­mals Gold­küste) unter Sklaverei-ähn­lichen Ver­hält­nis­sen. Auf der Web­site von Mission21 ste­ht dazu: «Das Komi­tee in Basel wollte die Sklaverei-ähn­lichen Ver­hält­nisse an der Gold­küste rasch abschaf­fen – und war deshalb mit den Mis­sion­aren vor Ort in Kon­flikt. Denn die Mis­sion­are dulde­ten noch in den 1850er Jahren, dass ins­ge­samt 12 ein­heimis­che Mitar­bei­t­ende der Mis­sion sowie einige weit­ere ein­heimis­che Gemein­demit­glieder Fam­i­lien- und Haussklaven besassen.» (Quelle: https://www.mission-21.org/transparenter-umgang-mit-der-eigenen-vergangenheit/) Mission21 arbeit­et diesen Teil der eige­nen Geschichte auf; unter anderem durch die Erschlies­sung und Öff­nung sämtlich­er Akten der Basler Han­dels­ge­sellschaft und Webina­ren zum The­ma «Mis­sion und Sklaverei».

Leonie Wollensack
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