Flüchtlinge: Arbeitsintegration hapert

Flüchtlinge: Arbeitsintegration hapert

1 500 Franken im Monat? 40 000 oder 80 000 Franken jährlich? Auch wenn die Mei­n­un­gen über die genauen Beträge auseinan­der gehen: Flüchtlinge, die ihren Leben­sun­ter­halt nicht selb­st ver­di­enen kön­nen, kosten die All­ge­mein­heit eine Stange Geld. Am 7. Sep­tem­ber disku­tieren  Regierungsrat Urs Hof­mann, der reformierte Kirchen­rat­spräsi­dent Christoph Weber-Berg und Patrizia Bertschi vom Vere­in «Net­zw­erk Asyl Aar­gau» in Aarau darüber, wie Flüchtlinge bess­er in den Schweiz­er Arbeits­markt inte­gri­ert wer­den kön­nen. Tek­lemichael Nrayo manövri­ert geschickt den Sta­pler in der grossen Waren­halle. Der 28-jährige Eritreer arbeit­et bei «Lager­häuser Aarau» in der Kom­mis­sion­ierung als Fes­tangestell­ter – nach erfol­gre­ichem Abschluss ein­er Attestlehre. Vor fün­fein­halb Jahren sei er in die Schweiz gekom­men, erk­lärt Tek­lemichael Nrayo in ganz pass­ablem Deutsch. Anderthalb Jahre habe das Asylver­fahren gedauert, erin­nert er sich: «Viel warten, ein Drei-Monate-Deutschkurs, son­st nichts.»

Mit Privatunterricht im Betrieb erfolgreich

2014 kam der junge Mann zu seinem aktuellen Arbeit­ge­ber. Nach einem Schnup­pere­in­satz in der Ver­pack­ungsabteilung nahm ihn Roland Höch­le, Leit­er Co-Pack­ing und Unter­halt, unter seine Fit­tiche, ermöglichte dem jun­gen Mann in Zusam­me­nar­beit mit der Kan­tonalen Schule für Berufs­bil­dung (KSB) erst ein zwei­jähriges Logis­tik-Prak­tikum, dann die Attestlehre.Tek­lemichael Nrayo ist nicht der einzige Flüchtling im Betrieb, aber der derzeit erfol­gre­ich­ste. Roland Höch­le ist stolz auf diesen Inte­gra­tionser­folg, für den er sich mass­ge­blich engagiert hat. «Mit einem oblig­a­torischen, drei­monati­gen Kurs im Asylver­fahren sowie gegebe­nen­falls einem Anschlusskurs gebe der Kan­ton den Leuten zu wenig Rüstzeug, um in der Arbeitswelt und der Aus­bil­dung beste­hen zu kön­nen», erk­lärt der Logis­tik­er. Mit Unter­stützung von Geschäfts­führer Beat Bolzhauser organ­isierte Roland Höch­le darum für mehrere Flüchtlinge im Betrieb hau­seige­nen Deutschunter­richt.«Wenn jemand die Sprache nicht kann, kannst du ihn auch nicht über die Arbeit inte­gri­eren», weiss Beat Bolzhauser. Sein Betrieb mit drei Stan­dorten im Aar­gau hat sich beim The­ma Inte­gra­tion durch Arbeit bere­its einen Namen gemacht. Schon seit Jahren ver­mit­teln die Regionalen Arbeitsver­mit­tlungszen­tren sowie ver­schiedene Sozialin­sti­tu­tio­nen dem Unternehmen Lehrab­brech­er, Sozialfälle und seit einiger Zeit auch Flüchtlinge.

«Überlebenstraining» in der Verpackungsabteilung

«In unser­er Ver­pack­ungsabteilung kön­nen wir den Leuten einen nieder­schwelli­gen Ein­stieg mit ein­fach­sten Arbeit­en ermöglichen, erk­lärt Roland Höch­le und zeigt die Anlage, wo Gestelle mit Aktion­sange­boten für die Präsen­ta­tion in den Geschäften divers­er Grossverteil­er zusam­mengestellt wer­den. Emsig set­zen Frauen ger­ade Spaghet­tis­chachteln zu Aktion­spacks mit entsprechen­der Etikette zusam­men. «Wer hier zwei bis drei Wochen über­lebt, schafft es auch ander­swo, wenn er will», meint Roland Höch­le.Zu 90 Prozent befän­den sich aus­ländis­che Frauen unter den Angestell­ten der Ver­pack­ungsabteilung. Alle arbeit­en teilzeit. Den Frauen gehe es vor allem darum, neb­st der Kinder­be­treu­ung etwas für den Unter­halt ver­di­enen zu kön­nen, erk­lärt Roland Höch­le Die jun­gen Män­ner aus Eritrea, darunter Tek­lemichael Nrayo und Getachew Temane, habe er in die Kom­mis­sion­ierung herun­tergenom­men, so Roland Höch­le weit­er. «Sie fehlen nie, sind immer zuver­läs­sig, haben Freude an der Arbeit.» Getachew Temane hat diesen Som­mer eben­falls die Lehrab­schlussprü­fun­gen absolviert, aber den the­o­retis­chen Teil nicht bestanden. «Die Sprache», erk­lärt Roland Höch­le. «Er darf es nochmals ver­suchen. Wir unter­stützen ihn.»

Was kostet ein Flüchtling die Allgemeinheit?

Per Ende Juli diesen Jahres lis­tet der Kan­ton Aar­gau 2 331 anerkan­nte Flüchtlinge mit Ausweis B. Davon, so die Sta­tis­tik, sind lediglich 378 erwerb­stätig (als erwerb­s­fähig gel­ten 1 526). 2 308 besitzen als soge­nan­nt vor­läu­fig Aufgenommene einen Ausweis F. Von diesen sind laut Sta­tis­tik 479 erwerb­stätig (als arbeits­fähig gel­ten 1 531). Das sind gesamthaft 4 639 Per­so­n­en, von denen laut Sta­tis­tik nur 857 erwerb­stätig sind. Hinzu kom­men noch 2 256 Flüchtlinge, die noch auf einen Asy­lentscheid warten. Von diesen arbeit­en lediglich 27 (als erwerb­s­fähig weist die Sta­tis­tik 1 749 aus). Laut San­dra Stamm, Lei­t­erin Sek­tion Öffentliche Sozial­hil­fe des Departe­ments Gesund­heit und Soziales DGS, lebten gemäss Sozial­hil­fes­ta­tis­tik für Flüchtlinge im Jahr 2015 im Kan­ton Aar­gau 1 191 Flüchtlinge von der Sozial­hil­fe — neuere Zahlen waren vom Kan­ton auf Anfrage nicht zu haben. Gemäss einem Artikel im Tage­sanzeiger vom 18. Juni 2017 hät­ten sich die Sozial­hil­fe-Aus­gaben für Flüchtlinge und vor­läu­fig Aufgenommene gesamtschweiz­erisch in den ver­gan­genen Jahren jedoch mehr als ver­dop­pelt.Bei den Kosten gehen die Mei­n­un­gen auseinan­der. Für die vor­läu­fig aufgenomme­nen Aus­län­der und Asyl­suchende im laufend­en Ver­fahren (Sta­tus N) reiche die Glob­al­pauschale des Bun­des aus, um die all­ge­meinen Leben­shal­tungskosten zu deck­en, erk­lärt San­dra Stamm. «Die monatliche Glob­al­pauschale von rund 1 500 Franken pro Flüchtling und Monat deckt die Sozial­hil­fekosten inklu­sive Infra­struk­tur des Kan­tons.» Im Bere­ich der unbe­gleit­eten min­der­jähri­gen Asyl­suchen­den seien die Kosten je nach Unter­bringungsart jedoch deut­lich höher.

«40 000 Franken bei Vollkostenrechnung»

Mar­ti­na Bircher, SVP-Gross­rätin und Gemein­derätin von Aar­burg, die in den Medi­en immer wieder vor ausufer­n­den Sozialkosten für Gemein­den warnt, schätzt die Kosten höher. «Ein erwach­sen­er Flüchtling, der nicht arbeit­et, kostet die All­ge­mein­heit etwa 40 000 Franken jährlich», sagt sie. Im Einzelfall – bei ein­er beson­deren Sit­u­a­tion oder ein­er Suchterkrankung – kön­nten es sog­ar 60 000 bis 80 000 Franken sein. «Dies bei Vol­lkosten­rech­nung inklu­sive Sozial­hil­fe, Krankenkasse und Betreu­ung.»Das Prob­lem ist bekan­nt, seine Lösung gestal­tet sich indessen anspruchsvoll. Und Hil­f­sor­gan­i­sa­tion wie der Vere­in «Net­zw­erk Asyl Aar­gau» sparen nicht an Kri­tik an der gängi­gen Asyl­prax­is. Das grösste Prob­lem sei, dass Asyl­suchende nicht frühzeit­ig zu Inte­gra­tions­mass­nah­men und Arbeit zuge­lassen wür­den, erk­lärt Patrizia Bertschi, Präsi­dentin von «Net­zw­erk Asyl Aar­gau».

«Asylsuchende warten bis zwei Jahre, ohne dass sie arbeiten»

Von Geset­zes wegen unter­ste­hen Asyl­suchende während der ersten drei Monate einem geset­zlichen Arbeitsver­bot. Fak­tisch sei es aber so, dass sich für Flüchtlinge erst etwas bewege, wenn sie ihren Asy­lentscheid haben. «Und das kann ein, ja sog­ar bis zu zwei Jahre dauern», weiss Patrizia Bertschi aus Erfahrung. «Während dieser Zeit warten die Men­schen, haben kaum Deutschkurse oder Beschäf­ti­gung­spro­gramme. Nur ganz sel­ten bieten sich Möglichkeit­en für Prak­ti­ka», erk­lärt die Präsi­dentin von «Net­zw­erk Asyl Aar­gau», denn diese wür­den nur von Frei­willi­gen ver­mit­telt. «Und dann – wenn sie einen pos­i­tiv­en Entscheid haben, sollen sie sich rasch inte­gri­eren und arbeit­en. Aber wie soll dass funk­tion­ieren, wenn man die Men­schen in der Zeit davor nicht aus­re­ichend vor­bere­it­et hat?», fragt sich Patrizia Bertschi.Dass Flüchtlinge, die nicht in den Arbeits­markt inte­gri­ert wer­den kön­nen, die All­ge­mein­heit teuer zu ste­hen kom­men, hat man auch beim Kan­ton Aar­gau erkan­nt. Mit dem Case Man­age­ment Inte­gra­tion des Kan­tons arbeite man gezielt auf die Arbeits­mark­t­in­te­gra­tion von Flüchtlin­gen und vor­läu­fig Aufgenom­men hin, erk­lärt Doris Rich­n­er. Die Flüchtlinge durch­laufen ein internes Arbeit­strain­ing mit Blick auf einen exter­nen Ein­satz im ersten Arbeits­markt. Dies soll die Türen öff­nen für ein Prak­tikum, später dann für eine Lehrstelle oder eine feste Anstel­lung.

«Nur für einfache Arbeiten gefragt»

In der 2016 lancierten Inte­gra­tionspart­ner­schaft zwis­chen dem Kan­ton Aar­gau und angeschlosse­nen Branchen­ver­bän­den wur­den ver­schiedene Mass­nah­men vere­in­bart, um die Inte­gra­tion von Flüchtlin­gen in den Arbeits­markt zu fördern und zu verbessern. Mit im Boot sind auch die Aar­gauer Indus­trie- und Han­del­skam­mer (AIHK) und der Aar­gauer Gewer­be­ver­band (AGV). Was die Maß­nah­men genau brin­gen, werde sich ab 2017 abze­ich­nen, erk­lärt Doris Rich­n­er.«Wo Man­gel an Arbeit­skräften beste­ht, sind Arbeit­ge­ber gerne bere­it, Hand für eine Beschäf­ti­gung zu bieten», weiss Ruth Anner, ehe­ma­lige Berufs­ber­a­terin aus Wet­tin­gen. Das gelte jedoch vor allem für ein­fache Arbeit­en, an denen es in der Schweiz mehr und mehr man­gle. Für viele, ger­ade tech­nis­che Berufe brauche es hinge­gen gute schweiz­erische Schul­bil­dung. «Da haben die Flüchtlinge keine Chance.»Das Prob­lem ken­nt man auch beim Kan­ton. «Flüchtlinge und vor­läu­fig Aufgenommene brin­gen keine Erfahrung vom Arbeits­markt der Schweiz oder einem anderen west­lichen Indus­tri­es­taat mit. Oft­mals existiert ihr Beruf in unser­er Beruf­swelt nicht mehr oder nur in stark abge­wan­del­ter Form», erk­lärt Doris Rich­n­er. «Im laufend­en Jahr investiert darum der Kan­ton Aar­gau drei Mil­lio­nen Franken aus Bun­desmit­teln zur Finanzierung von Mass­nah­men, die Flüchtlinge und vor­läu­fig Aufgenommene bei der Inte­gra­tion in den Schweiz­er Arbeits­markt unter­stützen.»

«Keine Chancengleichheit wegen Wildwuchs von Angeboten»

«Zu wenig», kla­gen soziale Insti­tu­tio­nen. Und ein Blick in die Finanzierungs­büch­er ver­schieden­er Pro­jek­te zeigt: Ohne zivilge­sellschaftlich­es Engage­ment von Frei­willi­gen sowie Finanzierung von Drit­ten käme manch­es Pro­jekt nicht zus­tande. Patrizia Bertschi vom Vere­in «Net­zw­erk Asyl Aar­gau» bere­it­et in diesem Zusam­men­hang noch ein weit­er­er Aspekt Sor­gen: «Immer mehr Frei­willige übernehmen gratis die Arbeit der öffentlichen Hand – weil der Staat seine Ver­ant­wor­tung nicht wahrn­immt und kein Geld aus­geben will.» Das wiederum habe zur Folge, dass Wild­wuchs entste­he und nicht alle die gle­ichen Chan­cen und Möglichkeit­en hät­ten.Auch die Aar­gauer Lan­deskirchen stellen Mit­tel für die Inte­gra­tion von Flüchtlin­gen zur Ver­fü­gung. Dieses Engage­ment schätzt man auch beim Kan­ton. «Viele Kirchge­mein­den, aber auch Hil­f­swerke wie das HEKS und Car­i­tas leis­ten vor Ort mit ihrem diakonis­chen Ange­bot und den vie­len Frei­willi­gen einen wertvollen Beitrag», lobt Doris Rich­n­er.

«Deutsch lernen und weiterbilden»

Laut Frank Worbs, Leit­er Kom­mu­nika­tion bei der Reformierten Lan­deskirche Aar­gau, «beteili­gen sich die Aar­gauer Lan­deskirchen in der Regel mit aufeinan­der abges­timmten Beiträ­gen gemein­sam an Inte­gra­tionspro­jek­ten». Dazu gehören unter anderem Pro­jek­te der «Anlauf­stelle Inte­gra­tion Aar­gau» und das Pro­jekt «UMA – Leben und Ler­nen» von «Net­zw­erk Asyl Aar­gau», das Jugendliche nach der oblig­a­torischen Schulzeit auf eine Beruf­slehre oder eine Arbeitsstelle vor­bere­it­et. Im Rah­men ihres Leg­is­laturschw­er­punk­ts «Fremd-Sein» leiste die Römisch-Katholis­che Lan­deskirche zudem mit ein­er Vielzahl von Aktio­nen Sen­si­bil­isierungsar­beit, ergänzt Mar­cel Not­ter, Gen­er­alsekretär der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau.Auch der Anlass am 7. Sep­tem­ber 2017 «soll ein Anstoss sein», erk­lärt Frank Worbs. Zum The­ma Inte­gra­tion durch Arbeit lädt die Öku­menis­che Kom­mis­sion Kirche und Wirtschaft der Aar­gauer Lan­deskirchen zu einem Diskus­sion­s­abend. Mit von der Par­tie sind nicht nur der Aar­gauer Volk­swirtschafts­di­rek­tor Urs Hof­mann, Christoph Weber-Berg, Kirchen­rat­spräsi­dent der Reformierten Lan­deskirche Aar­gau und Patrizia Bertschi als Präsi­dentin des Vere­ins «Net­zw­erk Asyl Aar­gau», son­dern auch Tek­lemichael Nrayo, der nach dem erfol­gre­ichem Abschluss sein­er Attestlehre bei «Lager­häuser Aarau» eine Fes­tanstel­lung erhal­ten hat. Wie man die Arbeitsin­te­gra­tion von Flüchtlin­gen verbessern kann, ver­mag der 28-Jährige auch nicht zu sagen, doch für den jun­gen Mann ste­ht fest, dass er noch weit­er an seinem Deutsch arbeit­en will, um sich stetig weit­er­bilden zu kön­nen. Dann schwingt er sich wieder auf den Sta­pler und saust davon, entschwindet zwis­chen den hohen Palet­ten­hügeln in Schafisheim. Inte­gra­tion durch Arbeit Chan­cen und Her­aus­forderun­gen der Inte­gra­tion von Flüchtlin­gen in den Arbeits­marktRefer­at von Regierungsrat Urs Hof­mann mit Diskus­sion­spodi­um. Teil­nehmende: Dr. Christoph Weber-Berg, Kirchen­rat­spräsi­dent Reformierte Kirche Aar­gau; Dr. Urs Hof­mann, Regierungsrat; Nico Parazetti, Leit­er Trans­port Lager­häuser Aarau; Patrizia Bertschi, Präsi­dentin Net­zw­erk Asyl; Jathur­shan Prema­chan­dran und Tek­lemichael Nrayo.Don­ner­stag, 7. Sep­tem­ber 2017, 17.15 bis 19.15 Uhr AGV-AG, Ble­ichemattstasse 12 / 14, Aarau Ein­tritt frei Eine Ver­anstal­tung der Öku­menis­chen Kom­mis­sion Kirche und Wirtschaft der Aar­gauer Lan­deskirchen
Andreas C. Müller
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