Zu Besuch bei einem Buch
Priorin Irene zusammen mit der Pilgergruppe aus Magdeburg auf dem Weg von Einsiedeln ins Kloster Au.
Bild: © Marie-Christine Andres

Zu Besuch bei einem Buch

Eine 700 Jahre alte Handschrift lockte Pilgerinnen aus ​Magdeburg in ein abgelegenes Schweizer Kloster

Eine Woche lang waren siebzehn Pilgerinnen aus dem deutschen Magdeburg zu Gast im Kloster Fahr. Zusammen mit Priorin Irene Gassmann entdeckten die Frauen Orte in der Schweiz, wo mutige Frauen der Kirche gewirkt haben.


Eine Woche lang waren siebzehn Pil­gerin­nen aus dem deutschen Magde­burg zu Gast im Kloster Fahr. Zusam­men mit Pri­or­in Irene Gassmann ent­deck­ten die Frauen Orte in der Schweiz, wo mutige Frauen der Kirche gewirkt haben. Die Pil­gerin­nen hat­ten für ihre Pil­ger­woche ein, leicht abge­wan­deltes, Zitat aus dem Werk Mechthilds von Magde­burg gewählt: «Worauf Gott ihre Hoff­nung set­zt, das erkühne ich mich!»

Wie Mechthild im 13. Jahrhun­dert gab es immer wieder Frauen, die sich erküh­n­ten, die Kirche zu hin­ter­fra­gen, sie anders zu denken und Verän­derun­gen anzu­pack­en. So besuchte die Pil­ger­gruppe Vertreterin­nen des Katha­ri­na-Werkes und der Junia-Ini­ti­ta­tive in Basel, das Wib­o­ra­da-Pro­jekt in St. Gallen und begaben sich auf die Spuren von Katha­ri­na von Zim­mern in Zürich.

Einen ganz beson­deren Nach­mit­tag ver­brachte die Pil­ger­gruppe in Ein­siedeln. In der Stifts­bib­lio­thek des Klosters Ein­siedeln ist die älteste erhal­tene Abschrift von Mechthilds Werk «Das fliessende Licht der Got­theit» auf­be­wahrt. Einige der Frauen kan­nten die Hand­schrift bere­its, denn sie war anlässlich des ​800. Geburt­stags von Mechthild im Jahr 2008 nach Magde­burg aus­geliehen wor­den. «Siebzehn Jahre später jet­zt unser Gegenbe­such», erk­lärte Pil­ger­lei­t­erin Maria Faber.

Viele Parallelen zur Gegenwart

Die Hand­schrift ist nicht nur his­torisch und lit­er­arisch wertvoll, sie hat für die Pil­gerin­nen eine hohe emo­tionale Bedeu­tung. Aus Mechthilds Leben und Werk lassen sich viele Par­al­le­len ziehen zu dem, was die Kirchen­frauen in Magde­burg und ander­swo heute beschäftigt. Mechthilds Leben und Werk inspiri­ert die Kirchen­frauen, heutige Her­aus­forderun­gen anzunehmen.

Die Hand­schrift

Die Hand­schrift war ein Geschenk an die Wald­schwest­ern in der Vorderen Au

Der «Codex Ein­si­d­len­sis 277» enthält die einzige voll­ständi­ge Über­liefer­ung des Texts «Das fliessende Licht der Got­theit» der Mys­tik­erin Mechthild von Magde­burg. Das Manuskript wurde in den Jahren nach 1350 in der Region um Basel geschrieben. Das Manuskript beste­ht aus 442 Perga­ment­seit­en. Der Hand­schrift ist ein Blatt in der Schrift des Basler Priesters Hein­rich von Rumer­sheim beige­fügt. Er erläutert, dass er im Auf­trag der ver­stor­be­nen Mar­garetha vom gold­e­nen Ring dieses Buch den Wald­schwest­ern in der Vorderen Au bei Ein­siedeln übergebe. Ein Besitzein­trag im Buch zeigt an, dass der Codex im 16. Jahrhun­dert noch im Frauen­klosters Au auf­be­wahrt wurde. Warum die Hand­schrift ins Kloster Ein­siedeln gelangte, ist nicht bekan­nt. Ein Ein­trag weist darauf hin, dass es bere­its im 18. Jahrhun­dert in der Stifts­bib­lio­thek verze­ich­net war. Mechthilds Werk bein­hal­tet unter­schiedliche Textfor­mate und fasziniert durch bild­hafte Sprache und kühne For­mulierun­gen. Mit Hil­fe der Liebeslyrik fasst Mechthild ihre inten­siv­en inneren Erfahrun­gen in Worte. Heute beschäftigt sich nicht nur die The­olo­gie, son­dern auch die Ger­man­is­tik mit den Werken der Mys­tik­erin aus Magde­burg.

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Die Abschrift von Mechthild von Magde­burgs Wer «Das fliessende Licht der Got­theit» ist rund 700 Jahre alt und wird in der Stifts­bib­lio­thek Ein­siedeln auf­be­wahrt.

Wie Mechthild haben die Pil­gerin­nen, die alle in der ehe­ma­li­gen DDR gelebt haben, Wider­stände gegen ihren Glauben erlebt. «Es war nicht ein­fach, in dieser Zeit katholisch zu sein», erin­nert sich Ange­li­ka Pohler, die in der DDR das erste Kinderge­bet­buch her­aus­gab. Die so genan­nten «Mon­tags­ge­bete» in der Leipziger Niko­laikirche und die daran anschliessenden Demon­stra­tio­nen vere­in­ten im Herb­st 1989 ver­schiedene oppo­si­tionelle Strö­mungen und läuteten das Ende der DDR ein. Eine Par­al­lele dazu bildet das «Gebet am Don­ner­stag», das von Pri­or­in Irene im Kloster Fahr ini­ti­iert wurde. Seit dem Jahr 2019 beten Men­schen in der Schweiz und darüber hin­aus jeden Don­ner­stag für Verän­derun­gen in der Kirche.

«Wir müssen auch heute unsere Stimme erheben»

Mit ihrem Werk «Das fliessende Licht der Got­theit» bezog Mechthild Stel­lung zu ein­er Rei­he strit­tiger Fra­gen. So zum Beispiel zur Autorität der Frauen in Gottes­fra­gen. Pri­or­in Irene und die Pil­gerin­nen aus Magde­burg brin­gen seit vie­len Jahren ihre Stimme als Frau in die Kirche ein. Sie alle scheuen sich nicht, Posi­tion zu beziehen. Anke Triller aus Halle etwa leit­et das Pro­jekt «Frauenorte» in Sach­sen-Anhalt, Bar­bara Striegel, eben­falls aus Halle, engagiert sich seit über 30 Jahren für das Kloster Helf­ta, wo Mechthild ihre let­zten Leben­s­jahre ver­brachte. Sie erin­nert sich an die Anfänge, als das Klostergelände nach jahrzehn­te­langer DDR-Land­wirtschaft­spoli­tik ver­fall­en und verödet war. «Doch die Ausstrahlung dieses spir­ituellen Orts war auch da spür­bar», sagt Striegel. Beim Pausen­ge­spräch auf der Klostertreppe waren sich die Pil­gerin­nen einig: «Wir müssen auch und beson­ders heute unsere Stimme erheben. Wir müssen uns erküh­nen!»

Ein Geschenk aus Basel

Vom Kloster Ein­siedeln machte sich die Gruppe auf den Weg zur Hand­schrift. Dieser Weg führte aber nicht ins Innere der Stifts­bib­lio­thek, son­dern aus dem Dorf hin­aus, durch blühende Früh­lingswiesen bis zum Benedik­tin­ner­in­nen­kloster in der Vorderen Au. 1359 erst­mals urkundlich erwäh­nt, ste­hen die Frauen in der Tra­di­tion der Wald­schwest­ern. Ihnen hat­te die Basler Begine Mar­garetha vom Gülde­nen Ring im 14. Jh. Hand­schriften der Mechthild von Magde­burg geschenkt. Aus unbekan­nten Grün­den gelangten die Schriften jedoch ins Kloster Ein­siedeln, wo sie heute auf­be­wahrt sind.

Doch die Schwest­ern vom Kloster Au erküh­n­ten sich schon vor einiger Zeit, eine Anfrage an die Stifts­bib­lio­thek zu stellen, ob das Buch für einen Besuch in ihr Kloster kom­men könne. Zunächst wurde ihnen der Wun­sch ver­wehrt. Doch als dann die Anfrage aus Magde­burg hinzukam, war das wohl so etwas wie eine göt­tliche Fügung, sagt Pri­or­in Irene. Pater Justi­nus erk­lärte sich bere­it, das Buch per­sön­lich vor­beizubrin­gen. Er trans­portierte das Perga­ment sorgfältig in eine Kiste ver­packt mit dem Auto ins Kloster Au.

Begegnung mit dem Buch

In der Kirche des Klosters Au ste­hen die Benedik­tiner­in­nen und die Pil­gerin­nen andächtig um den Altar, auf dem das Buch ruht. Jede Frau tritt einzeln vor die Schrift und ver­har­rt einen Moment in Stille. Dann bleibt Zeit, die Schrift aus­giebig zu bewun­dern und zu unter­suchen. Angela Degen­hardt aus Naum­burg find­et nach einigem Blät­tern gar eine Textstelle, die ihr wichtig ist: einen schriftlichen Beleg für die Exis­tenz von Jut­ta von Sanger­hausen, ein­er Zeitgenossin von Mechthild, deren Unter­la­gen zur Heiligsprechung auf dem Weg nach Rom ver­loren gin­gen.

Ange­li­ka Pohler aus Leipzig, Buch­binderin und studierte Grafik­erin, ken­nt sich aus mit Büch­ern, Bindun­gen und Perga­ment. Sie betra­chtet das Buch aufmerk­sam: «Ein feines, helles, fast fleck­en­los­es Perga­ment, exak­te Schrift mit präzisen Ser­ifen», sagt sie. Später, beim Zusam­men­sein in der Kloster­stube, fügt sie hinzu: «Das war ein so schönes Erleb­nis, mein Herz ist ganz voll.»

Mechthild von Magde­burg

Das diakonis­che und the­ol­o­gis­che Han­deln der Mys­tik­erin macht ein bedeu­ten­des Stück Frauengeschichte sicht­bar

Mechthild von Magde­burg gilt als bedeu­tend­ste deutsche Mys­tik­erin des Mit­te­lal­ters. Bekan­nt wurde sie jedoch erst mit der Erstveröf­fentlichung ihres Offen­barungs­buch­es im Jahr 1869. Mechthild kam wohl um das Jahr 1207 in ein­er Adels­fam­i­lie nahe Magde­burg zur Welt. Ein erstes mys­tis­ches Erleb­nis im Alter von zwölf Jahren war für Mechthild so prä­gend, dass sie die Burg ver­liess und sich in Magde­burg den Begi­nen anschloss, ein­er Gemein­schaft, die mit­ten in der Stadt nach dem Evan­geli­um lebte, ihren Leben­sun­ter­halt etwa mit dem Verkauf von Han­dar­beit­en ver­di­ente und kar­i­ta­tiv tätig war. Hier traf Mechthild auf eine Spir­i­tu­al­ität, die ein­herg­ing mit konkretem sozialem Engage­ment. Mechthild lebte in ein­er Zeit des Umbruchs. Sie wich den drän­gen­den religiösen und poli­tis­chen Fra­gen nicht aus, son­dern bezog mit ihrem Werk «Das fliessende Licht der Got­theit» in ein­er Rei­he strit­tiger Fra­gen Posi­tion: die Ver­wen­dung der Volkssprache, die Autorität der Frauen in Gottes­fra­gen, die Armut des Evan­geli­ums. Damit erregte sie den Unmut des Klerus. Wohl auch deshalb zog Mechthild 1270 ins Kloster Helf­ta, wo sie den Non­nen zur ange­se­henen Lehrerin der Mys­tik wurde, bevor sie ver­mut­lich im Jahr 1282 starb.

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Bild: © Marie-Chris­­tine Andres

Marie-Christine Andres Schürch
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