Wie im Himmel, so im Aargau
Mit dem Aargauer Kirchenfest feierte die Reformierte Landeskirche Aargau den ­Reformprozess, der 2021 begann und der 2030 abgeschlossen sein soll.
Bild: © Felix Wey

Wie im Himmel, so im Aargau

Das Aargauer Kirchenfest der Reformierten Landeskirche präsentierte die vielen Facetten kirch­lichen Wirkens

Der Himmel spannte sich septemberblau über die Pferderennbahn im Aarauer Schachen. Das Festgelände mit seiner Weite bot den perfekten Rahmen für das Aargauer Kirchenfest, das die Reformierte Landeskirche Aargau unter dem Motto «Wie im Himmel, so im Aargau» auf die Beine gestellt hatte.


Während zwei Tagen präsen­tierte die Reformierte Kirche Aar­gau am 13. und 14. Sep­tem­ber, gemein­sam mit ihren Part­nerkirchen, der Römisch-​Katholis­chen und der Christkatholis­chen Kirche im Aar­gau, das bre­ite Spek­trum kirch­lichen Wirkens.

Gebets­fah­nen mit Bibel­tex­ten begrüssten die Besucherin­nen und Besuch­er – unter ihnen waren, beson­ders am Sam­stagabend, viele Jugendliche. | Bild: Marie-Chris­tine Andres

Markt der Möglichkeiten

Ein attrak­tives Büh­nen­pro­gramm, Kinder- und Fam­i­lien­ange­bote sowie ein Jugend­pro­gramm und ver­schiedene Gottes­di­en­ste am Son­ntag­mor­gen zogen unter­schiedliche Alters­grup­pen an. Auf dem «Markt der Möglichkeit­en» präsen­tierte die Reformierte Kirche Aar­gau ihre Vielfalt. Kirchge­mein­den, Fach­stellen und Part­ner­in­sti­tu­tio­nen stell­ten sich und ihr Tun an inter­ak­tiv­en Stän­den vor. Von den Hil­f­swerken HEKS und Mis­sion 21 über den Inno­va­tions­fonds für zukun­ftsweisende Pro­jek­te bis zum gemein­samen Sin­gen und Tanzen mit «enchan­té» und round­about bot der Markt umfassende Infor­ma­tion und anre­gende Unter­hal­tung.

Gut besuchtes Podiumsgespräch

Auf den ersten Blick schien das grosszügige Fest­gelände am Sam­sta­gnach­mit­tag fast etwas leer – doch das hat­te einen erfreulichen Grund. Viele Fes­t­be­sucherin­nen und ‑besuch­er hat­ten sich im Hauptzelt ver­sam­melt, um die Podi­ums­diskus­sion zu ver­fol­gen. Gegen 150 Per­so­n­en woll­ten wis­sen, was die auf dem Podi­um ver­sam­melte Runde zum The­ma «Christliche Werte in der Gesellschaft» zu sagen hat. Unter der Leitung von Stephan Degen-Ballmer disku­tierten Mar­ti­na Bircher, Vorste­herin Departe­ment Bil­dung, Kul­tur und Sport BKS; Beat Schläfli, CEO der Psy­chi­a­trischen Dien­ste Aar­gau; Clau­dia Rohrer, Recht­san­wältin, Stadträtin in Rhe­in­felden und Gross­rätin; Stephan Feld­haus, langjähriges Vor­standsmit­glied bei Roche, heute Priester der Christkatholis­chen Kirche und Sil­ja Burch, Kun­sthis­torik­erin und Mit­glied der Geschäft­sleitung des Aar­gauer Kun­sthaus­es.


Beim Podi­ums­ge­spräch disku­tierten Stephan Degen-Ballmer (ganz links, Mod­er­a­tion), Clau­dia Rohrer, Stephan Feld­haus, Mar­ti­na Bircher, Beat Schläfli und Sil­ja Burch über das The­ma «Christliche Werte in der Gesellschaft». | Bild: Marie-Chris­tine Andres

Menschenwürde als höchster Wert

Auf die Eröff­nungs­frage, welch­es der wichtig­ste Wert in unser­er Gesellschaft sei, hat­te Stephan Feld­haus eine klare Antwort: «Seit 30 Jahren lese ich die Evan­gelien. ‹Liebe deinen Näch­sten wie dich selb­st›, darin gipfelt alles. Der wichtig­ste Wert ist die Men­schen­würde. Alle sind von Gott gle­ich geliebt. Das ist die Grund­botschaft der jesuanis­chen Verkündi­gung für mich.»

«Christlich motiviert»

Feld­haus hielt auch fest, dass es aus sein­er Sicht keinen Unter­schied zwis­chen christlichen und anderen Werten gebe: «Die Men­schen­würde als höch­ster Wert lässt sich von ver­schiede­nen Seit­en begrün­den: mit Kant, util­i­taris­tisch oder eben christlich. Der Unter­schied liegt in der christlichen Moti­va­tion.» Die Runde einigte sich darauf, dass es präzis­er sei, von «christlich motivierten Werten» zu sprechen.

Auf die Schwächsten achten

Degen-Ballmer wandte sich an die bei­den Poli­tik­erin­nen in der Runde. In der Präam­bel der Aar­gauer Kan­tonsver­fas­sung ist expliz­it die «Ver­ant­wor­tung vor Gott» fest­ge­hal­ten. Ob eine solche For­mulierung noch zeit­gemäss sei, wenn man bedenke, dass immer weniger Men­schen ein­er Lan­deskirche ange­hörten, wollte der Mod­er­a­tor wis­sen. Clau­dia Rohrer, Gross­rätin und Stadträtin in Rhe­in­felden, antwortete: «Christliche Werte sind men­schliche Werte.» Man könne sie eine Sozial­ro­man­tik­erin mit Helferin­nen­syn­drom nen­nen, sie sei aber überzeugt, dass es schiefge­hen müsse, wenn sich die Gesellschaft auf die Stärk­sten aus­richte. Rohrer zog den Ver­gle­ich zu ein­er Seilschaft am Berg: «Um weit­erzukom­men, müssen wir auf den Schwäch­sten acht­en.»

Religionsfrei, aber christlich geprägt

Regierungsrätin Mar­ti­na Bircher meinte, dass kein Wert wichtiger sei als ein ander­er, weshalb sie auch keine Ran­gliste der Werte verkün­den werde. Ihrem sieben­jähri­gen Sohn gebe sie mit, dass Ehrlichkeit und Respekt für Andere wichtig seien, sowie das Bewusst­sein dafür, dass nichts selb­stver­ständlich sei. Und als Bil­dungs­di­rek­torin betonte sie: «Obwohl unsere Schulen reli­gions­frei sind, ist es wichtig zu ver­mit­teln, dass wir ein christlich geprägtes Land sind.»


Pas­cal Gre­gor, Kirchen­rat­spräsi­dent der ­Römisch-Katholis­chen Kirche im Aar­gau, sprach ein Gruss­wort und lobte die Zusam­me­nar­beit mit der Reformierten Kirche Aar­gau: «Christoph Weber-Berg und ich, wir kön­nten gemein­sam die halbe Weltkirche reformieren – und die andere Hälfte katholisch machen», sagte er scherzend. | Bild: Marie-Chris­tine Andres

Beat Schläfli antwortete auf die Frage, welche Werte in unser­er Gesellschaft stärk­er gelebt wer­den müssten, damit weniger Men­schen psy­chisch erkranken: «Wo wir wirk­lich alle mithelfen kön­nten: ein Umfeld bieten, das zuhört, nach­fragt und psy­chis­che Prob­leme the­ma­tisiert.» Mit­ge­fühl, Sol­i­dar­ität und Näch­sten­liebe seien die Zutat­en für eine Gesellschaft, die Men­schen psy­chisch gesund hält.

Der christkatholis­che Priester Stephan Feld­haus, der sich immer wieder pointiert äusserte und wieder­holt Applaus ern­tete, ver­stärk­te die Aus­sage von Schläfli mit einem bib­lis­chen Beispiel: «Als die Jünger Jesus darauf hin­weisen, dass das Essen niemals für 5000 Men­schen reicht, sagte Jesus nicht: ‹Wir brauchen mehr Mit­tel, der Staat soll mal die Verpfle­gung sich­ern, ich spreche mal mit dem Ober­phar­isäer›, nein, er sagt den Jüngern: ‹Gebt IHR ihnen doch zu essen›. Das sollte eigentlich über jed­er Kirche ste­hen!» Diese Hal­tung erwarte er von Christin­nen und Chris­ten, ihre Ver­ant­wor­tung wahrzunehmen.

Neue Dimensionen erschliessen

Mar­ti­na Bircher erwäh­nte, dass ein Besuch im Aarauer Kun­sthaus und die Betra­ch­tung mit fachkundi­gen Erk­lärun­gen ihr ganz neue Sichtweisen zeige. Sil­ja Burch, Mit­glied der Geschäft­sleitung des Kun­sthaus­es, ergänzte, dass die Kun­st die Men­schen zum Dia­log ein­lade und die Reflex­ion darüber neue Räume erschliesse. Ähn­lich gehe es ihr, wenn im Gottes­di­enst in der Predigt eine Bibel­stelle aus­gelegt werde. Auch die Kirche biete Raum für Reflex­ion und Aus­tausch.

Kirche ist politisch

Zum Schluss stellte Degen-Ballmer die Frage, ob Kirche poli­tisch sein dürfe. Clau­dia Rohrer antwortete: «Wenn Liebe poli­tisch ist, darf Kirche poli­tisch sein. Ich bin ein poli­tis­ch­er Men­sch und wün­sche mir eine poli­tis­che Kirche.» Das gle­iche wün­schte sich Beat Schläfli. Angesichts der welt­poli­tis­chen Krisen müsse die Kirche ihre Stimme erheben und sich in die Poli­tik ein­brin­gen, wenn men­schliche Grundw­erte ver­let­zt wer­den, forderte er.

Jesu Botschaft leben

Stephan Feld­haus wiederum erk­lärte: «Ich ver­ste­he die Frage nicht. Jesu Botschaft war poli­tisch. In der Nach­folge Christi ist jed­er Christ poli­tisch. Dass wir das disku­tieren müssen, ist ein Zeichen dafür, dass sich die Kirchen von der Botschaft Jesu ent­fer­nt haben und sich nur noch mit sich sel­ber befassen.»

Es brauche keinen Kat­a­log unzäh­liger Werte, erk­lärt Feld­haus. Wenn die Men­schen­würde als ober­ster Wert fest­ge­set­zt sei, fol­gen daraus die drei Werte Frei­heit, Gerechtigkeit und Sol­i­dar­ität. «Ich bin auch dafür, auf wenige grundle­gende Werte zu vere­in­fachen – und diese dann vor allem zu leben.» Diesem State­ment stimmte Feld­haus zu: «Die Kirchen soll­ten aufhören, um sich selb­st zu kreisen und sich selb­st ret­ten zu wollen. Sie soll­ten ver­suchen, die Botschaft Jesu’ zu ret­ten und sie zu leben.»

Marie-Christine Andres Schürch
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