Was Trennungen überwindet
Bild: ©

Was Trennungen überwindet

Was Trennungen überwindet

In sein­er Auto­bi­ografie erzählt Papst Franziskus davon, wie die grosse Welt­geschichte immer wieder sein per­sön­lich­es Leben geprägt hat. Dieser Auszug aus dem neuen Buch ver­mit­telt einen Ein­blick in das Denken des Pap­stes. Franziskus ist überzeugt: Wo wir unser Herz öff­nen, wird es uns gelin­gen, Gren­zen zu über­winden.
Während sein­er Rede 1987 in West-Berlin wich Rea­gan von seinem Manuskript ab und wandte sich direkt an Gor­batschow: «Herr Gor­batschow, reis­sen Sie diese Mauer nieder.»Und die Mauer wurde tat­säch­lich niederg­eris­sen. Der Wind der Verän­derung hat­te endlich auch Europa erre­icht. Die Men­schen erkan­nten sich nach der Teilung, die Leid und Tod gebracht hat­te, endlich wieder als Brüder und Schwest­ern. In mein Gedächt­nis bran­nten sich die Bilder der durch die Mauer jahrzehn­te­lang getren­nten Fam­i­lien ein, die sich in West-Berlin endlich wieder umar­men kon­nten. Dass ger­ade dieser Anblick mir grosse Freude im Herzen bescherte, liegt wohl daran, dass in mein­er Fam­i­lie müt­ter­lich­er­seits zu meinem grossen Bedauern zwis­chen Brüdern und Cousins oft Feind­schaft herrschte. Vielle­icht schlossen meine Mut­ter und ich aus diesem Grund leicht Fre­und­schaft mit anderen Men­schen, beispiel­sweise mit den Frauen, die uns im Haushalt halfen.Dann war da Con­cetta. Drei- oder vier­mal in der Woche half sie unser­er Mut­ter bei der Wäsche. An sie erin­nere ich mich mit gross­er Rührung, denn sie schenk­te mir eine Medaille der Mut­ter­gottes, die ich noch heute an ein­er Kette am Hals trage. Con­cetta stammte aus Sizilien. Ihre Erzäh­lun­gen liessen bit­tere Armut erah­nen, aber davon liess sie sich nicht ent­muti­gen, son­dern bewahrte sich den guten Charak­ter ein­er ein­fachen Frau.Con­cetta und ihre Tochter kehrten nach Ital­ien zurück. Einige Jahre später kamen bei­de jedoch wieder nach Buenos Aires. Als sie mich dort besuchen woll­ten, wurde mir gemeldet: «Pater, da will Sie eine Seño­ra Con­cep­ción Min­u­to sprechen.» Da ich in diesem Moment sehr beschäftigt war, liess ich aus­richt­en, ich hätte keine Zeit. Am fol­gen­den Tag bereute ich mein Ver­hal­ten: «Warum habe ich mich dieser Frau gegenüber so ablehnend ver­hal­ten, die ich seit so vie­len Jahren kenne, die aus Ital­ien zurück­gekom­men ist und auch die Fahrkarte bezahlen musste, um mich zu besuchen?» An diesem Abend bat ich den Her­rn um Verzei­hung für mein Ver­hal­ten.Einige Jahre später suchte mich ihre Tochter auf, hin­ter­liess aber nur eine Karte: «Ich bin die Tochter von Con­cetta und wollte Sie grüssen …» Daraufhin rief ich sie sofort an. Eines Tages erfuhr ich, dass Con­cetta im Ster­ben lag, und kon­nte ihr in ihren let­zten Stun­den geistlichen Bei­s­tand leis­ten. Oft denke ich an sie, und wenn ich das Marien­medail­lon betra­chte, das sie mir geschenkt hat, bete ich für sie.Wir behan­del­ten die Men­schen, die uns im Haushalt halfen, wie einen Teil der Fam­i­lie. Meine müt­ter­liche Ver­wandtschaft dage­gen war, wie erwäh­nt, gän­zlich uneins. Meine Tan­ten und Onkel habe ich deshalb nur sel­ten gese­hen. Diese Zwistigkeit­en zu sehen, ver­let­zte mich tief.Im Gegen­satz zu den Berlin­er Fam­i­lien hat­ten wir vom Her­rn die Gnade erhal­ten, uns so oft sehen zu kön­nen, wie wir woll­ten, wussten dieses Geschenk Gottes aber nicht zu nutzen. Die Fam­i­lie ist der erste Ort, wo man zu lieben lernt, und an diesem Grund­satz habe ich stets fest­ge­hal­ten. Wir sind uns aber auch darüber im Klaren, dass jed­er Fam­i­lie ein Kreuz aufer­legt ist, denn der Herr sieht auch diesen Weg vor. Es gibt Schwierigkeit­en, die nur durch Liebe aus dem Weg zu räu­men sind. Hass dage­gen versper­rt diesen Weg. Auch aus diesem Grund haben mich die Bilder von Geschwis­tern, die sich an der Gren­ze zwis­chen Ost und West in die Arme fie­len, so tief bewegt. Durch die Liebe hat­ten sie auch diese Art der Tren­nung über­wun­den, während wir das in mein­er Fam­i­lie nicht geschafft hat­ten.
Orig­inal­text leicht gekürzt. Papst Franziskus: Leben. Ver­lag Harp­er Collins 2024
Redaktion Lichtblick
mehr zum Autor
nach
soben