«Über acht Prozent der Schweizer sind arm»

«Über acht Prozent der Schweizer sind arm»

  • Am 25. und 26. Jan­u­ar wird in den Gottes­di­en­sten die Kollek­te erhoben zugun­sten Armuts­be­trof­fen­er in der Schweiz. Das Mot­to des Car­i­tas-Son­ntags 2020 lautet: «Armut macht krank – Krankheit macht arm». Trau­rige Real­ität — auch in der reichen Schweiz.
  • Der Sozi­ologe Ueli Mäder erk­lärt im Hor­i­zonte-Inter­view den Zusam­men­hang zwis­chen Armut und Krankheit, wie es dazu kommt und was man dage­gen tun kön­nte.
  • Der emer­i­tierte Pro­fes­sor der Uni­ver­sität Basel spricht Klar­text: «Geld ist in der Schweiz genug vorhan­den, um alle Men­schen materiell zu sich­ern. Aber dazu fehlt der poli­tis­che Wille.»
 Herr Mäder, die Car­i­tas sam­melt am 25./26. Jan­u­ar für Armuts­be­trof­fene in der Schweiz unter dem Mot­to «Armut macht krank – Krankheit macht arm». Wann gilt ein Men­sch in der Schweiz als «arm»? Ueli Mäder: Armut ist ein Man­gel an sozialer Sicher­heit und Teil­habe. Men­schen, die ihre Grundbedürfnisse nicht befriedi­gen kön­nen, sind arm. Bei ein­er vierköp­fi­gen Fam­i­lie nimmt das Bun­de­samt für Sta­tis­tik einen finanziellen Bedarf von rund 4’000 Franken an. Wenn eine Einzelper­son nach Abzug der Aus­gaben für Miete und Gesund­heit über weniger als 1’000 Franken ver­fügt, hat sie bei uns Anspruch auf Sozial­hil­fe. In der Schweiz gel­ten offiziell über acht Prozent der ständi­gen Wohn­bevölkerung als arm. Das sind etwa 700’000 Per­so­n­en. Je nach­dem, wie wir Armut definieren, ändert sich die Zahl der Betrof­fe­nen.Was läuft falsch im Schweiz­er Sozial­sys­tem, dass es in so einem reichen Land arme Men­schen gibt? Die Schweiz ist ein sehr reich­es Land. Geld ist genug vorhan­den, um alle Men­schen materiell zu sich­ern. Aber dazu fehlt der poli­tis­che Wille. Das Sys­tem der sozialen Sicherung ste­ht zwar rel­a­tiv gut da. Es geht allerd­ings von normierten Biografien aus, die immer weniger zutr­e­f­fen. So ger­at­en beson­ders Alle­in­ste­hende, Allein­erziehende und Erwerb­slose in Bedräng­nis. Hinzu kom­men Sparver­suche bei der Arbeit­slosen- und Invali­den­ver­sicherung. Sie erhöhen den Druck auf die Sozial­hil­fe, die mit weniger Mit­teln mehr Leis­tun­gen erbrin­gen soll.Dass Armut krank macht, ist nachvol­lziehbar. Aber dass Krankheit auch arm macht, das ist schw­er erk­lär­bar in einem Land, wo doch alle Men­schen oblig­a­torisch kranken­ver­sichert sind. Welche Mech­a­nis­men spie­len da eine Rolle? Ja, Armut macht krank und Krankheit macht arm. So lautete bere­its eine Fol­gerung unser­er Basler Armutsstudie von 1991. Sie ist lei­der immer noch aktuell. Bei niedri­gen Einkom­men steigen die gesund­heitlichen Prob­leme. Und die Lebenser­wartung sinkt. Umgekehrt gilt: Wer erkrankt, hat weniger Energie und höhere Aus­la­gen. Hil­fre­ich sind dann die Prämien­zuschüsse. Sie hinken aber den steigen­den Kosten hin­ter­her. Und die Kranken­ver­sicherung deckt nicht alle Risiken ab. Sie ver­nach­läs­sigt zum Beispiel psy­chis­che Belas­tun­gen.Heisst das im Umkehrschluss, dass sich tat­säch­lich nur reiche Men­schen unser Gesund­heitssys­tem leis­ten kön­nen? Unser Gesund­heitssys­tem hat einen hohen Stan­dard und dient uns allen. Die Finanzierung ist jedoch stark pri­vatisiert. Die Kopf­prämien wälzen erhe­bliche Kosten auf das Gros der Bevölkerung ab. Davon prof­i­tieren viele Reiche, die sich ohne­hin Zusatzver­sicherun­gen und Son­der­leis­tun­gen erlauben kön­nen.Wie müsste ein Gesund­heitssys­tem aufge­baut sein, das wirk­lich alle Einkom­menss­chicht­en abdeckt? Wir geben in der Schweiz gut zwölf Prozent unseres Inland­pro­duk­tes für die Gesund­heit aus. Das ist wohl angemessen. Wir soll­ten jedoch die Prämien auf die Einkom­men abstim­men und die staatliche Finanzierung stärken. So ent­las­ten wir ein­fache Haushalte. Wenn wir zudem mehr für die Gesund­heit tun, ein­fach­er leben und die Umwelt scho­nen, dann sparen und gewin­nen wir viel. Wir fördern die Gesund­heit auch, wenn wir die unteren Löhne anheben und die soziale Sicher­heit aus­bauen.Wie wäre ein solch­es Sys­tem finanzier­bar? Der jet­zige Anteil, der über pro­gres­sive Steuern finanziert wird, ist rel­a­tiv tief. Er liegt unter einem Fün­f­tel der Kosten und liesse sich anheben. Wenn wir fern­er die Ergänzungsleis­tun­gen für AHV- und IV-Beziehende auf alle Fam­i­lien ausweit­en, dann verbessern wir die Per­spek­tive viel­er Kinder. Das würde zwar etwa drei Mil­liar­den Franken kosten, aber die Finanzierung indi­rekt unter­stützen. Denn soziale Aus­gaben sind über­aus nüt­zlich. Wir sind bloss etwas blind dafür.Mit den Kollek­ten­geldern des Car­i­tas-Son­ntags kann man sich­er eini­gen von Armut und Krankheit Betrof­fe­nen unter die Arme greifen. Doch damit wer­den Symp­tome, keine Ursachen bekämpft. Wo müsste man aus Ihrer Sicht anset­zen, um Men­schen vor der Abwärtsspi­rale Armut/Krankheit oder Krankheit/Armut zu bewahren? Die Car­i­tas will mehr Gerechtigkeit. Das ist wichtig. Wer auf die struk­turelle Umverteilung wartet, muss allerd­ings lange warten. Darum sind auch kleine Anstren­gun­gen nötig. Wenn die Car­i­tas beispiel­sweise kul­turelle Aktiv­itäten benachteiligter Kinder und Jugendlich­er ermöglicht, fördert sie die soziale Teil­habe. Mit ihren Pub­lika­tio­nen stützt die Car­i­tas auch vie­len Einzelper­so­n­en den Rück­en, die sich für den gesellschaftlichen Zusam­men­halt engagieren.Wo sehen Sie als Sozi­ologe die Rolle der Kirchen im Teufel­skreis von Armut und Krankheit? Unsere Gesellschaft ist sehr finanzgetrieben und ökonomisiert. Arbeit und Erlös driften auseinan­der. Mehr sozialer Aus­gle­ich wäre dringlich, auch bei den pri­vat­en Ver­mö­gen. Kirchen müssen sich dafür ein­set­zen. Gegen die neue Gläu­bigkeit, für die Geld und nochmals Geld zählt. Kirchen müssen fra­gen, was wirk­lich wichtig und sin­nvoll ist im Leben. Das ist heute schi­er sub­ver­siv.Papst Franziskus betont immer, dass die Katholis­che Kirche eine «Kirche der Armen» sein soll. Wie inter­pretieren Sie dieses Dik­tum vor dem Hin­ter­grund, dass sich­er kein Men­sch frei­willig danach tra­chtet, arm zu sein? Eine lebendi­ge Kirche der Armen ist mit den Armen für die Armen da. Ohne Auss­chluss. Die bre­ite Bevölkerung ist willkom­men. Sie soll ein gutes Leben führen, ohne andere zu benachteili­gen. So ver­ste­he ich den Papst. Einige Reiche plädieren eben­falls dafür, beschei­den­er zu leben und Arme zu unter­stützen. Das ist erfreulich. Die Exis­ten­zsicherung ist aber eine gesellschaftliche Auf­gabe für uns alle. Wir dür­fen sie nicht vom Good­will der Begüterten abhängig machen.
Christian Breitschmid
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