Vom Umgang mit Wut, Hass und Gewalt in den Religionen

Vom Umgang mit Wut, Hass und Gewalt in den Religionen

  • Acht Per­sön­lichkeit­en, sechs Reli­gio­nen: eine angeregte Gespräch­srunde, die mit einem tibetis­chen Berglied und sufis­chem Drehtanz endet.
  • Das Dossier zur Woche der Reli­gio­nen ist eine inter­re­ligiöse Kopro­duk­tion unter der Mitar­beit von Pfar­rblatt Kan­ton Bern, «hor­i­zonte», «reformiert», «christkatholisch», «tach­les» sowie Mit­gliedern der mus­lim­is­chen Glaubens­ge­mein­schaft
  • Die Porträts der einzel­nen Gespräch­steil­nehmerin­nen und ‑teil­nehmer find­en Sie, wenn Sie auf die Bilder klick­en.
 Das Ther­mome­ter zeigt an diesem Juni­abend über 30 Grad an. Wir tre­f­fen uns im Restau­rant ­Loren­zi­ni in Bern, im «Salot­to Siena». Vom ­Fen­ster aus sieht man aufs Mün­ster, Stras­sen­geräusche drin­gen in den Saal. Am Tisch sitzen ­die Redak­torin Katha­ri­na Kilchen­mann und der Redak­tor Jürg Meien­berg und warten auf ihre acht Gäste. Als ­erste tre­f­fen Bro­nis­law Erlich und Eri­ka Rader­ma­ch­er ein. Redak­tion: Frau Rademach­er, als wir Sie zur Gespräch­srunde über Wut, Hass und Gewalt in den Reli­gio­nen ein­ge­laden haben, was ging Ihnen da durch den Kopf?Eri­ka Rader­ma­ch­er: Es war mir eher unan­genehm. Mit echter Gewalt hat­te ich nie richtig zu tun. Mit sub­til­er Gewalt hinge­gen aber schon.Redak­tion: Sie bei­de sind Zeu­gen des zweit­en Weltkrieges.Rader­ma­ch­er: Ich war noch ein Knirps damals. Meine Erin­nerun­gen an den Krieg sind mehr vom Gefühl der Angst als von Gewalt geprägt. Ich habe immer noch dieses Bild, wie wir zu Fuss flüchteten und uns immer wieder hin­le­gen mussten, weil die Granat­en flo­gen.Bro­nis­law Erlich: Ich hat­te Glück. Ich erlebte zwar viel seel­is­ches Leid, physis­che Gewalt jedoch kaum. Aber natür­lich kenne ich viele tragis­che Geschicht­en von Men­schen im Zweit­en Weltkrieg und die hoff­nungslose Sit­u­a­tion viel­er Juden. Wenn ich daran denke, was meine Eltern, die im Ver­nich­tungslager Tre­blin­ka ermordet wur­den, erlei­den mussten, dann habe ich heute noch schlaflose Nächte. Zu wis­sen, dass man dem Tod aus­geliefert ist, war das Schlimm­ste.Während der Diskus­sion set­zt sich Rudolf Szabo an den Tisch.Redak­tion: Frau Rader­ma­ch­er, Sie sind evan­ge­lisch-lutherisch aufgewach­sen und waren viele Jahre Schü­lerin von Bagh­wan, einem indis­chen Med­i­ta­tion­s­meis­ter und nicht unum­strit­te­nen Guru. Wieso spielt Med­i­ta­tion eine wichtige Rolle in Ihrem Leben?Rader­ma­ch­er: In der Lehre von Bhag­wan ste­ht der Kör­p­er im Zen­trum. Man macht viele kör­per­be­tonte Med­i­ta­tio­nen, wie etwa die «Dynamis­che Med­i­ta­tion». Als ich zum ersten Mal bei ein­er solchen dabei war, habe ich gese­hen, wie die Teil­nehmerin­nen und Teil­nehmer danach aus­sa­hen: wie Babies, rein und weich. Da dachte ich: Wenn weltweit alle Men­schen jeden Tag so medi­tieren wür­den, dann gäbe es keine Kriege mehr.Redak­tion: Bei der dynamis­chen Med­i­ta­tion wird durch die Atmung Energie aufge­baut, anschliessend lässt man diese raus – die einen toben, die anderen schreien.Rader­ma­ch­er: Das kann man, aber man muss nicht. Ich sel­ber musste das erst ler­nen. Früher hat­te ich viel Wut in mir, die ich ein­fach run­ter­schluck­te. Durch eben solche kör­per­be­ton­ten Med­i­ta­tio­nen kann man ler­nen, seine Wut zu spüren, kann sie in Energie umwan­deln und aus­drück­en. So endet sie nicht in Gewalt.Rudolf Szabo: Dem kann ich nur beipflicht­en. Und als ein ehe­ma­liger Schw­erver­brech­er, der selb­st Gewalt angewen­det hat, spreche ich aus Erfahrung. Ich wurde zu neun Jahren Gefäng­nis verurteilt, weil ich den Ex-Lieb­haber mein­er Ex-Frau fast zu Tode prügelte und sieben bewaffnete Raubüber­fälle auf Banken und Postämter began­gen habe – aus Geld­not wegen der Ali­menten­zahlun­gen für meine fünf Kinder.Während Szabo spricht, ste­ht Erlich am anderen Ende des Tis­ches auf und set­zt sich neben ihn. Szabo: Im Gefäng­nis habe ich dann aber dank einem sehr engagierten Gefäng­nis­seel­sorg­er den Rank gefun­den. Dort begann ich, mich an christlichen Werten und am Vor­bild Jesus Chris­tus zu ori­en­tieren. Der Seel­sorg­er sagte mir Sätze wie: «Liebe ist etwas Uni­verselles, Jesus hat es vorgelebt.» Das hat mich tief berührt. Bis dahin meinte ich, Liebe sei ein Trick der Frauen, um uns Män­ner zu manip­ulieren.Redak­tion: Frau Rader­ma­ch­er musste erst ler­nen, ihre Wut zu spüren. Herr Szabo sein­er­seits musste sie zügeln. Und Sie Herr Erlich, wie haben Sie es mit der Wut?Erlich: Ich habe meine Wut bagatel­lisiert und ignori­ert. Ich erzäh­le ihnen ein Beispiel: Während des Krieges arbeit­ete ich zwei Jahre mit falschen Papieren bei einem deutschen Bauern. Dieser holte die Polizei, weil er sich von mir bedro­ht fühlte. Er behauptete, ich sei mit ein­er Mist­ga­bel auf ihn los­ge­gan­gen. Die Polizis­ten ver­prügel­ten mich und dro­ht­en mir, sie wür­den wiederkom­men, um mich umzubrin­gen. Darauf spendierte ich meinen Arbeit­skol­le­gen ein Abschieds­bier, denn ich war bere­it zu ster­ben. Doch der Tod kam nicht, die deutschen Polizis­ten taucht­en nicht mehr auf. Als drei Monate später die Amerikan­er ein­marschierten, schenk­ten sie mir eine Schachtel Lucky Strike-Zigaret­ten. Der Bauer hat­te Angst, dass ich mich rächen würde, jet­zt, wo die deutsche Polizei nicht mehr im Dorf war. Aber ich ging zu ihm und schenk­te ihm die Zigaret­ten – aus Freude, über­lebt zu haben. Ich war so glück­lich und spürte kein­er­lei Wut in mir. Ich wollte die ganze Welt umar­men. Ein halbes Jahr später lernte ich ein deutsches Mäd­chen aus Ober­schle­sien ken­nen — meine heutige Frau. Hass wurde für mich bedeu­tungs­los.Während Erlich spricht, gesellen sich Nurgül ­Uslu­oglu und Laa­van­ja Sin­nadu­rai dazu. Sie set­zen sich nebeneinan­der an den grossen Tisch.Redak­tion: Herr Ehrlich, wie ist ihr Ver­hält­nis zum Juden­tum heute?Erlich: Ich bin als Jude geboren, habe die Tra­di­tio­nen mein­er Eltern über­nom­men. Reli­gion ist für mich ein Ver­hal­tenskodex, eine Zusam­men­stel­lung von ethis­chen Hin­weisen, wie der Men­sch leben soll. Nehmen wir die zehn Gebote von Moses. Du sollst nicht töten. Das sind Sätze, die vor tausenden von Jahren geschrieben wur­den und nie ihre Gültigkeit ver­lieren wer­den. Das ist doch das Schön­ste, was die Men­schheit von sich geben kon­nte.Redak­tion: Frau Uslu­oglu, wie haben Sie es mit der Reli­gion?Nurgül Uslu­oglu: Ich bin in der Türkei in einem mus­lim­is­chen Eltern­haus gross­ge­wor­den. Ich musste wed­er ein Kopf­tuch tra­gen, noch regelmäs­sig beten. Meine Eltern lebten mir eine spir­ituelle Art des Islam vor. Seit eini­gen Jahren bin ich nun Anhän­gerin des Sufis­mus, ein­er speziellen Form des Islam. Die Sufis sehen den eigentlichen Kern, die Essenz der Reli­gion.Redak­tion: Wir hat­ten vorher drei Beispiele, wie man mit Wut umge­hen kann. Wie ist Ihre Beziehung zu Wut und Hass?Uslu­oglu: Ich bin in einem Eltern­haus aufgewach­sen, in dem man als Mäd­chen keine Wut haben durfte.Redak­tion: Wütend zu sein, war also den Män­nern vor­be­hal­ten?Uslu­oglu: Ja. Wut ist eine kraftvolle Energie.Redak­tion: Und der Sufis­mus war dann für Sie eine Möglichkeit, Ihre Per­sön­lichkeit als Frau zu find­en?Uslu­oglu: Genau. Im Sufis­mus geht es darum, die innere Stärke zu entwick­eln, die eben einen direk­ten Bezug hat zum Göt­tlichen und zum Geisti­gen. Da spielt das Geschlecht keine Rolle. Durch den Drehtanz kon­nte ich die Wut direkt in eine Aktion umset­zen.Redak­tion: Ken­nen Sie, Frau Sin­nadu­rai, das Gefühl von Wut und Hass?Laa­van­ja Sin­nadu­rai: In der Pubertät hat­te ich eine Iden­tität­skrise. Denn als eine in der Schweiz geborene Tochter von tamilis­chen Eltern real­isierte ich, dass ich nicht die gle­ichen Frei­heit­en hat­te wie meine Schweiz­er Fre­undin­nen. Ich durfte nicht gle­ich lange an Par­ties bleiben und durfte auch keinen Schweiz­er Fre­und haben. Das machte mich wütend.Johan­na Bun­di gesellt sich zur Runde. Redak­tion: Ein anstren­gen­des Dop­pelleben?Sin­nadu­rai: Oh ja. Zwar habe ich das Dop­pelleben ein­er Schweiz­erin mit tamilis­chen hin­duis­tis­chen Wurzeln immer zele­bri­ert. Aber das Leben zwis­chen zwei völ­lig ver­schiede­nen Kul­turen, das braucht enorm Energie und hat auch eine Kehr­seite: Da kann schon mal Wut und Hass aufkom­men.Redak­tion: Machen wir einen Sprung aus Sri Lan­ka in den römisch-­katholis­chen Teil im Bünd­ner­land. Frau Bun­di, Ihre religiöse Sozial­isierung als Polizistin, wie ist die?Johan­na Bun­di: Ich bin in ein­er Gross­fam­i­lie mit sieben Geschwis­tern aufgewach­sen. Die Reli­gion hat­te bei uns einen hohen Stel­len­wert und ich bin überzeugt, dass mein Glaube mir in meinem Beruf als Polizistin sehr hil­ft. Beispiel­sweise wenn wir eine Todesnachricht über­brin­gen müssen. Ich erin­nere mich an eine dieser schwieri­gen Sit­u­a­tio­nen, als ich ein­er Mut­ter mit­teilen musste, dass ihr 13-jähriger Sohn ver­stor­ben ist. Da ist ein gutes Fun­da­ment eine grosse Hil­fe. Und das habe ich dank meinem Glauben.Redak­tion: Als Polizistin sind Sie immer wieder Zeu­g­in von häus­lich­er Gewalt. Was macht das mit Ihnen?Bun­di: Wenn man ein Kind mit blauen Fleck­en, halb tot­geschla­gen im Bettchen liegen sieht, da kommt Wut hoch: Wie kann man einem wehrlosen Geschöpf so etwas antun? Das macht mich unglaublich wütend und gle­ichzeit­ig weiss ich, dass ich nicht viel dage­gen unternehmen kann.Szabo: Gewalt gegen Kinder ist sehr schlimm. Ich erin­nere mich an einen mein­er Postüber­fälle, bei dem ich ganz in Schwarz gek­lei­det war, eine Haube mit Sehschlitzen über dem Gesicht und eine geladene Waffe in der Hand hat­te. Eine Mut­ter mit ihren Kindern war in der Fil­iale. Sie zog die Kinder zu sich und zit­terte am ganzen Leib. Sie weinte und bet­telte: Bitte tun Sie meinen Kindern nichts. Da habe ich mir gedacht, ich habe Kinder im genau gle­ichen Alter. Denen würde ich nie etwas antun. Trotz­dem habe ich die Frau eiskalt angewiesen, sich in die Ecke zu stellen und zu tun, was ich ihr sage. Diese Szene hat mich lange ver­fol­gt.Jacque­line Straub und Loten Nam­ling set­zen sich an den Tisch. Die Runde ist nun kom­plett.Bun­di: Haben Sie nach­her Kon­takt zu dieser Per­son aufgenom­men?Szabo: Ja, ich habe mich nach mein­er Ent­las­sung aus dem Gefäng­nis bei ihr entschuldigt. Dabei habe ich erfahren, welch tragis­che Fol­gen diese Szene in ihrem Leben hat­te. Da erst habe ich gemerkt, was ich getan hat­te: etwas, das nicht zu entschuldigen ist.Redak­tion: Herr Nam­ling, Sie set­zen sich gegen die Unter­drück­ung der Tibeter ein. In ein­er Ihrer Aktio­nen sind Sie mit einem Sarg von Genf nach Bern marschiert. Ist das Ihre Art, mit Wut umzuge­hen?Loten Nam­ling: Es war nicht Wut, die mich dazu bewegt ­hat­te, son­dern Frus­tra­tion. Frus­tra­tion, dass sich seit 50 Jahren trotz unserem gewalt­losen Kampf im Tibet nichts verän­dert hat. Auch nach der 35. Selb­stver­bren­nung von tibetis­chen Mönchen hat nie­mand reagiert – wed­er die Poli­tik noch die Me­dien. Das brachte mich zum Weinen und ich kon­nte nicht mehr schlafen. Mit meinem Marsch wollte ich auf die hoff­nungslose Sit­u­a­tion im Tibet aufmerk­sam machen, denn ich wusste, mich sel­ber ver­bren­nen werde ich nicht. Dazu fehlt mir der Mut.Redak­tion: Frau Straub, Sie sind römisch-katholisch und möcht­en seit Jahren Pries­terin wer­den, was Sie als Frau in ihrer Kirche nicht kön­nen. Und Sie box­en. Haben Sie auf Ihrem Box­sack Papst Franziskus abge­bildet?Jacque­line Straub: Mit Papst Franziskus fahren wir Katho­liken ganz gut, mit ihm muss man sich nicht anle­gen. Aber es gab schon Sit­u­a­tio­nen in meinem Leben, bei denen ich in den Box­club ging, um meine ganze Wut rauszu­lassen. Etwa nach­dem ich eine Has­s­mail erhal­ten hat­te. Feind­bilder jedoch habe ich mir abgewöh­nt. Die brin­gen nichts und rauben mir nur Energie.Es ist heiss im Raum. Johan­na Bun­di tupft sich den Schweiss von der Stirn. Eben­so Loten Nam­ling, dann bestellt er einen Grün­tee.Redak­tion: Sie bekom­men Has­s­mails? Löst Ihr Wun­sch, Pries­terin zu wer­den, so starke Reak­tio­nen aus?Straub: Allerd­ings! Ich muss mir beispiel­sweise von gle­ichal­tri­gen Priester­an­wärtern anhören: «Du kannst nicht Pries­terin wer­den, der Heilige Geist kann gar nicht in dir wirken», oder «Gott kann nun mal keine Frauen berufen». Solche Aus­sagen ver­let­zen mich. Und dazu kommt: Wenn jemand denkt, dass Gott etwas nicht kann, stellt er dessen All­macht in Frage. Damit stellt er sich über Gott, was einem Men­schen nicht zuste­ht.Bun­di: Mit einem Wech­sel zur reformierten Kirche kön­nten Sie ganz ein­fach Pfar­rerin wer­den.Straub: Das stimmt, das habe ich mir natür­lich auch über­legt. Ich will die römisch-katholis­che Kirche aber nicht ver­lassen. Ich finde, man muss sich dafür ein­set­zen. Manch­mal muss man halt – etwas blu­mig gesagt – jeman­dem mit dem Fuss in den Hin­tern treten, damit etwas vor­ange­ht.Uslu­oglu: Das sind Muster, die sich auf der ganzen Welt wieder­holen: Die Unter­drück­ung des Weib­lichen ist prak­tisch über­all zu find­en. Es ist die Angst des Mannes vor der Frau. Doch warum muss der Mann die Frau kon­trol­lieren?Straub: Ich denke, es ist das Unbekan­nte.Bun­di: Es ist noch gar nicht so lange, dass es im Polizei­di­enst Frauen gibt. Und wir erleben heute noch, dass die Kol­le­gen Angst vor uns haben. Die Män­ner fürcht­en um ihre Kar­riere, ja um ihre Exis­tenz.Erlich: … und ihre Dom­i­nanz vielle­icht.Bun­di: Ja, auch Dom­i­nanz. Da helfen auch Frauen­quoten wenig.Nam­ling: Ich glaube, das Ego ist der entschei­dende Punkt. Je nach dem, wie man aufgewach­sen ist, wird das Ego sehr ver­let­zlich. Abschaf­fen lässt es sich nicht, aber man kann es in Bal­ance brin­gen. Zu schnell ger­at­en Män­ner in der Schweiz aus der Bal­ance, wenn Frauen mächtiger, bess­er oder intel­li­gen­ter sind.Sin­nadu­rai: In Sri Lan­ka sind die Frauen stark und haben eine grosse Bedeu­tung. Aber seit wir in der Dias­po­ra leben, hat sich vieles verän­dert. Die Frauen haben es nun schw­er­er, weil die Män­ner vor ihnen hier­her kamen. Nun ver­suchen wir als zweite Gen­er­a­tion, die Gle­ich­berech­ti­gung wieder herzustellen.Redak­tion: Im Hin­duis­mus gibt es die Göt­tin Shak­ti, die für Wut und Zer­störung ste­ht. Spüren Sie diese Shak­ti-Energie manch­mal?Sin­nadu­rai: Ich spüre immer wieder diese innere Stärke und frage mich staunend, woher sie wohl kommt. Als Juristin bin ich oft mit trau­ri­gen Schick­salen, mit Wut und Hass kon­fron­tiert – vor allem von der älteren Gen­er­a­tion der Tamilen. Aber ich sage mir, ich bin dafür nicht ver­ant­wortlich, auch nicht für die Gewalt in Sri Lan­ka. Und ich kann nichts dafür, dass ich in der Schweiz geboren wurde und hier in Sicher­heit lebe.
Redak­tion: Wir haben über Krieg gespro­ chen. Aber auch andere Ereignisse kön­nen Wut aus­lösen, zum Beispiel schwere Krank­ heit­en. Sie, Frau Uslu­oglu, haben als Onko­ login bes­timmt Erfahrung in diesem Bere­ich
Uslu­oglu: In gewiss­er Weise schon, ja. Bei ein­er Kreb­skrankheit wird unser Fun­da­ment erschüt­tert. Es geht um Leben und Tod. Um grund­sät­zliche Fra­gen wie: Wofür lebe ich eigentlich? Was ist wirk­lich wichtig im Leben? All das, was wir im All­t­ag vergessen haben, weil wir dacht­en, das Leben gehe ewig. Dort hole ich die Men­schen gerne ab. Es gibt ver­schiedene For­men, sie zu unter­stützen: Chemother­a­pie, Psy­chother­a­pie, Phys­io­ther­a­pie und Gespräche. Ich ergänze dieses Ange­bot mit dem Drehtanz der Sufis. Dabei kommt alles, nicht nur der Kör­p­er, in Bewe­gung. Und das hat eine starke Wirkung.Redak­tion: Was geschieht beim Drehtanz?Uslu­oglu: Beim Drehen kommt man zuallererst mit dem Kör­p­er in Kon­takt und dann, fast automa­tisch, mit dem Geisti­gen. Und wenn man das spürt, wer­den alle Fra­gen aufgelöst.Szabo: Mir hat die Spir­i­tu­al­ität auch geholfen, allerd­ings die christliche. Mit dem Gefäng­nis­seel­sorg­er macht­en wir eine Art Med­i­ta­tion. Und im Gebet hat er mich sym­bol­isch ans Kreuz genagelt wie einst die Ver­brech­er neben Jesus. Zu wis­sen, dass Jesus alle Schuld auf sich nimmt, hat mir enorm geholfen. Da spürte ich auf ein­mal wieder Kraft in mir. Auch spir­ituelle Kraft. Unglaublich.Redak­tion: Frau Bun­di, welche Rolle spielt die Reli­gion bei der Polizeiar­beit?Bun­di: Die meis­ten Polizis­ten sind Chris­ten. Nach und nach kom­men auch andere Reli­gion­szuge­hörige dazu. Bei der Arbeit auf der Strasse stelle ich einen kul­turellen Wan­del fest. Da musste ich mir von einem Mus­lim auch schon anhören: Du bist ja nur eine Frau. Auch der Umgang mit Verdächtigten ist manch­mal heikel. Es kann beispiel­sweise vorkom­men, dass ein Verdächtiger sich nackt ausziehen muss, weil er gefährliche Gegen­stände auf sich tra­gen kön­nte. Das kann sehr erniedri­gend sein und Wut und Hass aus­lösen. Manch­mal muss man das aber durch­set­zen.Redak­tion: Hat Reli­gion die Kraft die Welt zu verän­dern?Erlich: Die Reli­gion hat einen sehr grossen Ein­fluss, aber die Men­schen müssen sie ernst nehmen. Ich finde: Die Reli­gion muss lauter wer­den und nicht Ruhe geben, bis etwas in Bewe­gung kommt. Es reicht nicht, von 9 bis 10 Uhr einen Gottes­di­enst abzuhal­ten. Reli­gion muss sich aktiv mehr Gehör ver­schaf­fen.Redak­tion: Wie ist das für Sie als Holo­caust-Über­leben­der, wenn – wie seit einiger Zeit festzustellen ist – anti­semi­tis­che Äusserun­gen zunehmen? Wenn in Frankre­ich beispiel­sweise Juden gebeten wer­den, ihre Kip­pa nicht zu tra­gen?Erlich: Das ist tat­säch­lich unglaublich und unbe­grei­flich. Das muss bekämpft wer­den durch Aufk­lärung. Der zweite Weltkrieg endete mit ein­er Atom­bombe. Ich fürchte, ein drit­ter Weltkrieg würde mit ein­er solchen begin­nen. Bewahre uns Gott davor, denn das wäre das Ende unseres Plan­eten!Redak­tion: Was haben Ihre Erfahrun­gen mit Ihrem Glauben gemacht? Hel­mut Schmidt hat ein­mal gesagt: «Die Chris­ten­heit, der Glaube, hört bei Auschwitz auf.» Ist das für Sie ähn­lich?Erlich: Nein, der Glaube hört nie auf. Die Men­schen sind ständig Schwankun­gen unter­wor­fen, Pro­pa­gan­da, was weiss ich. Aber die Reli­gion ist unverän­der­lich, sie predigt das Gute. Was haben die Juden ver­schuldet, dass man sie so has­st? Der Her­rgott hat die Welt doch für alle Men­schen geschaf­fen.Bun­di: Und man hat nichts daraus gel­ernt! Wie viele Genozid­ver­brechen passieren heute, im 21. Jahrhun­dert!Erlich: Sie haben Recht. Doch was soll man machen? Wenn Reli­gion schon nicht helfen kann, was dann?Rader­ma­ch­er: Alle Reli­gio­nen wollen eigentlich im Ursprung das Gle­iche: Liebe und Frieden. Doch vieles wird falsch gedeutet und missver­standen. Deshalb erleben wir genau das Gegen­teil davon. Aus mein­er Erfahrung als Beglei­t­erin von Men­schen, die ihren Weg suchen, ist eine der grössten Ver­let­zun­gen die, wenn man als Kind nicht wahrgenom­men wird; wenn man nicht als das gese­hen wird, was man ist und immer mehr ein falsches Selb­st auf­baut.Szabo: Ich gebe Ihnen Recht! Alles beruht auf Kränkun­gen und Ver­let­zun­gen. Das habe ich in den lan­gen Jahren im Gefäng­nis gel­ernt. Aber dafür fehlt meist das Bewusst­sein. Man gibt instink­tiv immer den anderen die Schuld für die eige­nen Ver­fehlun­gen.Sin­nadu­rai: Und ver­passt dabei, Eigen­ver­ant­wor­tung zu übernehmen. Das ist die typ­is­che Opfer­rolle.Redak­tion: Frau Rader­ma­ch­er, Sie haben gesagt, wenn die ganze Welt so medi­tieren würde, wie Sie es gel­ernt haben, gäbe es keinen Krieg mehr. Ist das nicht etwas naiv?Rader­ma­ch­er: Als Kind war ich immer fasziniert vom Zaubern. Ich glaube, das hat meinen Weg bee­in­flusst, meinen Weg zum Heilen und in die Energiewelt. Denn dort zaubert man: Was da genau geschieht, weiss man nicht. Aber es hat eine Wirkung, und die ist sicht­bar. Wenn zum Beispiel an ein­er Kreuzung, wo immer Unglücke passieren, mehrere Leute medi­tieren, dann gibt es mess­bar weniger Unfälle. Das ist doch Zauberei. Und mit Zauberei meine ich, dass es Heilungsmeth­o­d­en gibt, die man wed­er kon­trol­lieren noch erk­lären kann.Sin­nadu­rai: Wenn ich ehrlich bin, Frau Rader­ma­ch­er, finde ich das etwas naiv. Wed­er Ihr Zauber noch die Reli­gion helfen für den Welt­frieden!Nam­ling: Da stimme ich Ihnen zu. Seit Jahrtausenden passieren im Namen der Reli­gion die schlimm­sten Sachen. Im Namen jed­er Reli­gion – auch der meinen, dem Bud­dhis­mus. Ich glaube, es geht darum einzuse­hen: Jed­er Men­sch will glück­lich sein. Nie­mand will lei­den. Das hat nichts mit Reli­gion zu tun, das ist etwas grundle­gend Men­schlich­es. Religiöse Ober­häupter müssen anerken­nen und sich dafür ein­set­zen, dass keine Reli­gion bess­er ist als die andere. Deshalb müssen Mis­sion­ierun­gen gestoppt wer­den. Sie lösen Angst und Gewalt aus. Es ist wichtig, dass wir jede Reli­gion akzep­tieren, nicht nur im Mund, son­dern im Herzen.Erlich: Genau daran scheit­ert es meis­tens.Rader­ma­ch­er: Achtung! All­ge­meine Forderun­gen brin­gen wenig. Wenn man über­haupt Verän­derung her­vor­brin­gen kann, dann nur da, wo man lebt und arbeit­et.Straub: Der Frieden fängt in jedem selb­st an; wenn jed­er ver­sucht, fried­sam zu leben. Das fängt bere­its in der Fam­i­lie an. Wenn dort Stre­it und Gewalt zum All­t­ag gehört, dann…Nam­ling: Ja, das ist vielle­icht das Wichtig­ste über­haupt für einen respek­tvollen Umgang mit anderen Men­schen: ein liebevolles Eltern­haus.Uslu­oglu: Für mich gibt es keine Verän­derung, solange alles nur im Kopf bleibt. Nehmen wir das Beispiel des Vatikans, der den Anti­semitismus «ver­bi­eten» will, das ist doch…Nam­ling: …Das ist genau das Prob­lem. Es ist eine Anord­nung von oben! Es muss von unten kom­men…Uslu­oglu: Ja, aber es ändert sich nichts, wenn die Ein­sicht nur im Kopf stat­tfind­et. Deswe­gen brauchen wir auch die Med­i­ta­tion. In der Med­i­ta­tion kom­men wir in das Erleb­nis. Reli­gion wurde immer miss­braucht, um Dog­men zu kreieren. Doch die Men­schen heutzu­tage wollen keine Dog­men mehr. Sie wollen Frei­heit. Reli­gion muss Men­schen frei machen und nicht einsper­ren. Wenn wir einges­per­rt wer­den, entste­ht Wut.Seit einein­halb Stun­den disku­tieren die Gäste. Laa­van­ja Sinadu­rai muss los. Sie ste­ht auf und ver­ab­schiedet sich.Redak­tion: In seinem let­zten Buch hat der Dalai Lama for­muliert, Ethik sei wichtiger als Reli­gion.Nam­ling: Wer hat Reli­gion gemacht? Die Men­schen. Was ist die Grund­lage von allen Men­schen? Das ist die Ethik. Bevor man Reli­gion ver­ste­ht, muss man die Ethik ver­ste­hen. Love is the ground of all reli­gions.Bun­di: Lei­der haben wir aber das Prob­lem, dass viele Men­schen heute Reli­gion mit einem Beigeschmack wahrnehmen. Wenn ich in meinen Umfeld von Ethik spreche, dann ist das okay. Wenn ich aber von Reli­gion spreche, dann schauen mich die Leute mit grossen Augen an und sagen: Aus welch­er Sek­te kommst du denn?Erlich: Man muss die Men­schen dazu brin­gen, an Fre­und­schaft und Brüder­lichkeit zu glauben, nicht nur davon zu träu­men!Bun­di: Sie kön­nen den Leuten das nicht hinein­häm­mern! Sie müssen das leben.Straub: Aber wir haben auch so viele Stereo­type. Ger­ade gegen Juden, selb­st heute noch. Für mich als katholis­che The­olo­gin ist klar, das Juden­tum ist nicht zu tren­nen vom Chris­ten­tum. Trotz­dem hal­ten sich viele Vorurteile, etwa Juden seien geldgierig. Stereo­typen, die schon Hitler benutzt hat­te.Erlich: Das sind alles Lügen, die aufge­baut wur­den, um die Juden zu bekämpfen. Ghet­tos, Inqui­si­tion, Auss­chwitz; all das werde ich nie ver­ste­hen!Straub: Genau hier liegt das Prob­lem. Bilder, die irgend­wann ein­mal von den Reli­gio­nen gemacht wur­den, sind heute noch da, ohne dass man ihren Ursprung ken­nt. So wer­den Mus­lime heute schnell als Ter­ror­is­ten beze­ich­net. Ich erlebe das sog­ar unter Meines­gle­ichen: Selb­st unter The­olo­gen gibt es immer wieder Vorurteile gegenüber anderen Reli­gio­nen und Men­schen. Da frage ich mich: Haben wir ein Recht, über andere zu urteilen?Rader­ma­ch­er: Diese Prä­gung geschieht bere­its im Kinde­salter. Ich kann mich gut erin­nern, ich war noch ganz klein, als meine Brüder von einem Tag auf den andern nicht mehr mit Judenkindern spie­len durften. Kein­er hat ver­standen, warum. Das wurde ein­fach befohlen.Nam­ling: Die Chi­ne­sen hat­ten im Tibet genau die gle­iche Tak­tik. Schreck­lich.Bro­nis­law Erlich ste­ht auf, sein Taxi wartet. Er zieht sein Sakko an und nimmt den Geh­stock. Erlich: Nur noch dies: Gott ist wichtig, aber die Men­schen sind genau so wichtig. Würde Jesus heute vom Kreuz herun­ter­steigen, würde er sich die Augen reiben und sagen: «Gopfried­stutz! Was habt ihr mit mein­er Lehre gemacht!» Viele Men­schen sind wahrschein­lich nicht reif für das, was der Her­rgott uns sagt.Er sagt auf Wieder­se­hen und ver­lässt die Tisch­runde. Auch Jacque­line Straub muss los und ver­ab­schiedet sich. Rader­ma­ch­er: Ich finde nach wie vor, wenn man von der ganzen Welt redet, ver­passt man die Gele­gen­heit, auf sich sel­ber zu schauen. Man kann nur da etwas bewirken, wo man sel­ber ist. Und je mehr Men­schen das begreifen, desto mehr Frieden kommt in die Welt.Szabo: Mein Mot­to ist: Geh mit jeman­dem so um, wie du willst, dass mit dir umge­gan­gen wird.Bun­di: Die Welt ist nicht geschaf­fen wor­den, um in Frieden zu leben. Son­st hät­ten wir ja diese Prü­fun­gen nicht, die Jesus uns aufer­legt.Uslu­oglu: Ich finde, die Medi­en spie­len eine wichtige Rolle in dieser Diskus­sion. Sex and Crime, das verkauft sich gut. Daneben passiert aber auch sehr viel Gutes auf der Welt. Nur, das kommt nicht in die Schlagzeilen. Deshalb bekom­men die Men­schen vor dem eige­nen Nach­barn Angst. Weil man nur das Böse sieht. Oft rate ich meinen Patien­ten, den Fernse­her auszuschal­ten.Redak­tion: Wie gehen Sie per­sön­lich damit um?Uslu­oglu: Mein Weg zu leben, ist, den Kör­p­er und die Gefüh­le wahrzunehmen. Wir sind Men­schen mit Liebe und Mit­ge­fühl. Klar, wir müssen auch Gren­zen set­zen, um uns zu schützen.Nam­ling: Ja, aber nicht Mauern bauen. Und damit meine ich nicht nur physis­che Mauern, wie Trump zwis­chen Mexiko und den USA erricht­en will, son­dern auch die Mauern im Kopf. Trumps Mauer zu Mexiko ist über­wind­bar, nicht aber die Mauer, welche die Reli­gion im Kopf errichtet – die ist beina­he unz­er­stör­bar. Wir müssen her­aus­find­en, wie wir diese Mauer ein­reis­sen kön­nen.Redak­tion: Zwei Men­schen in unser­er Runde hier haben diese geisti­gen Mauern durch­brochen. Herr Erlich, indem er seinen Fein­den ­Zigaret­ten schenk­te. Und Sie, Herr Szabo, indem Sie den Weg der Ver­söh­nung sucht­en.Szabo: Ja, das kostete viel Kraft. Aber nichts in meinem Leben hat sich mehr gelohnt als das.Bun­di: Solche Mauern dür­fen gar nicht erst entste­hen. Ich habe einen zehn­jähri­gen Sohn. Für mich ist wichtig, dass wir als Eltern unseren Kindern Werte mit­geben und eine Ethik ver­mit­teln, die Türen öff­nen. Es ist, als ob man einen Stein ins Wass­er wirft, der seine Kreise zieht.Die Redak­toren bedanken sich bei ihren Gästen, die sich nach und nach ver­ab­schieden. Eri­ka Rader­ma­ch­er reicht Loten Nam­ling die Hand. Er schaut sie an und meint: «Machen Sie weit­er mit der ­Zauberei». Bei­de lachen. Auch Nurgül Uslu­oglu will auf­brechen. Doch sie kommt mit Loten Nam­ling ins Gespräch, set­zt sich wieder an den Tisch. Nach etwa zehn Minuten bit­tet Loten Nam­ling um Ruhe und kündigt ein tibetis­ches Lied an. Er lei­de zwar an ein­er Kehlkopfentzün­dung, sagt er, und der Arzt habe ihm das Sin­gen unter­sagt. Trotz­dem möchte er eines der Lieder aus den Bergen sein­er Heimat vor­tra­gen. Er singt und seine kräftige Stimme durch­dringt den Saal. Nurgül Uslu­oglu ste­ht auf, zieht die Schuhe aus, ver­beugt sich tief und begin­nt einem Drehtanz. Rudolf Szabo schliesst die Augen und hört zu. Text: Christa Amstutz, Marie-Chris­tine Andres, Han­nah Ein­haus, Katha­ri­na Kilchen­mann, Jürg Meien­berg, Nico­la MohlerDieses Gespräch erschien am 26. Okto­ber 2017 als Beilage von Hor­i­zonte als «Dossier zur Woche der Reli­gio­nen» und als  Beilage weit­er­er kirch­lich­er Pub­lika­tio­nen unter dem Namen «zVis­ite». www.zvisite.ch 
Marie-Christine Andres Schürch
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