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Vom Kirchenprojekt zum internationalen Netzwerk
«Unser Geld soll Gutes tun und für globale Gerechtigkeit sorgen!», dachten sich junge Mitglieder der Kirchen vor 50 Jahren.
So kam es zur Gründung von Oikocredit, einer Genossenschaft, die weltweit Menschen mit geringem Einkommen durch Investitionen unterstützt. Wir schauen zurück auf die Entstehung der Idee, auf die Werte, die dahinterstehen, erklären, wie das System funktioniert und nehmen Kritik daran in den Blick. Antworten auf unsere Fragen bekommen wir von Vanessa Morandeira, Mediensprecherin von Oikocredit für die Nordwestschweiz.
Können Sie uns anhand eines Beispiels erklären, wie Oikocredit funktioniert?
Vanessa Morandeira: Gehen wir von folgendem Szenario aus: Ich als Privatperson habe 1000 Franken. Statt sie auf ein Sparkonto zu legen, entscheide ich mich dazu, eine Beteiligung bei Oikocredit zu kaufen. Oikocredit verwendet das Geld dann für ein Projekt in einem seiner Fokusländer. Konkret geht das Geld beispielsweise an eine Mikrofinanzinstitution in Guatemala, die kleine Kredite an einkommensschwache Menschen vergibt. Das kann eine Frau sein, wie Clara Ofelia Archila, die ihren eigenen Laden eröffnen wollte und dafür eine Anfangsinvestition von wenigen Hundert Franken gebraucht hat. Über die Jahre hat sich diese Investition ins Land multipliziert, weil sie ihr Geschäft ausweiten und Mitarbeitende einstellen konnte.
Oikocreditwurde vor 50 Jahren von Kirchen als ökumenische Genossenschaft gegründet. Wie entstand die Idee, und wieso waren es Kirchen, die das Projekt initiiert haben?
Kirchen und kirchennahe Institutionen spielten schon immer eine entscheidende Rolle im Bereich der Entwicklungsfinanzierung. Die Idee entstand 1968 im Kontext der internationalen Friedensbewegung. Junge, engagierte Kirchenmitglieder waren der Überzeugung, dass ein Weg geschaffen werden muss, um das Vermögen ihrer Kirchen für Menschen einzusetzen und nicht gegen sie. Sie wollten verhindern, dass das Vermögen ihrer Kirchen Zwecke wie den Vietnamkrieg oder die Apartheit in Südafrika finanziert. In diesem Kontext entstand die Idee, Geld an Personen oder Organisationen zu vergeben, die ansonsten vom globalen Finanzsystem ausgeschlossen waren und nur schwer an Kredit kamen.
So funktioniert Oikokredit
Oikocredit ist eine Genossenschaft, die in 33 Ländern im Globalen Süden mit niedrigem oder mittlerem Einkommen tätig ist. Im Fokus stehen Projekte, die das Leben der Menschen vor Ort verbessern sollen. Oikocredit vergibt Kredite an Partnerorganisationen oder beteiligt sich mit Eigenkapital an Sozialunternehmen. Auch institutionelle Anlegerinnen und Anleger engagieren sich – vielfach mit dem Ziel, Kapital wirkungsorientiert und transparent einzusetzen. Finanziert werden diese Vorhaben durch rund 46 000 Anlegerinnen und Anleger, mehrheitlich aus Europa. Seit 2023 ist der Erwerb von Genossenschaftsanteilen auch für Privatpersonen möglich, etwa in Schweizer Franken.

Können Sie das Konzept noch etwas vertiefen?
Der Grundpfeiler dieser Initiative waren und sind die ökumenischen Werte Frieden, Solidarität und Bewahrung der Schöpfung. Es geht um Gerechtigkeit und darum, dass letztlich alle Menschen ein Leben in Würde führen können. Dabei spielt der Gedanke der Solidarität eine wichtige Rolle. Wir glauben: Wenn wir die Situation der ganzen Gemeinschaft verbessern, hat das am Ende auch positive Auswirkungen für jede und jeden Einzelnen.
Welche Rolle spielen die lokalen Partnerinnen und Partner in der Weiterentwicklung der Oikocredit-Strategie?
Sie sind für uns zentral. Deshalb bezeichnen wir sie auch als Partner und nicht als Kunden. Es geht um Zusammenarbeit. In der Ausrichtung unserer Arbeit und in der Entwicklung von Angeboten sind sie enorm wichtig, weil sie vor Ort sind, die Situation kennen und wissen, was die Menschen brauchen. Wir könnten uns nicht vorstellen, unsere Arbeit anders zu machen als über diese Zusammenarbeit mit den Partnerorganisationen.
Oikocredit vergibt nach eigenen Angaben Kredite an «Unternehmen, die wirtschaftlich benachteiligte Menschen unterstützen». Wie wird das überprüft und sichergestellt?
Das entscheidende Kriterium für die Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten ist: Sie müssen unsere sozialen Werte teilen. Wir arbeiten beispielweise nicht mit Organisationen zusammen, die rein gewinnorientiert sind. Nicht, weil wir das verurteilen, sondern weil das nicht unser Geschäftsmodell ist. Ist diese Hürde genommen, arbeiten wir mit sogenannten ESG Score Cards. Sie sind ein Instrument, mit dem Unternehmen anhand dreier Kriterien bewertet werden: Ökologie, Soziales und Unternehmensführung. Dabei wird geprüft, ob die Organisation umweltfreundlich wirtschaftet, gute Arbeitsbedingungen herrschen oder welche Gremien und Entscheidungsgruppen vorhanden sind. Aus den vergebenen Punkten ergibt sich ein Score für den jeweiligen eventuellen Partner.
Können die Organisationen Defizite in einem Bereich durch einen anderen ausgleichen, also beispielweise sehr umweltschädlich sein, wenn sie dafür die Mitarbeitenden gut behandeln?
Für uns geht es eher darum, in welchem Bereich die Organisationen tätig sind, und so legen wir mehr Wert auf das eine oder andere. Handelt es sich um eine Agrarkooperative, dann sind natürlich ökologische Kriterien matchentscheidend. Wenn es um eine Organisation im Bereich Mikrofinanz geht, dann sind für uns das Soziale und die Unternehmensführung wichtig. Allerdings gibt es Wertgrenzen eines Grundstocks, die nicht unterschritten werden dürfen.
«Solidarität statt Almosen» ist die Überschrift zur Jubiläumskommunikation. Können Sie das nochmals genauer erklären?
Das bedeutet: Wir vergeben keine Spenden. Wir möchten unsere Partner und Endkreditnehmerinnen dazu ermächtigen, am globalen Finanzmarkt teilzuhaben. Es gibt berechtigte andere Situationen, wie zum Beispiel Katastrophenhilfe, in denen Spenden sinnvoll sind. Wir streben eine nachhaltige Entwicklung an, die aus einer Anfangszündung entstehen kann. Punktuelle Spenden lösen unserer Meinung nach akute Probleme, aber sind keine langfristigen Lösungen.
Trotzdem wurde im Jahr 2022 von NGOs Beschwerde gegen Oikocredit eingereicht. Der Vorwurf: Es wurde weiter in kambodschanische Mikrofinanzinstitute investiert, obwohl Menschenrechtsgruppen und sogar eine von Oikocredit selbst unterstützte Studie gezeigt haben, dass mehr als 160 000 Menschen ihr Land verloren haben, weil sie es für Kredite als Sicherheit hinterlegen mussten, die Schulden aber nicht zurückzahlen konnten. Wie reagiert Oikocredit auf diese Kritik?
Wir sind seit 2003 in Kambodscha präsent. Eines der grossen Probleme im Land ist der übersättigte Mikrofinanzmarkt. Anfang der 2000er-Jahre kamen viele Akteure, gerade aus dem Bereich Entwicklungshilfe, die helfen wollten, das Land aufzubauen. Doch bald wurde der Markt von kommerziellen Anbietern als lukratives Geschäft entdeckt. Inzwischen sind auch Kredithaie über den informellen Sektor mit eingestiegen. Seit 2022 sind Mikrofinanzinstitutionen verpflichtet, Kredite unverzüglich an dieses Kreditbüro zu melden. Da informelle Geldverleiher allerdings nicht in dieses System eingebunden sind, ist es bis heute fast unmöglich, umfassend abzuklären, wer wie viele Kredite aufgenommen hat und gerade abbezahlt. Für uns war die Frage, wie wir auf diese veränderten Marktbedingungen reagieren sollten, schwierig. Einerseits haben wir uns über die Jahre nach und nach zurückgezogen. Aktuell arbeiten wir noch mit fünf Partnern in Kambodscha zusammen, mit denen wir laufende Verträge haben. Andererseits kann man den Markt nicht einfach den Finanzhaien überlassen. Man trägt allerdings mit seiner Präsenz auch zur Übersättigung des Marktes bei. Seit wir in Kambodscha aktiv sind, haben wir sehr strikte Anforderungen und Reglemente, was die Sorgfaltspflicht und den Kundenschutz betrifft, die für alle unsere Partner verbindlich sind.
Was die Beschwerden betrifft, war uns von Anfang an wichtig, den Dialog ernst zu nehmen. Wir haben den Konsultationsprozess, der von der Nationalen Kontaktstelle (NKS) der OECD angeboten wurde, begrüsst, sind offen darauf eingegangen und haben uns über längere Zeit mit den involvierten NGOs ausgetauscht. Dieser Dialog ist inzwischen abgeschlossen. Die abschliessende Erklärung der NKS, in der sie alle Erkenntnisse und Ergebnisse zusammenfasst, steht noch aus.
Wenn Sie heute Menschen für die Idee der ethischen Geldanlage gewinnen möchten – was sagen Sie ihnen, warum es sich lohnt?
Weil Geld immer in irgendeiner Form eine Wirkung erzielt. Nichts zu tun bedeutet nicht, dass man damit nichts bewirkt. Geld auf dem Sparkonto wird von den Banken auch weiterverliehen. Unter Umständen finanziert man damit Waffen oder Kinderarbeit. Man weiss es nicht. Was ethische Geldanlagen wie Oikocredit bieten, ist die Transparenz, dass die Anlegerinnen und Anleger wissen, wohin ihr Geld geht. Ich glaube, junge Leute sind heutzutage unheimlich interessiert und engagiert. Dass Oikocredit vermehrt in klimarelevante Projekte und Initiativen investieren möchte, freut mich. Das ist, zurecht, die Sorge unserer Zeit, und darum sind wir genauso relevant wie bei unserer Gründung vor 50 Jahren.

