Vom Hilferuf an Gott zum Reden über Solidarität
Vom Hilferuf an Gott zum Reden über Solidarität
Seit dem 19. Jahrhundert wird der Bettag politischer und weniger religiös
Die ins MitÂteÂlalÂter zurückÂreÂichende TraÂdiÂtion von christlichen BetÂtaÂgen wurde im Zeichen des ZusamÂmenwachÂsens der Schweiz im 19. JahrhunÂdert neu aufgeÂgrifÂfÂen. In letÂzter Zeit verÂstärken sich poliÂtisÂche EleÂmente, der religiöse Bezug wird schwächÂer.Das BedürfÂnis, einzelne Tage dem gemeinÂschaftlichen Beten und Busse tun zu widÂmen, hat sein VorÂbild bei den Israeliten. Viele LänÂder und VölkÂer kenÂnen BetÂtage. In der Schweiz ist diese christliche PraxÂis, angeÂordÂnet von der kirchÂlichen oder weltlichen Obrigkeit, seit dem späten MitÂteÂlalÂter bezeugt. So konÂnte eine GemeinÂschaft in ZeitÂen von Not und Angst ihre BitÂten vor Gott brinÂgen.Die EntwickÂlung des BetÂtags in der EidgenossenÂschaft hat Eva-Maria Faber, ProÂfesÂsorin an der TheÂolÂoÂgisÂchen Hochschule Chur, detailÂliert dargestellt in ihrem Beitrag «SolÂiÂdarisch beten» für den von ihr und Daniel Kosch herÂausÂgegebeÂnen SamÂmelÂband
«Dem BetÂtag eine ZukunÂft bereÂitÂen» (Zürich, 2017). Ältestes überÂliefertes Beispiel eines BetÂtagsÂgeÂbets aus der Schweiz ist das «Grosse Gebet der Eidgenossen» aus dem Jahr 1517 (vorgestellt in
«Kirche heute» Nr. 38/2017). Damals waren BetÂtage, an denen meist auch das FasÂten geboten war, auf die einzelÂnen Orte und KonÂfesÂsioÂnen beschränkt. KollekÂten für Glaubensgenossen in Not konÂnten dazugeÂhören.
Kantons- und konfessionsübergreifend
1619 führte Zürich nach einem VorÂbild aus den NiederÂlanÂden einen Fast- und BetÂtag durch, der laut dem Artikel «BetÂtag» von VicÂtor Conzemius im HisÂtorischen Lexikon der Schweiz der erste gemeinÂsame BetÂtag der evanÂgeÂlisÂchen Orte war (was Eva-Maria Faber in ihrem Beitrag nicht ausÂdrückÂlich bestätigt). SichÂer fand am 4. April 1639 ein von mehreren evanÂgeÂlisÂchen Orten, darunter auch Basel, beganÂgener gemeinÂsamer Fast- und BetÂtag statt, beschlossen aus Dank für die VerÂschoÂnung in den Gefahren des DreisÂsigjähriÂgen Kriegs von der Tagsatzung der evanÂgeÂlisÂchen Orte am 15. März 1639 in Aarau. Dieser gemeinÂsame Fast- und BetÂtag der Reformierten fand in der Folge jedes Jahr statt. Das jewÂeilige Datum wurde jährlich von der evanÂgeÂlisÂchen Tagsatzung beschlossen, ab 1713 war es immer im SepÂtemÂber. Am JahreswechÂsel 1643/44 beschloss auch die KonÂferenz der katholisÂchen Orte, AndachtÂen und BetÂtage anzuordÂnen, «weil durch die Gnade Gottes das VaterÂland bis dahin in Ruhe, Frieden und WohlÂstand erhalÂten worÂden ist». Schon früher, nachÂweisÂlich seit dem 16. JahrhunÂdert, hatÂten die KathoÂliken gemeinÂsame Gebete abgeÂhalÂten, die unter BeteiliÂgung kirchÂlichÂer und weltlichÂer Instanzen mit grossem organÂisatorischem Aufwand in mehreren katholisÂchen Orten gleÂichzeitÂig durchgeÂführt wurÂden, wie Eva-Maria Faber in «SolÂiÂdarisch beten» schreibt.Zu einÂer ersten gesamteiÂdÂgenösÂsisÂchen BetÂtagsÂfeier der reformierten und der katholisÂchen KanÂtone kam es auf eine AnreÂgung Berns am 16. März 1794. HinÂterÂgrund war die ErschütÂterung durch die vom revÂoÂluÂtionären FrankreÂich ausÂgeÂhenÂden VeränÂderunÂgen und BedroÂhunÂgen. Im Juli 1796 beschloss dann die Tagsatzung, den BetÂtag «zum Lob und Preis des HöchÂsten für den genosseÂnen Frieden und Ruhe» als allÂgeÂmeine eidÂgenösÂsisÂche FesÂtÂfeier in sämtlichen StänÂden gleÂichzeitÂig zu begeÂhen, erstÂmals am 8. SepÂtemÂber 1796.
Im Dienst der nationalen Einheit
Der BetÂtagsÂgedanke überÂlebte alle poliÂtisÂchen UmwälzunÂgen nach 1798. 1831 stellte der konÂfesÂsionell gemisÂchte KanÂton AarÂgau an der Tagsatzung den Antrag zu einem eidÂgenösÂsisÂchen Dank‑, Buss- und BetÂtag. «Es wäre erhebend, das gesamte Volk der Eidgenossen wenigÂstens ein Mal des Jahres zur gleÂichen Stunde im Gebet zu Gott und für das VaterÂland vereÂinigt zu sehen», heisst es im ProÂtokoll der Tagsatzung. Dafür spreche, dass «wir alle ja ChrisÂten sind».So wurde ein jährlichÂer, gemeinÂsamer Dank‑, Buss- und BetÂtag von der Tagsatzung am 1. August 1832 auf den dritÂten SonÂntag im SepÂtemÂber festÂgelegt. Dieses Datum gilt noch heute. Aus dem Gebet in NotzeitÂen wurde ein EleÂment des ZusamÂmenÂhalts über KanÂtons- und KonÂfesÂsionÂsÂgrenÂzen hinÂweg. Andreas Kley, ProÂfesÂsor für VerÂfasÂsungsÂgeschichte an der UniÂverÂsität Zürich, schreibt dazu in seinem Beitrag für den SamÂmelÂband «Dem BetÂtag eine ZukunÂft bereÂitÂen»: «Das 19. JahrhunÂdert fand den BetÂtag vor, und die BestreÂbunÂgen zur Fundierung des NationÂalÂstaates verÂsuchtÂen, ihn als einen gesamtschweizÂerischen Tag zu gestalÂten.»
«Regierungsrätliche Predigt»
ForÂmen und Inhalte des Feierns am BetÂtag blieben kanÂtonÂal unterÂschiedlich. So verÂfassten einige KanÂtonÂsregierunÂgen oder die LanÂdeskirchen sogeÂnanÂnte BetÂtagsÂmanÂdate, wie noch heute die RegierunÂgen von Basel-Stadt und Basel-LandÂschaft. Andreas Kley bezeÂichÂnet das BetÂtagsÂmanÂdat als «regierungsrätliche Predigt», die «zenÂtrale Gehalte des christlichen Glaubens und der Busse darÂlegt». 1871 regte wiederum der KanÂton AarÂgau an, der BunÂdesrat solle jewÂeils ein BetÂtagsÂmanÂdat für das ganze Land erlassen. Der Vorstoss scheitÂerte, nicht alle KanÂtone waren dafür.
TrotzÂdem verÂfasste der BunÂdesrat in einem Fall ein eigenes BetÂtagsÂmanÂdat, und zwar für den 15. SepÂtemÂber 1940. RechtÂshisÂtorikÂer Kley nenÂnt es eine «poliÂtisÂche SonÂntagspredigt» mit vieÂlen BezüÂgen zur Bibel. Nach der milÂitärischen NiederÂlage FrankreÂichs gegen NazideutschÂland im SomÂmer 1940 fühlte sich die Schweiz in höchÂster Gefahr. Das bunÂdesrätliche BetÂtagsÂmanÂdat von 1940 blieb eine AusÂnahme, die sich nicht wiederÂholte.
Rufe nach einem autofreien Bettag
Ab 1977 gab es in der SchweizÂer PoliÂtik mehrere Anläufe für eine Anzahl autÂofreier SonÂntage pro Jahr. Als MinÂiÂmalÂvariÂante wurde ein autÂofreier BetÂtag vorgeschlaÂgen. KeinÂer dieser Vorstösse erhielt jedoch im ParÂlaÂment oder in einÂer VolksabÂstimÂmung eine Mehrheit. Die Idee eines autÂofreien BetÂtags blieb seiÂther im Raum. Mehrere autÂofreie SonÂntage hatÂte der BunÂdesrat 1956 und 1973 aus wirtschaftlichen GrünÂden angeÂordÂnet.
Bundesratsreden zu Bettagen
In den letÂzten JahrzehnÂten haben BunÂdesräte den BetÂtag als GeleÂgenÂheit für poliÂtisÂche Reden entÂdeckt. Otto Stich sprach zur 700-Jahr-Feier der EidgenossenÂschaft 1991 am BetÂtag in Obwalden, der Heimat von Niklaus von Flüe. 2001 rief Moritz LeuenÂbergÂer zum EinÂsatz «für eine gerechte und soziale Welt» auf. MicheÂline Calmy-Rey warb 2004 in Arlesheim für die «KohäÂsionÂsÂmilÂliarde» zugunÂsten der strukÂturschwachen RegioÂnen der EU. 2005 las Samuel Schmid die PräamÂbel der BunÂdesverÂfasÂsung vor und betonte SolÂiÂdarÂität und Gemeinsinn. 2007 empÂfahl Calmy-Rey die AufÂsÂtockÂung der EntwickÂlungÂshilÂfe gegen Armut und Hunger. Doris Leuthard riet 2011 zu «souÂveränÂer SelbÂstÂbeschränkung» und zu nachÂhaltigem HanÂdeln.Nach der EinÂschätzung von RechtÂsproÂfesÂsor Andreas Kley ist der BetÂtag «ein Anlass geworÂden, an dem die BunÂdesräte unter BezugÂnahme auf Geschichte und reliÂgionÂsnaÂhe Begriffe für poliÂtisÂche Anliegen oder die Stärkung der SolÂiÂdarÂität einÂtreten». Die VerÂsuche, die BedeuÂtung des BetÂtags zu steigern, hätÂten auch damit zu tun, dass die traÂdiÂtionellen LanÂdeskirchen und die von ihnen vertreteÂnen Anliegen an Boden verÂlieren würÂden. Nüchtern hält Kley fest: «Der BetÂtag war seit 1832 ein christlich-interkonÂfesÂsioneller GedenkÂtag. Er erhält einen anderen CharakÂter, wenn er die gesellschaftliche SolÂiÂdarÂität stärken und ZweckÂen der Regierung dienen soll.»
ChrisÂtÂian von Arx