Unter­wegs zu Gott und zu sich selber

Unter­wegs zu Gott und zu sich selber

  • Jeweils zur «Woche der Reli­gio­nen» im Novem­ber erscheint die inter­re­li­giö­se Zei­tung «zVi­si­te».
  • Die aktu­el­le Aus­ga­be wid­met sich dem The­ma «Bewe­gung».
  • Im gros­sen Inter­view spre­chen ein Mus­lim, eine Hin­du und zwei Chri­sten über die Erfah­run­gen ihrer Pilgerreisen. 

Ob nach Mek­ka, Madras, Rom oder Sant­ia­go de Com­po­ste­la – wer sich auf den Weg macht, ver­än­dert sich. Lars Kott­mann, Burim Luz­ha, Mari­et­te Mumen­tha­ler und Lalitham­bi­kai Sin­na­du­rai spre­chen über die Erfah­run­gen ihrer Pilgerreisen.

 

Frau Mumen­tha­ler, Herr Rott­mann, Sie sind zu Fuss 2500 Kilo­me­ter gepil­gert. War­um?
Mari­et­te Mumen­tha­ler:
Als ich mich vor 20 Jah­ren auf den Pil­ger­weg ins spa­ni­sche Sant­ia­go de Com­po­ste­la mach­te, woll­te ich über den Sinn des Lebens nach­den­ken. Vie­les hat­te ich in mei­nem Leben schon gemacht, und plötz­lich frag­te ich mich, war­um ich all dies eigent­lich tat. So bin ich dann los­ge­gan­gen. Pil­gern heisst gehen. Es ist wich­tig, lang­sam vor­wärts­zu­kom­men.

Lars Kott­mann: Zum Abschluss einer Aus­zeit ent­schied ich mich 2017, nach Sant­ia­go zu pil­gern. Ich hat­te damals mit gesund­heit­li­chen Pro­ble­men zu kämp­fen, hat­te mei­nen Job gekün­digt und das tie­fe Bedürf­nis, die­sen Weg zu gehen.

[esf_wordpressimage id=“28415”][/esf_wordpressimage]Mariette Mumen­tha­ler, 73. Die pen­sio­nier­te Leh­re­rin pil­ger­te im Jahr 2000 nach Sant­ia­go de Com­po­ste­la und ist seit­her jähr­lich auf dem Jakobs­weg unter­wegs. 2016 ging die Katho­li­kin für «Kir­che mit den Frau­en» zu Fuss von St. Gal­len nach Rom. 

Burim Luz­ha, auch Sie pil­ger­ten, stie­gen dabei aber als Erstes ins Flug­zeug.
Burim Luz­ha: Ja, ich hat­te auf­grund der Arbeit nicht viel Zeit. Des­halb bin ich nach Mek­ka geflo­gen. Aber auch dort ist man viel zu Fuss unter­wegs. Die Hei­li­ge Moschee von Mek­ka ist die gröss­te der Welt, jähr­lich besu­chen sie Mil­lio­nen von Pil­gern. Die Kaa­ba, das quad­er­för­mi­ge Haus Got­tes im Innen­hof der Moschee, ist unser zen­tra­les Hei­lig­tum. In ihre Nähe zu gelan­gen, kann man ver­ges­sen. Ich bin um drei Uhr nachts dort­hin auf­ge­bro­chen und hat­te den­noch kei­ne Chan­ce. Da waren viel zu vie­le Men­schen. In Mek­ka braucht man Geduld, Geduld und noch­mals Geduld.

Was ist Ihnen beim Pil­gern wich­ti­ger, der Weg oder das Ziel?
Kott­mann: Der Weg.

Lalitham­bi­kai Sin­na­du­rai: Für mich ist es ein­deu­tig das Ziel, der Tem­pel der Göt­tin Shak­ti im indi­schen Madras. Das spi­ri­tu­el­le Leben fin­det in und um den Tem­pel statt. Wenn ich dort bin, besu­che ich ihn jeweils drei­mal täg­lich. Ich bete, esse vegan, sin­ge, medi­tie­re und übe Yoga.

Mumen­tha­ler: Als ich nach Sant­ia­go pil­ger­te, hat­te ich ein Ziel. Aber schluss­end­lich hat mich der Weg inner­lich viel mehr bewegt.

Kott­mann: Das habe ich auch so erlebt. Das Unter­wegs­sein war schö­ner als das Ankom­men. Die Men­schen­mas­sen und der Rum­mel in Sant­ia­go lies­sen mich nicht zur Ruhe kom­men. Ich ging dann wei­ter zum Kap Fini­sterre. Dort sass ich auf einer Klip­pe, sah auf das wei­te Meer hin­aus und konn­te so mei­ne Pil­ger­rei­se gut abschlies­sen.

Luz­ha: Im Islam sagt man, Gott beloh­ne nicht nur den Erfolg, son­dern auch die Anstren­gung. Neben dem Ziel ist der Weg ent­schei­dend. Für jeden Mus­lim und jede Mus­li­min ist der Hadsch, die gros­se Pil­ger­fahrt nach Mek­ka, eine reli­giö­se Pflicht, die er ein­mal im Leben absol­vie­ren muss. Frü­her rei­sten die Gläu­bi­gen in Kara­wa­nen Hun­der­te von Kilo­me­tern weit. Der Ein­zel­ne pil­ger­te in einer Gemein­schaft und wur­de so in sei­nem Glau­ben gestärkt. Wer pil­gert, begibt sich auf einen Glau­bens­weg zu sich sel­ber. Die Rei­se nach Mek­ka ist eine reli­giö­se Selbst­fin­dung. Die weis­se Klei­dung, die alle tra­gen, drückt aus, dass wir Teil einer Gemein­schaft sind. Wir pil­gern, um uns in Beschei­den­heit und Weis­heit ein Stück weit zu stärken.

[esf_wordpressimage id=“28623”][/esf_wordpressimage]Lars Kott­mann, 45. Das Mit­glied der Frei­kir­che Bewe­gung Plus Siss­ach arbei­tet im Büro eines Hand­werks­be­triebs. Er pil­ger­te 2017 vom Basel­biet zu Fuss nach Sant­ia­go de Com­po­ste­la und fand dabei aus einer per­sön­li­chen Kri­se heraus. 

Sie sind allein gepil­gert. Hat­ten Sie Angst vor der Ein­sam­keit?
Mumen­tha­ler:
Anfangs befürch­te­te ich, es könn­te mir unter­wegs lang­wei­lig wer­den. Was soll­te ich den gan­zen Tag lang den­ken? Doch dann fand ich den Rhyth­mus. Im Jahr 2000 traf man auf dem Jakobs­weg nach Sant­ia­go nur weni­ge Pil­ge­rin­nen und Pil­ger. Die Gesprä­che mit ihnen waren ein­drück­lich. Ich konn­te offen über alles reden und muss­te mich nicht ver­stel­len.

Kott­mann: Die Ein­sam­keit der ersten bei­den Wochen mach­te mich dünn­häu­ti­ger. Es gab kei­ne Medi­en und kei­ne Nach­rich­ten. Nichts, nur den Weg und mich. Ich reagier­te auf alles viel direk­ter. Wenn es anstren­gend wur­de und die Hit­ze zunahm, wünsch­te ich mir, mit jeman­dem zu reden. Ich merk­te, dass ich mir in die­sen Momen­ten nicht zu vie­le Gedan­ken machen durf­te. Je wei­ter ich ging, desto mehr genoss ich die Ein­sam­keit. Der Weg war ein wich­ti­ger Lernprozess.

Zum Pil­gern braucht man Zeit und Geld. Ist Pil­gern heu­te ein Luxus?
Mumen­tha­ler: Nein, denn auf dem Weg nach Sant­ia­go de Com­po­ste­la kommt man mit wenig aus, sofern man in Her­ber­gen, Schlaf­sä­len oder draus­sen über­nach­tet.

Luz­ha: Ins sau­di­sche Mek­ka zu pil­gern kostet. Des­halb unter­neh­men die mei­sten Mus­li­me die Pil­ger­fahrt nur ein­mal. Wenn die Men­schen bei der Kaa­ba ste­hen, sieht man kei­ne Unter­schie­de zwi­schen arm und reich. Denn alle tra­gen dort das glei­che weis­se Gewand. Ganz anders ist es in den Stras­sen Mek­kas: Auf der einen Sei­te ste­hen Luxus­ho­tels, wäh­rend in den Neben­stras­sen Pil­ger aus Afri­ka und anders­wo ihr Essen unter frei­em Him­mel kochen. Die Pil­ger­rei­se zeigt, dass Mate­ri­el­les schluss­end­lich kei­ne Erfül­lung bringt. Des­halb suchen vie­le trotz Reich­tum das ein­fa­che Leben.

Sin­na­du­rai: Flug­tickets nach Indi­en sind natür­lich teu­er. Von weit her zu pil­gern, ist also ein Luxus. Den Shak­ti-Tem­pel in Madras besu­chen aber auch vie­le Ein­hei­mi­sche, die arm sind. Alt und Jung leben auf der Stras­se, waschen sich im Fluss und erle­di­gen ihre Not­durft draus­sen. Es ist trau­rig, dies zu sehen. Ich stam­me aus Sri Lan­ka und weiss, was Armut bedeu­tet. Den Frei­wil­li­gen, die vor dem Tem­pel Essen an die Armen ver­tei­len, spen­de ich des­halb regel­mäs­sig Geld.

[esf_wordpressimage id=“28413”][/esf_wordpressimage]Burim Luz­ha, 32. Der Sozi­al­ar­bei­ter unter­nahm 2019 die klei­ne Pil­ger­fahrt nach Mek­ka. Nun plant er für 2021 den Hadsch, die gros­se Pil­ger­fahrt, die jeder Mus­lim und jede Mus­li­min ein­mal im Leben machen sollte. 

Wie erle­ben Ihre Kin­der das?
Sin­na­du­rai: Als Kul­tur­schock. Wenn wir zurück­keh­ren, sind sie jeweils eine Woche lang nicht wirk­lich gesprä­chig. Und dann sagen sie: Wir leben im Luxus. Wir kön­nen wäh­len, was wir essen, wäh­rend ande­re sich nur Reis mit Gemü­se lei­sten kön­nen, wenn über­haupt. Ich fin­de es wich­tig, ihnen auf­zu­zei­gen, wie ande­re auf der Welt leben.

Es gibt Pil­ger­be­rich­te über Got­tes­be­geg­nun­gen. Hat­ten Sie­ein spi­ri­tu­el­les Erleb­nis?
Luz­ha:
Die Zeit in Mek­ka erfüll­te alle mei­ne Sehn­süch­te. Mir wur­de bewusst, dass an die­sem Ort bereits Abra­ham, die Pro­phe­ten und Moham­med, der letz­te Gesand­te Allahs, gewe­sen waren. Das war sehr emo­tio­nal. Durch die­se Got­tes­nä­he fand ich inne­ren Frie­den und Glück­se­lig­keit. Ich sage nicht, dass ich Gott begeg­net bin, aber in mei­nem Den­ken und Han­deln bin ich Gott näher­ge­kom­men. Ich spür­te, was mir im Leben wich­tig ist. Vie­le mate­ri­el­le Wün­sche, die ich hat­te, sind neben­säch­lich gewor­den. Weni­ger schön war, mit­an­zu­se­hen, wie histo­ri­sche Stät­ten in Mek­ka abge­ris­sen und statt­des­sen rie­si­ge neue Hotel­bau­ten errich­tet wer­den.

Kott­mann: Ich hat­te nicht die Erwar­tung, Gott zu begeg­nen. Doch es war so, dass durch das Gehen und Unter­wegs­sein Frie­den in mein Leben kam. Das wur­de mir aber erst zu Hau­se bewusst. Ein Erleb­nis kam den­noch einer Got­tes­be­geg­nung sehr nahe: Kurz nach Genf hat­te ich eine Kri­se, und ich glaub­te, nicht mehr wei­ter­ge­hen zu kön­nen. Als ich erschöpft auf einer Bank am Wald­rand sass, lan­de­te ein Schmet­ter­ling auf mei­ner Hand. Das war mir vor­her noch nie pas­siert. Der Schmet­ter­ling sass minu­ten­lang da und wusel­te her­um. Ich begriff in die­sem Moment, dass es wich­tig und gut war, dass ich die­sen Weg mach­te. Mir schien: Gott sagt deut­lich Ja zu mir. Nach zehn Minu­ten woll­te ich wei­ter­ge­hen und stupf­te den Schmet­ter­ling ganz sanft an. Doch er blieb. Gott hat in die­sem zar­ten Insekt ein Werk­zeug gefun­den, um mit mir über die Zer­brech­lich­keit und Schön­heit des Lebens zu kommunizieren.

[esf_wordpressimage id=“28414”][/esf_wordpressimage]Lalithambikai Sin­na­du­rai, 53. Die Pfle­ge­as­si­sten­tin und tami­li­sche Leh­re­rin ist vor 31 Jah­ren von Sri Lan­ka in die Schweiz ein­ge­reist. Die Hin­du pil­gert wenn mög­lich jähr­lich nach Indi­en und fin­det dort Lebens­kraft, inne­re Ruhe und Zufriedenheit. 

Sin­na­du­rai: Wir begeg­nen Gott in unse­ren Ritua­len; im Sin­gen und Beten ver­bin­den wir uns mit ihm. Ein tami­li­sches Sprich­wort sagt, dass wir Gott im Lachen der armen Men­schen begeg­nen.

Mumen­tha­ler: Auf dem Jakobs­weg erfuhr ich Gott in den Zusam­men­tref­fen mit ande­ren Men­schen. Die­se spi­ri­tu­el­le Dimen­si­on zu spü­ren, tat mir gut. Sol­che Momen­te erleb­te ich auch in den Kir­chen und Kapel­len, die ich besuch­te. Mich beein­druck­te, dass hier schon so vie­le Gene­ra­tio­nen gebe­tet haben.

Was emp­feh­len Sie Pil­ger­an­fän­gern?
Sin­na­du­rai:
Eine Rei­se­apo­the­ke mit­zu­neh­men, um gegen Krank­hei­ten gewapp­net zu sein. Ins­ge­samt soll­te man kei­ne zu hohen Erwar­tun­gen haben, weder an den spi­ri­tu­el­len noch an den tou­ri­sti­schen Teil der Rei­se. Der Lebens­stan­dard in Indi­en ist nicht der­sel­be wie in der Schweiz, doch die Rei­se lohnt sich auf jedem Fall.

Mumen­tha­ler: Beim Pil­gern ist weni­ger mehr. Vor mei­ner Rei­se nach Sant­ia­go riet man mir, von allem drei Stück mit­zu­neh­men: drei Hosen, drei Hem­den, drei Socken­paa­re. Unter­wegs merk­te ich: Eigent­lich brau­che ich nur zwei.

Kott­mann: Der wich­tig­ste Tipp lau­tet: Geh ein­fach los. Der Rest ergibt sich von allei­ne. Vie­le Men­schen träu­men von die­ser Rei­se, aber es fehlt ihnen der Mut, sie anzu­tre­ten. Und man soll­te sich zu Beginn einer Pil­ger­rei­se nicht zu vie­le Kilo­me­ter pro Tag vor­neh­men. Irgend­wann ist man erschöpft.

Luz­ha: Ich fin­de, man soll­te sich auch gut see­lisch auf die Rei­se vor­be­rei­ten, sich über­le­gen, was man in Mek­ka erhofft, und sich bewusst wer­den, wel­che Gewohn­hei­ten und Zwän­ge man auf­ge­ben kann.

Hat die Pil­ger­rei­se Sie ver­än­dert?
Kott­mann: Ich habe erlebt, was es bedeu­tet, unter­wegs zu sein und im Heu­te zu leben, ohne das Mor­gen pla­nen zu müs­sen. Beim Pil­gern lernt man, den Moment aus­zu­ko­sten, sich zu öff­nen und zu ver­trau­en. Man weiss nicht, was der näch­ste Tag bringt oder wo man in einer Woche eine Über­nach­tungs­mög­lich­keit fin­det und was man essen wird. Die­se Erfah­rung gibt mir bis heu­te noch viel Ener­gie.

Luz­ha: Die Mek­ka-Rei­se hat mich ver­än­dert. Ich den­ke immer wie­der dar­über nach und mer­ke, wie lehr­reich sie war. Ich rei­se gern und habe über dreis­sig Län­der besucht. Doch die­se Men­schen­mas­se in Mek­ka war gewal­tig und ein­drück­lich. So einen Moment hat­te ich vor­her noch nie erlebt. Er lehr­te mich Geduld und Rück­sicht­nah­me.

Sin­na­du­rai: Ich bin so oft nach Indi­en gereist, dass ich kei­ne gros­sen Erwar­tun­gen mehr habe. Ich bete auch zu Hau­se und ver­su­che, hier Frie­den zu fin­den. Ich erin­ne­re mich an das schwie­ri­ge Leben in Sri Lan­ka und weiss, wie wich­tig es ist, Frie­den zu suchen und sich gegen­sei­tig zu unter­stüt­zen.

Mumen­tha­ler: Im Gegen­satz zum Jakobs­pil­gern hat­te mei­ne Pil­ger­rei­se nach Rom 2016 ein kir­chen­po­li­ti­sches Ziel: Wir woll­ten dem Papst eine Peti­ti­on über­ge­ben, die die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau­en in der katho­li­schen Kir­che for­der­te. Ver­tre­ter des Vati­kans haben uns aber nicht emp­fan­gen. Doch der Weg und die Gesprä­che unter­wegs und in Rom haben mir bewusst gemacht, wie drän­gend die­ses The­ma ist. Des­halb bin ich froh, nach Rom mit­ge­pil­gert zu sein.

Und das mit über 70 Jah­ren. Ist man zum Pil­gern je zu alt?
Mumen­tha­ler: Nein. Solan­ge man sich gesund fühlt, war­tet stets ein Weg.

Marie-Christine Andres Schürch
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