Überraschungen gibts!

Überraschungen gibts!

Psalm 126,1–6Als der Herr das Geschick Zions wen­dete, da waren wir wie Träu­mende. Da füllte sich unser Mund mit Lachen und unsere Zunge mit Jubel … Ja, gross hat der Herr an uns gehan­delt. Da waren wir voll Freude. Wende doch, Herr, unser Geschick wie die Bäche im Süd­land! Die mit Trä­nen säen, wer­den mit Jubel ern­ten. Sie gehen, ja gehen und weinen und tra­gen zur Aus­saat den Samen. Sie kom­men, ja kom­men mit Jubel und brin­gen ihre Gar­ben.

Ein­heit­süber­set­zung 2016

 

Überraschungen gibts!

Kür­zlich am Mor­gen, na ja, ging ich nicht ger­ade mit fro­hem Herzen aus dem Haus und zur Arbeit. Mir war eher bang. Und … alles nahm einen anderen Lauf: Nicht den befürchteten, son­dern einen ganz anderen, mit einem über­raschen­den Besuch und ein­er grossen, uner­wartete Freude.Strahlende junge Frauen empfin­gen mich. Ein Besuch, nicht wie erwartet, nein, völ­lig anders. Die eine Dame kan­nte ich bere­its, jung, Anfang zwanzig, zurzeit in Haft. Sie fiel mir schon mal auf, als ich ihr den gewün­scht­en Koran brachte, wie sie ihn ans Herz drück­te. «Mehr brauche ich nicht», meinte sie. Unvergesslich dieser Anblick. Heute bringe ich ihr eine mus­lim­is­che Gebets­kette. Sie war bei ihrer Fre­undin in der Zelle. Schnell bracht­en sie mir einen Hock­er zum Sitzen. Bei­de jung, strahlend, hüb­sch, einan­der zuge­wandt, sie empfin­gen mich wie zwei Son­nen. Ihre Leben­sum­stände sind aus mein­er Sicht trau­rig. Man nen­nt sie Sexar­bei­t­erin­nen. Ich, im fort­geschrit­te­nen Alter in mein­er Welt, in mein­er «Blase», wie man so schön sagt; eine, die sich gerne in ein Kloster in die Stille zurückzieht. Und sie in ihrer «Blase». Plöt­zlich lösten sich die Gren­zen auf, ich weiss nicht, wie es passierte, und wir hat­ten es lustig. Sie waren glück­lich, dass ich bei ihnen war, und ich wurde immer fröh­lich­er. Wären da nicht die Coro­na-Mass­nah­men gewe­sen, wir hät­ten uns umarmt. Eine Stunde später erzählte mir die Betreuerin, dass die bei­den über meinen Besuch unendlich glück­lich waren. Näch­ste Woche darf ich die zweite Gebets­kette für die Fre­undin brin­gen. Wie freue ich mich darauf!In der Liturgie des Tages, in Erin­nerung an den heili­gen Thomas Morus am 22. Juni, wird der Psalm 126 gebetet. Darin ist die Rede von Trä­nen und Jubel. Wer ken­nt sie nicht? «Ja, gross hat der Herr an uns gehan­delt! Da waren wir voll Freude.» Als Jah­we das Schick­sal seines geliebten Volkes wen­dete, wurde es von Glück erfüllt. Und der Beter fährt fort: «Wende doch, Herr, unser Geschick wie die Bäche am Süd­land! Die mit Trä­nen säen, wer­den mit Jubel ern­ten.» Wie tief und wahr sind diese Worte. Thomas Morus war wohl mit Bil­dung, Ein­fluss, Mut und uner­schüt­ter­lichem Humor geseg­net. Er war durch und durch ein gross­er Human­ist des 15. Jahrhun­derts und starb den Mär­tyr­ertod.Das Leben mag geze­ich­net sein von Schmerz, einem Ver­lust, ein­er Sorge, vielle­icht von einem grossen oder, so kann es vorder­gründig scheinen, nut­zlosen Engage­ment – irgend­wann wird wieder Freude am Leben kom­men. Ein ander­er Psalm singt den fol­gen­den Vers: «Wenn man am Abend auch weint, am Mor­gen herrscht wieder Jubel.» Etwas salopp aus­ge­drückt: Am Abend sieht man nur schwarz und die Prob­leme scheinen so gross wie hohe Berge; am Mor­gen erwacht man mit Seufzen und Kla­gen, aber manch­mal wird man über­rascht von einem fre­undlichen Blick, einem beson­deren Licht, ein­er neuen Idee oder ein­er fro­hen Begeg­nung mit einem Men­schen, einem Tier oder der leuch­t­en­den Mohn­blume. Soll­ten wir nichts davon bemerkt haben, waren unsere Augen vielle­icht noch getrübt von Trä­nen und Trau­rigkeit.Möge die Freude von Jesus, dem Chris­tus, durch seine Aufer­ste­hung, durch seinen Gang durch die Hölle ins neue Leben, uns ansteck­en und auf uns über­sprin­gen. Seine Freude, sein Leben, seinen Atem teilt er immer mit uns, und zu jed­er Zeit.Anna-Marie Fürst, The­olo­gin, arbeit­et in der Gefäng­nis­seel­sorge Basel-Stadt. 
Regula Vogt-Kohler
mehr zum Autor
nach
soben